Ganz deutlich erblickte ich in einem dämmerigen
Winkel den Mann an einem Tische sitzen; in seiner Hand blinkte
etwas wie Gold oder Silber; dann wieder war's wie ein Gesicht
mit einer ungeheueren Nase; aber sosehr ich meine Augen anstrengte,
ich vermochte nicht klug daraus zu werden.
Plötzlich hörte ich, als wenn etwas Hölzernes in
einen Kasten geworfen würde, und nun stand der Mann auf und
lehnte aus einer zweiten Luke sich wieder auf die Straße
hinaus.
Die Frau hatte indessen der kleinen schwarzen Dirne ein verschossenes
rotes Kleidchen angezogen und ihr die Haarflechten wie einen Kranz
um das runde Köpfchen gelegt.
Ich sah noch immer hinüber.
Einmal
dachte ich, könnte
sie doch wieder nicken.
- - »Paul, Paul!« hörte ich plötzlich unten
aus unserem Hause die Stimme meiner Mutter rufen.
»Ja, ja, Mutter!«
Es war mir ordentlich wie ein Schrecken in die Glieder geschlagen.
»Nun«, rief sie wieder, »der Rechenmeister wird
dir schön die Zeit verdeutschen! Weißt du denn nicht,
daß es lang schon sieben geschlagen hat?«
Wie rasch polterte ich die Treppe hinunter!
Aber ich hatte Glück; der Rechenmeister war grad dabei, seine
Bergamotten abzunehmen, und die halbe Schule befand sich in seinem
Garten, um mit Händen und Mäulern ihm dabei zu helfen.
Erst um neun Uhr saßen wir alle mit heißen Backen
und lustigen Gesichtern an Tafel und Rechenbuch auf unseren Bänken.
Als ich um elf, die Taschen noch von Birnen starrend, aus dem
Schulhofe trat, kam eben der dicke Stadtausrufer die Straße
herauf. Er schlug mit dem Schlüssel an sein blankes Messingbecken
und rief mit seiner Bierstimme:
»Der Mechanikus und Puppenspieler Herr Joseph Tendler aus
der Residenzstadt München ist gestern hier angekommen und
wird heute abend im Schützenhofsaale seine erste Vorstellung
geben. Vorgestellt wird: Pfalzgraf Siegfried und die heilige Genoveva,
Puppenspiel mit Gesang in vier Aufzügen.«
Dann räusperte er sich und schritt würdevoll in der
meinem Heimwege entgegengesetzten Richtung weiter. Ich folgte
ihm von Straße zu Straße, um wieder und wieder die
entzückende Verkündigung zu hören; denn niemals
hatte ich eine Komödie, geschweige denn ein Puppenspiel gesehen.
- Als ich endlich umkehrte, sah ich ein rotes Kleidchen mir entgegenkommen;
und wirklich, es war die kleine Puppenspielerin; trotz ihres verschossenen
Anzugs schien sie mir von einem Märchenglanz umgeben.
Ich faßte mir ein Herz und redete sie an: »Willst du
spazierengehen, Lisei?«
Sie sah mich mißtrauisch aus ihren schwarzen Augen an. »Spazieren?«
wiederholte sie gedehnt. »Ach du - du bist g'scheit!«
»Wohin willst du denn?«
- »Zum Ellenkramer will i!«
»Willst du dir ein neues Kleid kaufen?« fragte ich tölpelhaft
genug.
Sie lachte laut auf. »Geh! laß mi aus! - Nein; nur
so Fetz'ln!«
»Fetz'ln, Lisei?«
- »Freili! Halt nur so Resteln zu G'wandl für die Pupp'n;
's kost't immer nit viel!«
Ein glücklicher Gedanke fuhr mir durch den Kopf. Ein alter
Onkel von mir hatte damals am Markte hier eine Ellenwarenhandlung,
und sein alter Ladendiener war mein guter Freund. »Komm mit
mir«, sagte ich kühn, »es soll dir gar nichts kosten,
Lisei!«
»Meinst?« fragte sie noch; dann liefen wir beide nach
dem Markt und in das Haus des Onkels. Der alte Gabriel stand wie
immer in seinem pfeffer- und salzfarbenen Rock hinter dem Ladentisch,
und als ich ihm unser Anliegen deutlich gemacht hatte, kramte
er gutmütig einen Haufen »Rester« auf den Tisch zusammen.
»Schau, das hübsch Brinnrot!« sagte Lisei und nickte
begehrlich nach einem Stückchen französischen Kattuns
hinüber.
»Kannst es brauchen?« fragte Gabriel. - Ob sie es brauchen
konnte! Der Ritter Siegfried sollte ja auf den Abend noch eine
neue Weste geschneidert bekommen.
»Aber da gehören auch die Tressen noch dazu«, sagte
der Alte und brachte allerlei Endchen Gold- und Silberflitter.
Bald kamen noch grüne und gelbe Seidenläppchen und Bänder,
endlich ein ziemlich großes Stück braunen Plüsches.
»Nimm's nur, Kind!« sagte Gabriel. »Das gibt ein
Tierfell für euere Genoveva, wenn das alte vielleicht verschossen
wäre!« Dann packte er die ganze Herrlichkeit zusammen
und legte sie der Kleinen in den Arm.
»Und es kost't nix?« fragte sie beklommen.
Nein, es kostete nichts. Ihre Augen leuchteten. »Schön'
Dank, guter Mann! Ach, wird der Vater schauen!«
Hand in Hand, Lisei mit ihrem Päckchen unter dem Arm, verließen
wir den Laden; als wir aber in die Nähe unserer Wohnung kamen,
ließ sie mich los und rannte über die Straße
nach der Schneiderherberge, daß ihr die schwarzen Flechten
in den Nacken flogen.
- - Nach dem Mittagessen stand ich vor unserer Haustür und
erwog unter Herzklopfen das Wagnis, schon heute zur ersten Vorstellung
meinen Vater um das Eintrittsgeld anzugehen; ich war ja mit der
Galerie zufrieden, und sie sollte für uns Jungens nur einen
Doppeltschilling kosten. Da, bevor ich's noch bei mir ins reine
gebracht hatte, kam das Lisei über die Straße zu mir
hergeflogen. »Der Vater schickt's!« sagte sie, und eh
ich mich's versah, war sie wieder fort; aber in meiner Hand hielt
ich eine rote Karte, darauf stand mit großen Buchstaben:
Erster Platz.
Als ich aufblickte, winkte auch von drüben der kleine schwarze
Mann mit beiden Armen aus der Bodenluke zu mir herüber. Ich
nickte ihm zu; was mußten das für nette Leute sein,
diese Puppenspieler! »Also heute abend«, sagte ich zu
mir selber, »heute abend und - Erster Platz!«
- - Du kennst unsern Schützenhof in der Süderstraße;
auf der Haustür sah man damals noch einen schön gemalten
Schützen in Lebensgröße, mit Federhut und Büchse;
im übrigen war aber der alte Kasten damals noch baufälliger,
als er heute ist. Die Gesellschaft war bis auf drei Mitglieder
herabgesunken; die vor Jahrhunderten von den alten Landesherzögen
geschenkten silbernen Pokale, Pulverhörner und Ehrenketten
waren nach und nach verschleudert; den großen Garten, der,
wie du weißt, auf den Bürgersteig hinausläuft,
hatte man zur Schaf- und Ziegengräsung verpachtet. Das alte
zweistöckige Haus wurde von niemandem weder bewohnt noch
gebraucht; windrissig und verfallen stand es da zwischen den munteren
Nachbarhäusern; nur in dem öden weißgekalkten
Saale, der fast das ganze obere Stockwerk einnahm, produzierten
mitunter starke Männer oder durchreisende Taschenspieler
ihre Künste. Dann wurde unten die große Haustür
mit dem gemalten Schützenbruder knarrend aufgeschlossen.
- - Langsam war es Abend geworden; und - das Ende trug die Last,
denn mein Vater wollte mich erst fünf Minuten vor dem angesetzten
Glockenschlage laufen lassen; er meinte, eine Übung in der
Geduld sei sehr vonnöten, damit ich im Theater stillesitze.
Endlich war ich an Ort und Stelle. Die große Tür stand
offen, und allerlei Leute wanderten hinein; denn derzeit ging
man noch gern zu solchen Vergnügungen; nach Hamburg war eine
weite Reise, und nur wenige hatten sich die kleinen Dinge zu Hause
durch die dort zu schauenden Herrlichkeiten leid machen können.
- Als ich die eichene Wendeltreppe hinaufgestiegen war, fand ich
Liseis Mutter am Eingange des Saales an der Kasse sitzen. Ich
näherte mich ihr ganz vertraulich und dachte, sie würde
mich so recht als einen alten Bekannten begrüßen; aber
sie saß stumm und starr und nahm mir meine Karte ab, als
wenn ich nicht die geringste Beziehung zu ihrer Familie hätte.
- Etwas gedemütigt trat ich in den Saal; der kommenden Dinge
harrend, plauderte alles mit halber Stimme durcheinander; dazu
fiedelte unser Stadtmusikus mit drei seiner Gesellen. Das erste,
worauf meine Augen fielen, war in der Tiefe des Saales ein roter
Vorhang oberhalb der Musikantenplätze. Die Malerei in der
Mitte desselben stellte zwei lange Trompeten vor, die kreuzweise
über einer goldenen Leier lagen; und, was mir damals sehr
sonderbar erschien, an dem Mundstück einer jeden hing, wie
mit den leeren Augen daraufgeschoben, hier eine finster, dort
eine lachend ausgeprägte Maske. - Die drei vordersten Plätze
waren schon besetzt; ich drängte mich in die vierte Bank,
wo ich einen Schulkameraden bemerkt hatte, der dort neben seinen
Eltern saß. Hinter uns bauten sich die Plätze schräg
ansteigend in die Höhe, so daß der letzte, die sogenannte
Galerie, welche nur zum Stehen war, sich fast mannshoch über
dem Fußboden befinden mochte. Auch dort schien es wohlgefüllt
zu sein; genau vermochte ich es nicht zu sehen, denn die wenigen
Talglichter, welche in Blechlampetten an den beiden Seitenwänden
brannten, verbreiteten nur eine schwache Helligkeit; auch dunkelte
die schwere Balkendecke des Saales. Mein Nachbar wollte mir eine
Schulgeschichte erzählen; ich begriff nicht, wie er an so
etwas denken konnte, ich schaute nur auf den Vorhang, der von
den Lampen des Podiums und der Musikantenpulte feierlich beleuchtet
war. Und jetzt ging ein Wehen über seine Fläche, die
geheimnisvolle Welt hinter ihm begann sich schon zu regen; noch
einen Augenblick, da erscholl das Läuten eines Glöckchens,
und während unter den Zuschauern das summende Geplauder wie
mit einem Schlage verstummte, flog der Vorhang in die Höhe.
- Ein Blick auf die Bühne versetzte mich um tausend Jahre
rückwärts. Ich sah in einen mittelalterlichen Burghof
mit Turm und Zugbrücke; zwei kleine ellenlange Leute standen
in der Mitte und redeten lebhaft miteinander.
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