Ueberdieß können mir die Nachrichten, die ich über gewisse Stellen deiner Lebensgeschichte von dir selbst am zuverlässigsten erhalten könnte, vielleicht bei dem, was der hauptsächlichste Gegenstand meiner Absendung ist, nicht ohne Nutzen seyn.

 

Peregrin.

 

Desto besser. Wenigstens gewinnest du immer so viel dabei, daß du nichts von mir hören wirst, als was ich selbst für Wahrheit halte.

 

Lucian.

 

Wir sind zwar sogar im Elysium nicht gänzlich von den geheimen Einflüssen der Eigenliebe frei: aber da es unmöglich ist, daß wir vorsetzlich gegen unser Gefühl und Bewußtseyn reden sollten, so bin ich gewiß, daß ich über alles, was du selbst am besten wissen kannst, die reine Wahrheit von dir erfahren werde. Die Quellen, woraus ich ehemals meine Nachrichten schöpfte, mögen wohl nicht immer die lautersten gewesen seyn, wiewohl ich allerdings den Willen hatte dir kein Unrecht zu thun.

 

Peregrin.

 

Wer weiß besser als du, wie wenig auf die Erzählungen und Urtheile der Sterblichen von einander zu bauen ist! Jene werden schon dadurch allein fast immer verfälscht, daß man diese, es sey nun unvermerkt oder mit Vorsatz, unter sie einmischt, und also den Sachen durch unsre Meinungen von ihnen fast immer eine falsche Farbe oder ein betrügliches Licht gibt. Selten ist der Erzähler ein Augenzeuge, noch seltner der Augenzeuge ganz unbefangen, ohne alle Parteilichkeit, vorgefaßte Meinung oder Nebenabsicht; fast immer vergrößert oder verkleinert, verschönert oder verunstaltet er was er gesehen hat. Du, zum Beispiel, hattest den Willen mir kein Unrecht zu thun: aber ich war ein Christianer33 gewesen, und du hieltest alle Christianer für Schwärmer oder Schelme; ich war in den Orden des Diogenes übergegangen, und dein Haß gegen die Cyniker ist bekannt genug, da du keine Gelegenheit versäumtest ihm die möglichste Publicität zu geben. Wie hättest du also den armen Peregrin, mit allem guten Willen ihm kein Unrecht zu thun, in keinem ungünstigen Lichte sehen sollen? Ihn, auf den der ehemalige Christianer und der nunmehrige Cyniker einen doppelten Schatten warf?

 

Lucian.

 

Was die Cyniker betrifft, so muß ich dich um Erlaubniß bitten zu bemerken, daß ich, anstatt ein Feind, vielmehr ein Bewunderer ihres Ordens, seiner ersten Stifter und der wenigen ächten Glieder, die ihm Ehre brachten, war. Mein Demonax und mein Dialog mit einem Cyniker sollten mich, dächte ich, über diesen Punkt hinlänglich gerechtfertiget haben. Vermuthlich würde ich auch mit den Christianern gelinder verfahren seyn, wenn ich jemals so glücklich gewesen wäre, nur einen einzigen edeln und liebenswürdigen Menschen aus dieser Secte kennen zu lernen.

 

Peregrin.

 

Dieß wäre eben nicht unmöglich gewesen; wiewohl ich gestehen muß, daß ein ächter Christianer zu unsrer Zeit beinah' eben so selten war als ein ächter Cyniker. – Aber dieß für jetzt bei Seite gesetzt, antworte mir, wenn ich bitten darf, nur auf eine einzige Frage.

 

Lucian.

 

Sehr gern. Frage was du willst.

 

Peregrin.

 

Der Unbekannte, der zu Elis, von der öffentlichen Redekanzel herab, so viel schändliche Dinge von mir erzählt haben soll, war er eine wirkliche Person? oder hast du ihn vielleicht nur aufgestellt um deine Composition einfacher zu machen, und einem Einzigen in den Mund gelegt, was du vielleicht von verschiedenen Personen zu verschiedenen Zeiten über mich gehört hattest?

 

Lucian.

 

Gewissermaßen beides.

 

Peregrin.

 

Ich erinnere mich nun selbst wieder, daß mir Theagenes, sobald er nach Olympia kam, etwas von einem solchen Auftritt zu Elis erzählte, wo ihn sein übermäßiger und (wie ich glaube) nicht ganz lautrer Eifer für den Ruhm des cynischen Ordens antrieb, die Kanzel zu besteigen, um mir und meinem Vorhaben die Lobrede zu halten, die dir so anstößig war.

 

Lucian.

 

Der Unbekannte war kein Geschöpf von meiner Erfindung. Er schien, der Aussprache nach, ein Bithynier oder Paphlagonier von Geburt, ein Epikuräer von Profession, und übrigens ein Mann zu seyn, der viel gereist und kein Neuling in der Welt war. Die Heftigkeit, womit dieser Mann gegen dich declamierte, hätte mir seine Erzählung vielleicht verdächtig machen sollen: aber mein natürlicher Haß gegen einen jeden der etwas Außerordentliches seyn wollte, die nachtheilige Meinung die ich bereits von dir hegte, und die Uebereinstimmung des Charakters, den er von dir machte, mit meiner eigenen vorgefaßten Meinung, und mit den Nachrichten, die ich aus andern Quellen erhalten hatte – alles dieß zusammen machte mich geneigt ihm zu glauben, und die Hitze, womit er gegen dich sprach, einer der meinigen ähnlichen Sinnesart zuzuschreiben. Hierzu kam noch, daß ich in dem Resultat seiner ganzen Erzählung den Schlüssel zu finden glaubte, der mir das Außerordentliche in deinem Leben, und besonders die seltsame Art wie du es zu endigen vorhattest, aufzuschließen schien. Indessen gestehe ich offenherzig, daß ich kein Bedenken trug, die Erzählung des Ungenannten mit verschiedenen Anekdoten, die ich zu verschiedenen Zeiten und Gelegenheiten aufgelesen hatte, vollständiger zu machen. Auch kann ich nicht läugnen, daß das Orakel des Bakis34, welches ich ihn dem Spruch der Sibylle stehendes Fußes entgegen setzen ließ, eine Verschönerung von meiner eigenen Erfindung war.

 

Peregrin.

 

Man kann, denke ich, immer darauf rechnen, daß Schriftsteller, denen es mehr um Beifall als um strenge Wahrheit zu thun ist, sich eben kein Gewissen daraus machen werden, der Composition zu Liebe manchen Eingriff in die Rechte der letztern zu thun. Ein Bißchen Unwahrheit und Ungerechtigkeit mehr oder weniger, wenn es darauf ankommt einen witzigen Einfall anzubringen oder eine Periode zu ründen, ist eine sehr unbedeutende Kleinigkeit in ihren Augen. Wer das Unglück hat, der Gegenstand einer Philippika35 zu seyn, muß freilich unter diesem hergebrachten Vorrecht witziger Schriftsteller leiden: dafür aber befinden sich auch die Glücklichen, denen Lobreden zu Theil werden, desto besser dabei, und gewinnen oft, eben so unverdienterweise, doppelt und dreifach wieder, was jene verloren haben. Ich kann also, da du mein Bild von Theagenes vergolden, von dem Unbekannten hingegen mit Koth übertünchen ließest, immer eines gegen das andere aufgehen lassen: aber es bleibt mir noch eine andere kleine Beschwerde übrig, gegen welche es vielleicht schwerer seyn dürfte, deine Unparteilichkeit hinlänglich zu rechtfertigen.

 

Lucian.

 

Vermuthlich, daß ich so leicht über die Rede wegging, die du selbst wenige Tage vor der Ceremonie an die Versammlung zu Olympia hieltest?

 

Peregrin.

 

Und worin ich mich, wie du dich erinnern wirst, über alle zweideutigen Stellen meiner Lebensgeschichte umständlich genug vernehmen ließ. Wie kam es, daß der große Freund der Wahrheit – der so gewissenhaft war, von allem was der Unbekannte zu meinem Nachtheil vorgebracht hatte, kein Wort auf die Erde fallen zu lassen – von allem was ich selbst zu meiner Rechtfertigung sagte, und was als die letzte Erklärung eines Sterbenden doch immer einiger Aufmerksamkeit werth war, nicht ein einziges armes Wörtchen vom Boden aufzuheben würdigte? Denn daß die angeführte Entschuldigung – »du wärest, der Menge und des Gedränges wegen, zu weit entfernt gewesen, um etwas davon zu verstehen« – nicht eine bloße Ausrede gewesen sey, werden sich unbefangene Leser schwerlich überreden lassen.

 

Lucian.

 

Aufrichtig zu reden, lieber Peregrin, ich zweifle sehr, ob du damals, wenn du von mir hättest reden oder schreiben sollen, gerechter gegen mich gewesen wärest als ich gegen dich. Wir waren beide zu ganz das was wir waren, ich zu kalt, du zu warm, du zu sehr Enthusiast, ich ein zu überzeugter Anhänger Epikurs, um einander in dem vortheilhaftesten Lichte zu sehen. Ein inniges Gefühl von Verachtung war mit dem Begriff eines Schwärmers (unter welchem ich mir unmöglich etwas andres als entweder einen Narren oder einen Spitzbuben denken konnte) zu genau in mir verbunden, um nicht, selbst auf eine instinctmäßige Weise, bei solchen Gelegenheiten auf mich zu wirken. Ich hatte weder Achtung noch Neugier genug für das, was du dem Volke vortrugst, um mich, mit Gefahr halb erdrückt zu werden, durch die Menge von Menschen, welch Kopf an Kopf um die Redekanzel herum standen, näher hin zu drängen – oder mich früh genug eines Platzes neben ihr zu versichern. Es war also die reine Wahrheit, da ich sagte ich hätte wenig oder nichts von deiner Rede verstanden, und erst, als viele, die es in dem erstickenden Gedränge nicht mehr aushalten konnten, sich mit Händen und Füßen wieder herausarbeiteten, fand ich Gelegenheit, nahe genug zu kommen um den Schluß derselben zu hören. Um so mehr wirst du mich demnach verbinden, guter Peregrin, wenn du mir durch die versprochnen Berichtigungen deiner Geschichte zu einer unverfälschten Kenntniß deines Charakters verhelfen willst. Wenn dir's gefällt, so setzen wir uns dazu unter diesen Platanus, der jenem Sokratischen am Ufer des Ilyssus so ähnlich sieht.

 

Peregrin.

 

Sehr gern. Höre also, was ich dir von meiner Jugend, von meinen ersten Wanderungen, meiner Gemeinschaft mit den Christianern, meinem Uebergang zu den Cynikern, meinem Aufenthalt in Alexandrien, Rom und Athen, und endlich von den Bewegursachen, warum ich meinem irdischen Leben ein so außerordentliches Ende machte, mit aller Aufrichtigkeit, die eine natürliche Folge unsers gegenwärtigen Zustandes ist, erzählen werde. Es kommt, wie du weißt, bei den Menschen nicht weniger als bei den Pflanzen, sehr viel wo nicht alles darauf an, in welchem Boden und unter welchen Einflüssen die zartesten Fasern ihrer aufkeimenden Natur entwickelt und genährt worden sind. Du wirst mir also erlauben, lieber Lucian, meine Geschichte, wie jener Dichter die Zerstörung des Trojanischen Reichs, vom Ei anzufangen.

 

Erster Abschnitt.

 

Peregrin.

 

Parium, wo ich geboren wurde, war eine Römische Pflanzstadt in der Provinz Mysien auf der östlichen Küste des Hellesponts, die durch ihre Lage an einem kleinen Busen der Propontis, der ihr zum Hafen diente, und durch die Betriebsamkeit ihrer Einwohner zu einer der blühendsten Städte dieser Gegenden geworden war. Mein Vater war ein Kaufmann, den seine Geschäfte zu häufigen Reisen veranlaßten; und da er weder Zeit noch Lust hatte, sich meiner Erziehung selbst anzunehmen, willigte er desto lieber ein, mich, sobald ich die weiblichen Zimmer verließ, der Aufsicht und Pflege meines mütterlichen Großvaters Proteus zu überlassen, der sich gewöhnlich auf seinem nahe bei der Stadt gelegenen Landgut aufhielt.

Nach dem Tode meiner Mutter, die ich am Eintritt in meine Jünglingsjahre verlor, wurde ich von ihrem Vater, mit Bewilligung des meinigen, an Kindesstatt angenommen, und erhielt dadurch den Beinamen Proteus36; wiewohl ich mich in der Folge auf meinen Wanderungen, je nachdem es mir schicklicher war, bald des einen bald des andern Namens bediente. Du siehest, lieber Lucian, daß ich wenigstens ziemlich unschuldig zu dem Namen gekommen bin, der dir zu einer mir nicht sehr rühmlichen Vergleichung meiner Wenigkeit mit Homers Aegyptischem Meergotte geholfen hat.

 

Lucian.

 

Desto besser, lieber Peregrinus Proteus, desto besser! Um so mehr habe ich Hoffnung, zu hören, daß du zu einigen andern noch weniger schmeichelhaften Beinamen, womit der Ruf deine Jugend angeschmutzt hat, eben so unschuldig gekommen bist.

 

Peregrin.

 

Du wirst – und kannst in der Lage, worin wir uns befinden – nichts als die reine Wahrheit von mir hören.

 

Lucian.

 

Das versteht sich.