Pole Poppenspaeler
Theodor Storm
Pole Poppenspaeler
Novelle
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Novelle (1874)
Ich hatte in meiner Jugend einige Fertigkeit im Drechseln und
beschäftigte mich sogar wohl etwas mehr damit, als meinen
gelehrten Studien zuträglich war; wenigstens geschah es,
daß mich eines Tags der Subrektor bei Rückgabe eines
nicht eben fehlerlosen Exerzitiums seltsamerweise fragte, ob ich
vielleicht wieder eine Nähschraube zu meiner Schwester Geburtstag
gedrechselt hätte. Solch kleine Nachteile wurden indessen
mehr als aufgewogen durch die Bekanntschaft mit einem trefflichen
Manne, die mir infolge jener Beschäftigung zuteil wurde.
Dieser Mann war der Kunstdrechsler und Mechanikus Paul Paulsen,
auch deputierter Bürger unserer Stadt. Auf die Bitte meines
Vaters, der für alles, was er mich unternehmen sah, eine
gewisse Gründlichkeit forderte, verstand er sich dazu, mir
die für meine kleinen Arbeiten erforderlichen Handgriffe
beizubringen.
Paulsen besaß mannigfache Kenntnisse und war dabei nicht
nur von anerkannter Tüchtigkeit in seinem eignen Handwerk,
sondern er hatte auch eine Einsicht in die künftige Entwicklung
der Gewerke überhaupt, so daß bei manchem, was jetzt
als neue Wahrheit verkündigt wird, mir plötzlich einfällt:
das hat dein alter Paulsen ja schon vor vierzig Jahren gesagt.
- Es gelang mir bald, seine Zuneigung zu erwerben, und er sah
es gern, wenn ich noch außer den festgesetzten Stunden am
Feierabend einmal zu ihm kam. Dann saßen wir entweder in
der Werkstätte oder sommers - denn unser Verkehr hat jahrelang
gedauert - auf der Bank unter der großen Linde seines Gärtchens.
In den Gesprächen, die wir dabei führten, oder vielmehr,
welche mein älterer Freund dabei mit mir führte, lernte
ich Dinge kennen und auf Dinge meine Gedanken richten, von denen,
so wichtig sie im Leben sind, ich später selbst in meinen
Primaner-Schulbüchern keine Spur gefunden habe.
Paulsen war seiner Abkunft nach ein Friese und der Charakter dieses
Volksstammes aufs schönste in seinem Antlitz ausgeprägt;
unter dem schlichten blonden Haar die denkende Stirn und die blauen
sinnenden Augen; dabei hatte, vom Vater ererbt, seine Stimme noch
etwas von dem weichen Gesang seiner Heimatsprache.
Die Frau dieses nordischen Mannes war braun und von zartem Gliederbau,
ihre Sprache von unverkennbar süddeutschem Klange. Meine
Mutter pflegte von ihr zu sagen, ihre schwarzen Augen könnten
einen See ausbrennen, in ihrer Jugend aber sei sie von seltener
Anmut gewesen. - Trotz der silbernen Fädchen, die schon ihr
Haar durchzogen, war auch jetzt die Lieblichkeit dieser Züge
noch nicht verschwunden, und das der Jugend angeborene Gefühl
für Schönheit veranlaßte mich bald, ihr, wo ich
immer konnte, mit kleinen Diensten und Gefälligkeiten an
die Hand zu gehen.
»Da schau mir nur das Buberl«, sagte sie dann wohl zu
ihrem Mann; »Wirst doch nit eifersüchtig werden, Paul?«
Dann lächelte Paul. Und aus ihren Scherzworten und aus seinem
Lächeln sprach das Bewußtsein innigsten Zusammengehörens.
Sie hatten außer einem Sohne, der damals in der Fremde war,
keine Kinder, und vielleicht war ich den beiden zum Teil deshalb
so willkommen, zumal Frau Paulsen mir wiederholt versicherte,
ich habe grad ein so lustigs Naserl wie ihr Joseph. Nicht verschweigen
will ich, daß letztere auch eine mir sehr zusagende, in
unserer Stadt aber sonst gänzlich unbekannte Mehlspeise zu
bereiten verstand und auch nicht unterließ, mich dann und
wann zu Gast zu bitten. - So waren denn dort der Anziehungskräfte
für mich genug. Von meinem Vater aber wurde mein Verkehr
in dem tüchtigen Bürgerhause gern gesehen. »Sorge
nur, daß du nicht lästig fällst!« war das
einzige, woran er in dieser Beziehung zuweilen mich erinnerte.
Ich glaube indessen nicht, daß ich meinen Freunden je zu
oft gekommen bin.
Da geschah es eines Tages, daß in meinem elterlichen Hause
einem alten Herrn aus unserer Stadt das neueste und wirklich ziemlich
gelungene Werk meiner Hände vorgezeigt wurde.
Als dieser seine Bewunderung zu erkennen gab, bemerkte mein Vater
dagegen, daß ich ja aber auch schon seit fast einem Jahr
bei Meister Paulsen in der Lehre sei.
»So, so«, erwiderte der alte Herr; »bei Pole Poppenspäler!«
Ich hatte nie gehört, daß mein Freund einen solchen
Beinamen führe, und fragte, vielleicht ein wenig naseweis,
was das bedeuten solle.
Aber der alte Herr lächelte nur ganz hinterhältig und
wollte keine weitere Auskunft geben. -
Zum kommenden Sonntag war ich von den Paulsenschen Eheleuten auf
den Abend eingeladen, um ihnen ihren Hochzeitstag feiern zu helfen.
Es war im Spätsommer, und da ich mich frühzeitig auf
den Weg gemacht und die Hausfrau noch in der Küche zu wirtschaften
hatte, so ging Paulsen mit mir in den Garten, wo wir uns zusammen
unter der großen Linde auf die Bank setzten. Mir war das
»Pole Poppenspäler« wieder eingefallen, und es
ging mir so im Kopf herum, daß ich kaum auf seine Reden
Antwort gab; endlich, da er mich fast ein wenig ernst wegen meiner
Zerstreutheit zurechtgewiesen hatte, fragte ich ihn gradezu, was
jener Beiname zu bedeuten habe.
Er wurde sehr zornig. »Wer hat dich das dumme Wort gelehrt?«
rief er, indem er von seinem Sitze aufsprang. Aber bevor ich noch
zu antworten vermochte, saß er schon wieder neben mir. »Laß,
laß!« sagte er, sich besinnend, »es bedeutet ja
eigentlich das Beste, was das Leben mir gegeben hat. - Ich will
es dir erzählen; wir haben wohl noch Zeit dazu.« -
In diesem Haus und Garten bin ich aufgewachsen, meine braven Eltern
wohnten hier, und hoffentlich wird einst mein Sohn hier wohnen!
- Daß ich ein Knabe war, ist nun schon lange her; aber gewisse
Dinge aus jener Zeit stehen noch, wie mit farbigem Stift gezeichnet,
vor meinen Augen.
Neben unserer Haustür stand damals eine kleine weiße
Bank mit grünen Stäben in den Rück- und Seitenlehnen,
von der man nach der einen Seite die lange Straße hinab
bis an die Kirche, nach der andern aus der Stadt hinaus bis in
die Felder sehen konnte. An Sommerabenden saßen meine Eltern
hier, der Ruhe nach der Arbeit pflegend; in den Stunden vorher
aber pflegte ich sie in Beschlag zu nehmen und hier in der freien
Luft und unter erquickendem Ausblick nach Ost und West meine Schularbeiten
anzufertigen.
So saß ich auch eines Nachmittags - ich weiß noch
gar wohl, es war im September, eben nach unserem Michaelis-Jahrmarkte
- und schrieb für den Rechenmeister meine Algebra-Exempel
auf die Tafel, als ich unten von der Straße ein seltsames
Gefährt heraufkommen sah. Es war ein zweirädriger Karren,
der von einem kleinen rauhen Pferde gezogen wurde. Zwischen zwei
ziemlich hohen Kisten, mit denen er beladen war, saß eine
große blonde Frau mit steifen hölzernen Gesichtszügen
und ein etwa neunjähriges Mädchen, das sein schwarzhaariges
Köpfchen lebhaft von einer Seite nach der andern drehte;
nebenher ging, den Zügel in der Hand, ein kleiner, lustig
blickender Mann, dem unter seiner grünen Schirmmütze
die kurzen schwarzen Haare wie Spieße vom Kopfe abstanden.
So, unter dem Gebimmel eines Glöckchens, das unter dem Halse
des Pferdes hing, kamen sie heran. Als sie die Straße vor
unserem Hause erreicht hatten, machte der Karren halt. »Du
Bub«, rief die Frau zu mir herüber, »wo ist denn
die Schneiderherberg?«
Mein Griffel hatte schon lange geruht; nun sprang ich eilfertig
auf und trat an den Wagen. »Ihr seid grad davor«, sagte
ich und wies auf das alte Haus mit der viereckig geschorenen Linde,
das, wie du weißt, noch jetzt hier gegenüber liegt.
Das feine Dirnchen war zwischen den Kisten aufgestanden, streckte
das Köpfchen aus der Kapuze ihres verschossenen Mäntelchens
und sah mit ihren großen Augen auf mich herab; der Mann
aber, mit einem »Sitz ruhig, Diendl!« und »Schönen
Dank, Bub!« peitschte auf den kleinen Gaul und fuhr vor die
Tür des bezeichneten Hauses, aus dem auch schon der dicke
Herbergsvater in seiner grünen Schürze ihm entgegentrat.
Daß die Ankömmlinge nicht zu den zunftberechtigten
Gästen des Hauses gehörten, mußte mir freilich
klar sein; aber es pflegten dort - was mir jetzt, wenn ich es
bedenke, mit der Reputation des wohlehrsamen Handwerks sich keineswegs
reimen will - auch andere, mir viel angenehmere Leute einzukehren.
Droben im zweiten Stock, wo noch heute statt der Fenster nur einfache
Holzluken auf die Straße gehen, war das hergebrachte Quartier
aller fahrenden Musikanten, Seiltänzer oder Tierbändiger,
welche in unserer Stadt ihre Kunst zum besten gaben.
Und richtig, als ich am andern Morgen oben in meiner Kammer vor
dem Fenster stand und meinen Schulsack schnürte, wurde drüben
eine der Luken aufgestoßen; der kleine Mann mit den schwarzen
Haarspießen steckte seinen Kopf ins Freie und dehnte sich
mit beiden Armen in die frische Luft hinaus; dann wandte er den
Kopf hinter sich nach dem dunkeln Raum zurück, und ich hörte
ihn »Lisei! Lisei!« rufen. - Da drängte sich unter
seinem Arm ein rosiges Gesichtlein vor, um das wie eine Mähne
das schwarze Haar herabfiel. Der Vater wies mit dem Finger nach
mir herüber, lachte und zupfte sie ein paarmal an ihren seidenen
Strähnen. Was er zu ihr sprach, habe ich nicht verstehen
können; aber es mag wohl ungefähr gelautet haben. »Schau
dir ihn an, Lisei! Kennst ihn noch, den Bubn von gestern? - Der
arme Narr, da muß er nun gleich mit dem Ranzen in die Schule
traben! - Was du für ein glückliches Diendl bist, die
du allweg nur mit unserem Braunen landab, landauf zu fahren brauchst!«
- Wenigstens sah die Kleine ganz mitleidig zu mir herüber,
und als ich es wagte, ihr freundlich zuzunicken, nickte sie sehr
ernsthaft wieder.
Bald aber zog der Vater seinen Kopf zurück und verschwand
im Hintergrund seines Bodenraumes. Statt seiner trat jetzt die
große blonde Frau zu dem Kinde; sie bemächtigte sich
ihres Kopfes und begann ihr das Haar zu strählen. Das Geschäft
schien schweigend vollzogen zu werden, und das Lisei durfte offenbar
nicht mucksen, obgleich es mehrmals, wenn ihr der Kamm so in den
Nacken hinabfuhr, die eckigsten Figuren mit ihrem roten Mäulchen
bildete. Nur einmal hob sie den Arm und ließ ein langes
Haar über die Linde draußen in die Morgenluft hinausfliegen.
Ich konnte von meinem Fenster aus es glänzen sehen; denn
die Sonne war eben durch den Herbstnebel gedrungen und schien
drüben auf den oberen Teil des Herbergshauses.
Auch in den vorhin undurchdringlich dunkeln Bodenraum konnte ich
jetzt hineinsehen.
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