Aber die väterliche
Werkstatt wartete auf den Sohn ihres heimgegangenen Meisters.
Indes, der alte Heinrich war noch da und konnte mit Genehmigung
der Zunftmeister die Sache schon eine kurze Zeit aufrechterhalten;
und so hatte ich denn auch meiner guten Meisterin versprochen,
noch ein paar Wochen bis zum Eintreffen ihres Sohnes bei ihr auszuhalten.
Aber Ruhe hatte ich nicht mehr, das frische Grab meines Vaters
duldete mich nicht länger in der Fremde.
In diesen Gedanken unterbrach mich eine scharfe scheltende Stimme
drüben von der Straße her. Als ich aufblickte, sah
ich das schwindsüchtige Gesicht des Gefängnisinspektors
sich aus der halbgeöffneten Tür des Gefangenenhauses
hervorrecken; seine erhobene Faust drohte einem jungen Weibe,
das, wie es schien, fast mit Gewalt in diese sonst gefürchteten
Räume einzudringen strebte.
»Wird wohl was Liebes drinnen haben«, sagte die Meisterin,
die von ihrem Lehnstuhle aus ebenfalls dem Vorgange zugesehen
hatte, »aber der alte Sünder da drüben hat kein
Herz für die Menschheit.«
»Der Mann tut wohl nur seine Pflicht, Frau Meisterin«,
sagte ich, noch immer in meinen eigenen Gedanken.
»Ich möcht nicht solche Pflicht zu tun haben«,
erwiderte sie und lehnte sich fast zornig in ihren Stuhl zurück.
Drüben war indes die Tür des Gefangenenhauses zugeschlagen,
und das junge Weib, nur mit einem kurzen wehenden Mäntelchen
um die Schultern und einem schwarzen Tüchelchen um den Kopf
geknotet, ging langsam die übereiste Straße hinab.
- Die Meisterin und ich waren schweigend auf unserem Platz geblieben;
ich glaube - denn auch meine Teilnahme war jetzt geweckt -, es
war uns beiden, als ob wir helfen müßten und nur nicht
wüßten wie.
Als ich eben vom Fenster zurücktreten wollte, kam das Weib
wieder die Straße herauf. Vor der Tür des Gefangenenhauses
blieb sie stehen und setzte zögernd einen Fuß auf den
zur Schwelle führenden Treppenstein; dann aber wandte sie
den Kopf zurück, und ich sah ein junges Antlitz, dessen dunkle
Augen mit dem Ausdruck ratlosester Verlassenheit über die
leere Gasse streiften; sie schien doch nicht den Mut zu haben,
noch einmal der drohenden Beamtenfaust entgegenzutreten. Langsam
und immer wieder nach der geschlossenen Tür zurückblickend,
setzte sie ihren Weg fort; man sah es deutlich, sie wußte
selbst nicht wohin. Als sie jetzt aber an der Ecke der Gefangenanstalt
in das nach der Kirche hinaufführende Gäßchen
einbog, riß ich unwillkürlich meine Mütze vom
Türhaken, um ihr nachzugehen.
»Ja, ja, Paulsen, das ist das Rechte!« sagte die gute
Meisterin; »geht nur, ich werde derweil den Kaffee wieder
heiß setzen!«
Es war grimmig kalt, als ich aus dem Hause trat; alles schien
wie ausgestorben; von dem Berge, der am Ende der Straße
die Stadt überragt, sah fast drohend der schwarze Tannenwald
herab; vor den Fensterscheiben der meisten Häuser saßen
die weißen Eisgardinen; denn nicht jeder hatte, wie meine
Meisterin, die Gerechtigkeit von fünf Klaftern Holz auf seinem
Hause. - Ich ging durch das Gäßchen nach dem Kirchenplatz;
und dort vor dem großen hölzernen Kruzifixe auf der
gefrorenen Erde lag das junge Weib, den Kopf gesenkt, die Hände
in den Schoß gefaltet. Ich trat schweigend näher; als
sie aber jetzt zu dem blutigen Antlitz des Gekreuzigten aufblickte,
sagte ich: »Verzeiht mir, wenn ich Eure Andacht unterbreche,
aber Ihr seid wohl fremd in dieser Stadt?«
Sie nickte nur, ohne ihre Stellung zu verändern.
»Ich möchte Euch helfen!« begann ich wieder, »sagt
mir nur, wohin Ihr wollt!«
»I weiß nit mehr wohin«, sagte sie tonlos und
ließ das Haupt wieder auf ihre Brust sinken.
»Aber in einer Stunde ist es Nacht; in diesem Totenwetter
könnt Ihr nicht länger auf der offenen Straße
bleiben!«
»Der liebi Gott wird helfen«, hörte ich sie leise sagen.
»Ja, ja«, rief ich, »und ich glaube fast, er hat
mich selbst zu Euch geschickt!«
Es war, als habe der stärkere Klang meiner Stimme sie erweckt;
denn sie erhob sich und trat zögernd auf mich zu; mit vorgestrecktem
Halse näherte sie ihr Gesicht mehr und mehr dem meinen, und
ihre Blicke drangen auf mich ein, als ob sie mich damit erfassen
wolle. »Paul!« rief sie plötzlich, und wie ein
Jubelruf flog das Wort aus ihrer Brust - »Paul! Ja di schickt
mir der liebe Gott!«
Wo hatte ich meine Augen gehabt! Da hatte ich es ja wieder, mein
Kindsgespiel, das kleine Puppenspieler-Lisei! Freilich, eine schöne
schlanke Jungfrau war es geworden, und auf dem sonst so lachenden
Kindergesicht lag jetzt, nachdem der erste Freudenstrahl darüberhin
geflogen, der Ausdruck eines tiefen Kummers.
»Wie kommst du so allein hieher, Lisei?« fragte ich.
»Was ist geschehen? Wo ist denn dein Vater?«
»Im Gefängnis, Paul.«
»Dein Vater, der gute Mann! - Aber komm mit mir; ich stehe
hier bei einer braven Frau in Arbeit; sie kennt dich, ich habe
ihr oft von dir erzählt.«
Und Hand in Hand, wie einst als Kinder, gingen wir nach dem Hause
meiner guten Meisterin, die uns schon vom Fenster aus entgegensah.
»Das Lisei ist's!« rief ich, als wir in die Stube traten,
»denkt Euch, Frau Meisterin, das Lisei!«
Die gute Frau schlug die Hände über ihre Brust zusammen.
»Heilige Mutter Gottes, bitt für uns! das Lisei! - also
so hat's ausgeschaut! - Aber«, fuhr sie fort, »wie kommst
denn du mit dem alten Sünder da zusammen?« - und sie
wies mit dem ausgestreckten Finger nach dem Gefangenhause drüben
- »der Paulsen hat mir doch gesagt, daß du ehrlicher
Leute Kind bist!«
Gleich darauf aber zog sie das Mädchen weiter in die Stube
hinein und drückte sie in ihren Lehnstuhl nieder, und als
jetzt Lisei ihre Frage zu beantworten anfing, hielt sie ihr schon
eine dampfende Tasse Kaffee an die Lippen.
»Nun trink einmal«, sagte sie, »und komm erst wieder
zu dir; die Händchen sind dir ja ganz verklommen.«
Und das Lisei mußte trinken, wobei ihr zwei helle Tränen
in die Tasse rollten, und dann erst durfte sie erzählen.
Sie sprach jetzt nicht, wie einst und wie vorhin in der Einsamkeit
ihres Kummers, in dem Dialekt ihrer Heimat, nur ein leichter Anflug
war ihr davon geblieben; denn waren ihre Eltern auch nicht mehr
bis an unsere Küste hinabgekommen, so hatten sie sich doch
meistens in dem mittleren Deutschland aufgehalten. Schon vor einigen
Jahren war die Mutter gestorben. »Verlaß den Vater
nicht!« das hatte sie der Tochter im letzten Augenblicke
noch ins Ohr geflüstert, »sein Kindsherz ist zu gut
für diese Welt.«
Lisei brach bei dieser Erinnerung in heftiges Weinen aus; sie
wollte nicht einmal von der aufs neue vollgeschenkten Tasse trinken,
mit der die Meisterin ihre Tränen zu stillen gedachte, und
erst nach einer ziemlichen Weile konnte sie weiterberichten.
Gleich nach dem Tode der Mutter war es ihre erste Arbeit gewesen,
an deren Stelle sich die Frauenrollen in den Puppenspielen von
ihrem Vater einlernen zu lassen. Dazwischen waren die Bestattungsfeierlichkeiten
besorgt und die ersten Seelenmessen für die Tote gelesen;
dann, das frische Grab hinter sich lassend, waren Vater und Tochter
wiederum ins Land hineingefahren und hatten, wie vorhin, ihre
Stücke abgespielt: Den verlorenen Sohn, Die heilige Genoveva,
und wie sie sonst noch heißen mochten.
So waren sie gestern auf der Reise in ein großes Kirchdorf
gekommen, wo sie ihre Mittagsrast gehalten hatten. Auf der harten
Bank vor dem Tische, an welchem sie ihr bescheidenes Mahl verzehrten,
war Vater Tendler ein halbes Stündchen in einen festen Schlaf
gesunken, während Lisei draußen die Fütterung
ihres Pferdes besorgt hatte. Kurz darauf, in wollene Decken wohlverpackt,
waren sie aufs neue in die grimmige Winterkälte hinausgefahren.
»Aber wir kamen nit weit«, erzählte Lisei; »gleich
hinterm Dorf ist ein Landreiter auf uns zugeritten und hat gezetert
und gemordiot. Aus dem Tischkasten sollt dem Wirt ein Beutel mit
Geld gestohlen sein, und mein unschuldigs Vaterl war doch allein
in der Stube dort gewesen! Ach, wir haben kei Heimat, kei Freund,
kei Ehr; es kennt uns niemand nit!«
»Kind, Kind«, sagte die Meisterin, indem sie zu mir
hinüberwinkte, »versündige dich auch nicht!«
Ich aber schwieg, denn Lisei hatte ja nicht unrecht mit ihrer
Klage. - Sie hatten in das Dorf zurückgemußt; das Fuhrwerk
mit allem, was daraufgeladen, war vom Schulzen dort zurückgehalten
worden; der alte Tendler aber hatte die Weisung erhalten, den
Weg zur Stadt neben dem Pferde des Landreiters herzutraben. Lisei,
von dem letzteren mehrfach zurückgewiesen, war in einiger
Entfernung hinterhergegangen, in der Zuversicht, daß sie
wenigstens, bis der liebe Gott die Sache aufkläre, das Gefängnis
ihres Vaters werde teilen können. Aber - auf ihr ruhte kein
Verdacht; mit Recht hatte der Inspektor sie als eine Zudringliche
von der Tür gejagt, die auf ein Unterkommen in seinem Hause
nicht den geringsten Anspruch habe.
Lisei wollte das zwar noch immer nicht begreifen; sie meinte,
das sei ja härter als alle Strafe, die später doch gewiß
den wirklichen Spitzbuben noch ereilen würde; aber, fügte
sie gleich hinzu, sie wolle ihm auch so harte Strafe nit wünschen,
wenn nur die Unschuld von ihrem guten Vaterl an den Tag komme;
ach, der werd's gewiß nit überleben!
Ich besann mich plötzlich, daß ich sowohl dem alten
Korporal da drüben als auch dem Herrn Kriminalkommissarius
eigentlich ein unentbehrlicher Mann sei; denn dem einen hielt
ich seine Spinnmaschinen in Ordnung, dem andern schärfte
ich seine kostbaren Federmesser; durch den einen konnte ich wenigstens
Zutritt zu dem Gefangenen erhalten, bei dem andern konnte ich
ein Leumundszeugnis für Herrn Tendler ablegen und ihn vielleicht
zur Beschleunigung der Sache veranlassen. Ich bat Lisei, sich
zu gedulden, und ging sofort in das Gefangenhaus hinüber.
Der schwindsüchtige Inspektor schalt auf die unverschämten
Weiber, die immer zu ihren spitzbübischen Männern oder
Vätern in die Zellen wollten. Ich aber verbat mir in betreff
meines alten Freundes solche Titel, solange sie ihm nicht durch
das Gericht »von Rechts wegen« beigelegt seien, was,
wie ich sicher wisse, nie geschehen werde; und endlich, nach einigem
Hin- und Widerreden, stiegen wir zusammen die breite Treppe nach
dem Oberbau hinauf.
In dem alten Gefangenhause war auch die Luft gefangen, und ein
widerwärtiger Dunst schlug uns entgegen, als wir oben durch
den langen Korridor schritten, von welchem aus zu beiden Seiten
Tür an Tür in die einzelnen Gefangenzellen führte.
An einer derselben, fast zu Ende des Ganges, blieben wir stehen;
der Inspektor schüttelte sein großes Schlüsselbund,
um den rechten herauszufinden; dann knarrte die Tür, und
wir traten ein.
In der Mitte der Zelle, mit dem Rücken gegen uns, stand die
Gestalt eines kleinen mageren Mannes, der nach dem Stückchen
Himmel hinaufzublicken schien, das grau und trübselig durch
ein oben in der Mauer angebrachtes Fenster auf ihn herabdämmerte.
An seinem Haupte bemerkte ich sogleich die kleinen abstehenden
Haarspieße; nur hatten sie, wie jetzt draußen die
Natur, sich in die Farbe des Winters gekleidet. Bei unserem Eintritt
wandte der kleine Mann sich um.
»Sie kennen mich wohl nicht mehr, Herr Tendler?« fragte ich.
Er sah flüchtig nach mir hin. »Nein, lieber Herr«,
erwiderte er, »hab nicht die Ehre.«
Ich nannte ihm den Namen meiner Vaterstadt und sagte: »Ich
bin der unnütze Junge, der Ihnen damals Ihren kunstreichen
Kasperl verdrehte!«
»Oh, schad't nichts, gar nichts!« erwiderte er verlegen
und machte mir einen Diener; »ist lange schon vergessen.«
Er hatte offenbar nur halb auf mich gehört; denn seine Lippen
bewegten sich als spräche er zu sich selber von ganz anderen
Dingen.
Da erzählte ich ihm, wie ich vorhin sein Lisei aufgefunden
habe, und jetzt erst sah er mich mit offenen Augen an. »Gott
Dank! Gott Dank!« sagte er und faltete die Hände. »Ja,
ja, das kleine Lisei und der kleine Paul, die spielten derzeit
miteinander! - Der kleine Paul! Seid Ihr der kleine Paul? Oh,
i glaub's Euch schon; das herzige G'sichtl von dem frischen Bub'n,
das schaut da no heraus!« Er nickte mir so innig zu, daß
die weißen Haarspießchen auf seinem Kopfe bebten.
»Ja, ja, da drunten an der See bei euch; wir sind nit wieder
hingekommen; das war no gute Zeit dermal; da war aa noch mein
Weib, die Tochter vom großen Geißelbrecht, dabei!
Joseph!
pflegte sie zu sagen, wenn nur die Menschen aa so Dräht
an ihre Köpf hätten, da könntst du aa mit ihne
firti werd'n! - Hätt sie nur heute noch gelebt, sie hätten
mich nicht eingesperrt. Du lieber Gott; ich bin kein Dieb, Herr
Paulsen.«
Der Inspektor, der draußen vor der angelehnten Tür
im Gange auf und ab ging, hatte schon ein paarmal mit seinem Schlüsselbund
gerasselt. Ich suchte den alten Mann zu beruhigen und bat ihn,
sich bei seinem ersten Verhör auf mich zu berufen, der ich
hier bekannt und wohlgeachtet sei.
Als ich wieder zu meiner Meisterin in die Stube trat, rief diese
mir entgegen: »Das ist ein trotzigs Mädel, Paulsen;
da helft mir nur gleich ein wenig; ich hab ihr die Kammer zum
Nachtquartier geboten; aber sie will fort, in die Bettelherberg
oder Gott weiß wohin!«
Ich fragte Lisei, ob sie ihre Pässe bei sich habe.
»Mein Gott, die hat der Schulz im Dorf uns abgenommen!«
»So wird kein Wirt dir seine Tür aufmachen«, sagte
ich, »das weißt du selber wohl.«
Sie wußte es freilich, und die Meisterin schüttelte
ihr vergnügt die Hände. »Ich denk wohl«, sagte
sie, »daß du dein eignes Köpfchen hast; der da
hat mir's haarklein erzählt, wie ihr zusammen in der Kiste
habt gesessen; aber so leicht wärst du doch nicht von mir
fortgekommen!«
Das Lisei sah etwas verlegen vor sich nieder; dann aber fragte
sie mich hastig aus nach ihrem Vater. Nachdem ich ihr Bescheid
gegeben hatte, erbat ich mir ein paar Bettstücke von der
Meisterin, nahm von den meinigen noch etwas hinzu und trug es
selbst hinüber in die Zelle des Gefangenen, wozu ich vorhin
von dem Inspektor die Erlaubnis erhalten hatte. - So konnten wir,
als nun die Nacht herankam, hoffen, daß im warmen Bette
und auf dem besten Ruhekissen, das es in der Welt gibt, auch unsern
alten Freund in seiner öden Kammer ein sanfter Schlaf erquicken werde.
Am andern Vormittage, als ich eben, um zum Herrn Kriminalkommissarius
zu gehen, auf die Straße trat, kam von drüben der Inspektor
in seinen Morgenpantoffeln auf mich zugeschritten. »Ihr habt
recht gehabt, Paulsen«, sagte er mit seiner gläsernen
Stimme, »für diesmal ist's kein Spitzbube gewesen; den
Richtigen haben sie soeben eingebracht; Euer Alter wird noch heut
entlassen werden.«
Und richtig, nach einigen Stunden öffnete sich die Tür
des Gefangenhauses, und der alte Tendler wurde von der kommandierenden
Stimme des Inspektors zu uns hinübergewiesen. Da das Mittagessen
eben aufgetragen war, so ruhte die Meisterin nicht, bis auch er
seinen Platz am Tische eingenommen hatte; aber er berührte
die guten Speisen kaum, und wie sie sich auch um ihn bemühen
mochte, er blieb wortkarg und in sich gekehrt neben seiner Tochter
sitzen; nur mitunter bemerkte ich, wie er deren Hand nahm und
sie zärtlich streichelte.
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