Da trat er eines Morgens mit gar ernsthaftem Gesichte
zu mir in die Wohnstube, wo ich eben allein an meinem Frühstück
saß. »Schwiegersohn«, sagte er, nachdem er sich
wie verlegen ein paarmal mit der Hand durch seine weißen
Haarspießchen gefahren war, »ich kann's doch nit wohl
länger ansehn, daß ich alleweil so das Gnadenbrot an
euerm Tische soll essen.«
Ich wußte nicht, wo das hinaus sollte, aber ich fragte ihn,
wie er auf solche Gedanken komme; er schaffe ja mit in der Werkstatt,
und wenn mein Geschäft jetzt einen größeren Gewinn
abwerfe, so sei dies wesentlich der Zins seines eigenen Vermögens,
das er an unserem Hochzeitsmorgen in meine Hand gelegt habe.
Er schüttelte den Kopf. Das reiche alles nicht; aber eben
jenes kleine Vermögen habe er zum Teil einst in unserer Stadt
gewonnen; das Theater sei ja noch vorhanden, und die Stücke
habe er auch alle noch im Kopfe.
Da merkte ich's denn wohl, der alte Puppenspieler ließ ihm
keine Ruhe; sein Freund, der gute Heinrich, genügte ihm nicht
mehr als Publikum, er mußte einmal wieder öffentlich
vor versammeltem Volke seine Stücke auffuhren.
Ich suchte es ihm auszureden; aber er kam immer wieder darauf
zurück. Ich sprach mit Lisei, und am Ende konnten wir nicht
umhin, ihm nachzugeben. Am liebsten hätte nun freilich der
alte Mann gesehen, wenn Lisei wie vor unserer Verheiratung die
Frauenrollen in seinen Stücken gesprochen hätte; aber
wir waren übereingekommen, seine dahin zielenden Anspielungen
nicht zu verstehen; für die Frau eines Bürgers und Handwerksmeisters
wollte sich das denn doch nicht ziemen.
Zum Glück - oder, wie man will, zum Unglück - war derzeit
ein ganz reputierliches Frauenzimmer in der Stadt, die einst bei
einer Schauspielertruppe als Souffleuse gedient hatte und daher
in derlei Dingen nicht unbewandert war. Diese - Kröpel-Lieschen
nannten sie die Leute von wegen ihrer Kreuzlahmheit - ging sofort
auf unser Anerbieten ein, und bald entwickelte sich am Feierabend
und an den Sonntagnachmittagen die lebhafteste Tätigkeit
in Vater Josephs Stübchen. Während vor dem einen Fenster
der alte Heinrich an den Gerüststücken des Theaters
zimmerte, stand vor dem andern zwischen frisch angemalten Kulissen,
die von der Zimmerdecke herunterhingen, der alte Puppenspieler
und exerzierte mit Kröpel-Lieschen eine Szene nach der andern.
Sie sei ein dreimal gewürztes Frauenzimmer, versicherte er
stets nach solcher Probe; nicht einmal die Lisei hab es so schnell
kapiert; nur mit dem Singen ginge es nit gar so schön; sie
grunze mit ihrer Stimme immer in der Tiefe, was für die schöne
Susanne, die das Lied zu singen habe, nicht eben harmonierlich sei.
Endlich war der Tag der Aufführung festgesetzt. Es sollte
alles möglichst reputierlich vor sich gehen; nicht auf dem
Schützenhofe, sondern auf dem Rathaussaale, wo auch die Primaner
um Michaelis ihre Redeübungen hielten, sollte jetzt der Schauplatz
sein; und als am Sonnabendnachmittage unsere guten Bürger
ihr frisches Wochenblättchen auseinanderfalteten, sprang
ihnen in breiten Lettern die Anzeige in die Augen:
»Morgen Sonntagabend sieben Uhr auf dem Rathaussaale Marionetten-Theater
des Mechanicus Joseph Tendler hieselbst. Die schöne Susanna,
Schauspiel mit Gesang in vier Aufzügen.«
Es war aber damals in unserer Stadt nicht mehr die harmlose schaulustige
Jugend aus meinen Kinderjahren; die Zeiten des Kosakenwinters
lagen dazwischen, und namentlich war unter den Handwerkslehrlingen
eine arge Zügellosigkeit eingerissen; die früheren Liebhaber
unter den Honoratioren aber hatten ihre Gedanken jetzt auf andere
Dinge. Dennoch wäre vielleicht alles gutgegangen, wenn nur
der schwarze Schmidt und seine Jungen nicht gewesen wären.« - -
Ich fragte Paulsen, wer das sei, denn ich hatte niemals von einem
solchen Menschen in unserer Stadt gehört.
»Das glaub ich wohl«, erwiderte er, »der schwarze
Schmidt ist schon vor Jahren im Armenhaus verstorben; damals aber
war er Meister gleich mir; nicht ungeschickt, aber lüderlich
in seiner Arbeit wie im Leben; der sparsame Verdienst des Tages
wurde abends in Trunk und Kartenspiel vertan. Schon gegen meinen
Vater hatte er einen Haß gehabt, nicht allein, weil dessen
Kundschaft die seinige bei weitem überstieg, sondern schon
aus der Jugend her, wo er dessen Nebenlehrling gewesen und wegen
eines schlechten Streiches gegen ihn vom Meister fortgejagt worden
war. Seit dem Sommer hatte er Gelegenheit gefunden, diese Abneigung
in erhöhtem Maße auch auf mich auszudehnen; denn bei
der damals hier neu errichteten Kattunfabrik war, trotz seiner
eifrigen Bemühung um dieselbe, die Arbeit an den Maschinen
allein mir übertragen worden, infolgedessen er und seine
beiden Söhne, die bei dem Vater in Arbeit standen und diesen
an wüstem Treiben womöglich überboten, schon nicht
verfehlt hatten, mir ihren Verdruß durch allerlei Neckereien
kundzugeben. Ich hatte indessen jetzt keine Gedanken an diese Menschen.
So war der Abend der Aufführung herangekommen. Ich hatte
noch an meinen Büchern zu ordnen und habe, was geschah, erst
später durch meine Frau und Heinrich erfahren, welche zugleich
mit unserem Vater nach dem Rathaussaale gingen.
Der Erste Platz dort war fast gar nicht, der Zweite nur mäßig
besetzt gewesen; auf der Galerie aber hatte es Kopf an Kopf gestanden.
- Als man vor diesem Publikum das Spiel begonnen, war anfänglich
alles in der Ordnung vorgegangen; die alte Lieschen hatte ihren
Part fest und ohne Anstoß hingeredet. - Dann aber kam das
unglückselige Lied! Sie bemühte sich vergebens, ihrer
Stimme einen zarten Klang zu geben; wie Vater Joseph vorhin gesagt
hatte, sie grunzte wirklich in der Tiefe. Plötzlich rief
eine Stimme von der Galerie: »Höger up, Kröpel-Lieschen!
Höger up!« Und als sie, diesem Rufe gehorsam, die unerreichbaren
Diskanttöne zu erklettern strebte, da scholl ein rasendes
Gelächter durch den Saal.
Das Spiel auf der Bühne stockte, und zwischen den Kulissen
heraus rief die bebende Stimme des alten Puppenspielers: »Meine
Herrschaft'n, i bitt g'wogentlich um Ruhe!« Kasperl, den
er eben an seinen Drähten in der Hand hielt und der mit der
schönen Susanna eine Szene hatte, schlenkerte krampfhaft
mit seiner kunstvollen Nase.
Neues Gelächter war die Antwort. »Kasperl soll singen!«-
»Russisch! Schöne Minka, ich muß scheiden!«
- »Hurra für Kasperl!« - »Nichts doch; Kasperl
sein' Tochter soll singen!« - »Jawohl, wischt euch 's
Maul! Die ist Frau Meisterin geworden, die tut's halt nimmermehr!«
So ging's noch eine Weile durcheinander. Auf einmal flog, in wohlgezieltem
Wurfe, ein großer Pflasterstein auf die Bühne. Er hatte
die Drähte des Kasperls getroffen; die Figur entglitt der
Hand ihres Meisters und fiel zu Boden.
Vater Joseph ließ sich nicht mehr halten. Trotz Liseis Bitten
hat er gleich darauf die Puppenbühne betreten. - Donnerndes
Händeklatschen, Gelächter, Fußtrampeln empfing
ihn, und es mag sich freilich seltsam genug präsentiert haben,
wie der alte Mann, mit dem Kopf oben in den Soffitten, unter lebhaftem
Händearbeiten seinem gerechten Zorne Luft zu machen suchte.
- Plötzlich, unter allem Tumult, fiel der Vorhang, der alte
Heinrich hatte ihn herabgelassen.
- - Mich hatte indes zu Hause bei meinen Büchern eine gewisse
Unruhe befallen; ich will nicht sagen, daß mir Unheil ahnte,
aber es trieb mich dennoch fort, den Meinigen nach. - Als ich
die Treppe zum Rathaussaal hinaufsteigen wollte, drängte
eben die ganze Menge von oben mir entgegen. Alles schrie und lachte
durcheinander. »Hurra! Kasper is dod! Lott is dod. Die Kamedie
ist zu End!« - Als ich aufsah, erblickte ich die schwarzen
Gesichter der Schmidt-Jungen über mir. Sie waren augenblicklich
still und rannten an mir vorbei zur Tür hinaus; ich aber
hatte für mich jetzt die Gewißheit, wo die Quelle dieses
Unfugs zu suchen war.
Oben angekommen, fand ich den Saal fast leer. Hinter der Bühne
saß mein alter Schwiegervater wie gebrochen auf einem Stuhl
und hielt mit beiden Händen sein Gesicht bedeckt. Lisei,
die auf den Knien vor ihm lag, richtete sich, da sie mich gewahrte
langsam auf. »Nun, Paul«, fragte sie, mich traurig ansehend,
»hast du noch die Kuraschi?«
Aber sie mußte wohl in meinen Augen gelesen haben, daß
ich sie noch hatte; denn bevor ich noch antworten konnte, lag
sie schon an meinem Halse. »Laß uns nur fest zusammenhalten,
Paul!« sagte sie leise.
- - Und siehst du! Damit und mit ehrlicher Arbeit sind wir durchgekommen.
- - Als wir am andern Morgen aufgestanden waren, da fanden wir
jenes Schimpfwort »Pole Poppenspäler« - denn ein
Schimpfwort sollte es ja sein - mit Kreide auf unsere Haustür
geschrieben.
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