»Es sind reputierliche Leute, die Tendlers«,
hörte ich einmal meinen Vater sagen; »der Schneiderwirt
drüben hat ihnen auch heute ein ordentliches Stübchen
eingeräumt; sie zahlen jeden Morgen ihre Zeche; nur, meinte
der Alte, sei es leider blitzwenig, was sie draufgehen ließen.
- Und das«, setzte mein Vater hinzu, »gefällt mir
besser als dem Herbergsvater; sie mögen an den Notpfennig
denken, was sonst nicht die Art solcher Leute ist.« - - Wie
gern hörte ich meine Freunde loben! Denn das waren sie jetzt
alle; sogar Madame Tendler nickte ganz vertraulich aus ihrem Strohhute,
wenn ich - keiner Einlaßkarte mehr bedürftig - abends
an ihrer Kasse vorbei in den Saal schlüpfte. - Und wie rannte
ich jetzt vormittags aus der Schule! Ich wußte wohl, zu
Hause traf ich das Lisei entweder bei meiner Mutter in der Küche,
wo sie allerlei kleine Dienste für sie zu verrichten wußte,
oder es saß auf der Bank im Garten, mit einem Buche oder
mit einer Näharbeit in der Hand. Und bald wußte ich
sie auch in meinem Dienste zu beschäftigen; denn nachdem
ich mich genügend in den innern Zusammenhang der Sache eingeweiht
glaubte, beabsichtigte ich nichts Geringeres, als nun auch meinerseits
ein Marionettentheater einzurichten. Vorläufig begann ich
mit dem Ausschnitzen der Puppen, wobei Herr Tendler, nicht ohne
eine gutmütige Schelmerei in seinen kleinen Augen, mir in
der Wahl des Holzes und der Schnitzmesser mit Rat und Hülfe
zur Hand ging; und bald ragte auch in der Tat eine mächtige
Kasperlenase aus dem Holzblöckchen in die Welt. Da aber andererseits
der Nanking des »Wurstls« mir zuwenig interessant erschien,
so mußte indessen das Lisei aus »Fetz'ln«, die
wiederum der alte Gabriel hatte hergeben müssen, gold- und
silberbesetzte Mäntel und Wämser für Gott weiß
welche andere künftige Puppen anfertigen. Mitunter trat auch
der alte Heinrich mit seiner kurzen Pfeife aus der Werkstatt zu
uns, ein Geselle meines Vaters, der, solang ich denken konnte,
zur Familie gehörte; er nahm mir dann wohl das Messer aus
der Hand und gab durch ein paar Schnitte dem Dinge hie und da
den rechten Schick. Aber schon wollte meiner Phantasie selbst
der Tendlersche Haupt- und Prinzipalkasperl nicht mehr genügen;
ich wollte noch ganz etwas anderes leisten; für den meinigen
ersann ich noch drei weitere, nie dagewesene und höchst wirkungsvolle
Gelenke, er sollte seitwärts mit dem Kinne wackeln, die Ohren
hin und her bewegen und die Unterlippe auf- und abklappen können;
und er wäre auch jedenfalls ein ganz unerhörter Prachtkerl
geworden, wenn er nur nicht schließlich über all seinen
Gelenken schon in der Geburt zugrunde gegangen wäre. Auch
sollte leider weder der Pfalzgraf Siegfried noch irgendein anderer
Held des Puppenspiels durch meine Hand zu einer fröhlichen
Auferstehung gelangen. - Besser glückte es mir mit dem Bau
einer unterirdischen Höhle, in der ich an kalten Tagen mit
Lisei auf einem Bänkchen zusammensaß und ihr bei dem
spärlichen Lichte, das durch eine oben angebrachte Fensterscheibe
fiel, die Geschichten aus dem Weißeschen »Kinderfreunde«
vorlas, die sie immer von neuem hören konnte. Meine Kameraden
neckten mich wohl und schalten mich einen Mädchenknecht,
weil ich, statt wie sonst mit ihnen, jetzt mit der Puppenspielertochter
meine Zeit zubrachte. Mich kümmerte das wenig; wußte
ich doch, es redete nur der Neid aus ihnen, und wo es mir zu arg
wurde, da brauchte ich denn auch einmal ganz wacker meine Fäuste.
- - Aber alles im Leben ist nur für eine Spanne Zeit. Die
Tendlers hatten ihre Stücke durchgespielt; die Puppenbühne
auf dem Schützenhofe wurde abgebrochen; sie rüsteten
sich zum Weiterziehen.
Und so stand ich denn an einem stürmischen Oktobernachmittage
draußen vor unserer Stadt auf dem hohen Heiderücken,
sah bald traurig auf den breiten Sandweg, der nach Osten in die
kahle Gegend hinausläuft, bald sehnsüchtig nach der
Stadt zurück, die in Dunst und Nebel in der Niederung lag.
Und da kam es herangetrabt, das kleine Wägelchen mit den
zwei hohen Kisten darauf und dem munteren braunen Pferdchen in
der Gabeldeichsel. Herr Tendler saß jetzt vorn auf einem
Brettchen, hinter ihm Lisei in dem neuen warmen Mäntelchen
neben ihrer Mutter. - Ich hatte schon vor der Herberge von ihnen
Abschied genommen; dann aber war ich vorausgelaufen, um sie alle
noch einmal zu sehen und um Lisei, wozu ich von meinem Vater die
Erlaubnis erhalten hatte, den Band von Weißens »Kinderfreunde«
als Angedenken mitzugeben; auch eine Düte mit Kuchen hatte
ich um einige ersparte Sonntagssechslinge für sie eingehandelt.
»Halt! Halt!« rief ich jetzt und stürzte von meinem
Heidehügel auf das Fuhrwerk zu. - Herr Tendler zog die Zügel
an, der Braune stand, und ich reichte Lisei meine kleinen Geschenke
in den Wagen, die sie neben sich auf den Stuhl legte. Als wir
uns aber, ohne ein Wort zu sagen, an beiden Händen griffen,
da brachen wir armen Kinder in ein lautes Weinen aus. Doch in
demselben Augenblicke peitschte auch schon Herr Tendler auf sein
Pferdchen. »Ade, mein Bub! Bleib brav und dank aa no schön
dei'm Vaterl und dei'm Mutterl!«
»Ade! Ade!« rief das Lisei; das Pferdchen zog an, das
Glöckchen an seinem Halse bimmelte; ich fühlte die kleinen
Hände aus den meinen gleiten, und fort fuhren sie, in die
weite Welt hinaus.
Ich war wieder am Rande des Weges emporgestiegen und blickte unverwandt
dem Wägelchen nach, wie es durch den staubenden Sand dahinzog.
Immer schwächer hörte ich das Gebimmel des Glöckchens;
einmal noch sah ich ein weißes Tüchelchen um die Kisten
flattern; dann allmählich verlor es sich mehr und mehr in
den grauen Herbstnebeln. - Da fiel es plötzlich wie eine
Todesangst mir auf das Herz: du siehst sie nimmer, nimmer wieder!
- »Lisei!« schrie ich, »Lisei!« - Als aber
dessenungeachtet, vielleicht wegen einer Biegung der Landstraße,
der nur noch im Nebel schwimmende Punkt jetzt völlig meinen
Augen entschwand, da rannte ich wie unsinnig auf dem Wege hintendrein.
Der Sturm riß mir die Mütze vom Kopf, meine Stiefel
füllten sich mit Sand; aber so weit ich laufen mochte, ich
sah nichts anderes als die öde baumlose Gegend und den kalten
grauen Himmel, der darüberstand. - Als ich endlich bei einbrechender
Dunkelheit zu Hause wieder angelangt war, hatte ich ein Gefühl,
als sei die ganze Stadt indessen ausgestorben. Es war eben der
erste Abschied meines Lebens.
Wenn in den nun folgenden Jahren der Herbst wiederkehrte, wenn
die Krammetsvögel durch die Gärten unserer Stadt flogen
und drüben vor der Schneiderherberge die ersten gelben Blätter
von den Lindenbäumen wehten, dann saß ich wohl manches
Mal auf unserer Bank und dachte, ob nicht endlich einmal das Wägelchen
mit dem braunen Pferdchen wie damals wieder die Straße heraufgebimmelt
kommen würde.
Aber ich wartete umsonst; das Lisei kam nicht wieder.
Es war um zwölf Jahre später. - Ich hatte nach der Rechenmeisterschule,
wie es damals manche Handwerkersöhne zu tun pflegten, auch
noch die Quarta unserer Gelehrtenschule durchgemacht und war dann
bei meinem Vater in die Lehre getreten. Auch diese Zeit, in der
ich mich, außer meinem Handwerk, vielfach mit dem Lesen
guter Bücher beschäftigte, war vorübergegangen.
Jetzt, nach dreijähriger Wanderschaft, befand ich mich in
einer mitteldeutschen Stadt. Es war streng katholisch dort, und
in dem Punkte verstanden sie keinen Spaß; wenn man vor ihren
Prozessionen, die mit Gesang und Heiligenbildern durch die Straßen
zogen, nicht selbst den Hut abnahm, so wurde er einem auch wohl
heruntergeschlagen; sonst aber waren es gute Leute. - Die Frau
Meisterin, bei der ich in Arbeit stand, war eine Witwe, deren
Sohn gleich mir in der Fremde arbeitete, um die nach den Zunftgesetzen
vorgeschriebenen Wanderjahre bei der späteren Bewerbung um
das Meisterrecht nachweisen zu können. Ich hatte es gut in
diesem Hause; die Frau tat mir, wovon sie wünschen mochte,
daß es in der Ferne andere Leute an ihrem Kinde tun möchten,
und bald war unter uns das Vertrauen so gewachsen, daß das
Geschäft so gut wie ganz in meinen Händen lag. - Jetzt
steht unser Joseph dort bei ihrem Sohn in Arbeit, und die Alte,
so hat er oft geschrieben, hätschelt mit ihm, als wäre
sie die leibhaftige Großmutter zu dem Jungen.
- - Nun, damals saß ich eines Sonntagnachmittags mit meiner
Frau Meisterin in der Wohnstube, deren Fenster der Tür des
großen Gefangenenhauses gegenüberlagen. Es war im Januar;
das Thermometer stand zwanzig Grad unter Null; draußen auf
der Gasse war kein Mensch zu sehen; mitunter kam der Wind pfeifend
von den nahen Bergen herunter und jagte kleine Eisstücke
klingend über das Straßenpflaster.
»Da behagt 'n warmes Stübchen und 'n heißes Schälchen
Kaffee«, sagte die Meisterin, indem sie mir die Tasse zum
dritten Male vollschenkte.
Ich war ans Fenster getreten. Meine Gedanken gingen in die Heimat;
nicht zu lieben Menschen, die hatte ich dort nicht mehr, das Abschiednehmen
hatte ich jetzt gründlich gelernt. Meiner Mutter war mir
noch vergönnt gewesen selbst die Augen zuzudrücken;
vor einigen Wochen hatte ich nun auch den Vater verloren, und
bei dem damals noch so langwierigen Reisen hatte ich ihn nicht
einmal zu seiner Ruhestatt begleiten können.
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