Immerhin musste sich auch der Dieb gesagt haben, dass die Route nach Amerika auf dem Umweg über Indien nicht so leicht wie die Atlantik-Strecke zu überwachen wäre.
Mr Fix konnte seine Betrachtungen bald abbrechen. Schrille Signale kündigten endlich die Ankunft des Dampfers an. Die riesige Menschenmenge stürzte zur Landungsbrücke, sodass man jetzt schon um Leib und Gut der Aussteigenden besorgt sein musste. Ungefähr zehn kleine Boote stießen vom Kai ab, um die Mongolia einzuholen.
Kurz darauf tauchte der gewaltige Schiffsrumpf zwischen den beiden Kanalufern auf. Um Punkt 11 Uhr war es so weit: Die Mongolia ging an der Reede von Sues vor Anker.
Das Schiff war voll besetzt. Ein Teil der Passagiere blieb auf dem Oberdeck und betrachtete von dort das malerische Panorama. Die Mehrzahl der Passagiere benutzte jedoch die kleinen Boote, die das Schiff umringten, um an Land zu gehen.
Mr Fix prüfte aufmerksam das Gesicht jedes Reisenden, der ein Boot verließ.
Plötzlich trat ein junger Mann an ihn heran, der sich der diensteifrigen herandrängenden Fellachen mit einer einzigen kräftigen Handbewegung entledigt hatte. Der Reisende fragte Mr Fix sehr höflich, ob er ihm den Weg zum britischen Konsulat weisen könne. Offensichtlich beabsichtigte der Fremde, seinen Reisepass, den er in der Hand trug, bei der Behörde stempeln zu lassen.
Der Detektiv griff instinktiv nach dem Pass und überflog in Sekundenschnelle die Namenseintragungen.
Fast wäre er zusammengezuckt. Das Büchlein zitterte in seiner Hand. Die Personenbeschreibung im Pass deckte sich haargenau mit der Beschreibung des gesuchten Bankräubers.
»Das ist doch nicht Ihr Pass?«, fragte er.
»Nein, der gehört meinem Herrn«, antwortete der junge Mann.
»Und wo befindet sich Ihr Herr?«
»An Bord.«
»Er muss aber selbst im Konsulat vorstellig werden, um seine Identität nachzuweisen.«
»Ist das unbedingt notwendig?«
»Leider ja.«
»Und wo finde ich das Konsulat?«
»Dort drüben an der Ecke des Platzes«, sagte der Detektiv und zeigte auf ein Haus, das etwa 200 Schritte entfernt war.
»Dann muss ich wohl meinen Herrn holen. Ich fürchte, er wird von dieser Störung nicht entzückt sein.«
Er grüßte den Detektiv und kehrte zum Dampfer zurück.
Im siebenten Kapitel
muss die Polizei wieder einmal einsehen,
dass Pässe nutzlos sind
Der Inspektor eilte über den Kai zum Konsulat. Auf seine nachdrückliche Bitte hin wurde er sofort beim Konsul vorgelassen.
»Herr Konsul«, begann er ohne Umschweife, »ich habe gute Gründe, den gesuchten Mann unter den Passagieren der Mongolia zu vermuten.« Dann erzählte er, was er mit dem Diener des Verdächtigen vereinbart hatte.
»Nun gut, Mister Fix«, sagte der Konsul. »Ich werde mir den Burschen genau anschauen. Aber wenn er tatsächlich der Gesuchte ist, wird er es vielleicht vorziehen, gar nicht erst hierher zu kommen. Diebe pflegen nicht gern, Spuren ihrer Flucht zu hinterlassen. Abgesehen davon sind die Passformalitäten aufgehoben.«
»Wenn der Mann so kaltblütig ist, wie wir annehmen, wird er kommen.«
»Mit seinem Pass?«, fragte der Konsul.
»Pässe sind doch nur dazu da, anständigen Leuten lästig zu sein und unehrlichem Gesindel die Flucht zu erleichtern. Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass der Pass in Ordnung sein wird; aber ich möchte Sie doch inständig bitten, ihn nicht zu stempeln.«
»Und mit welcher Begründung? Wenn der Pass gültig ist, kann ich dem Mann das Visum nicht verweigern«, sagte der Konsul.
»Aber ich muss den Kerl doch irgendwie hier aufhalten, bis der Haftbefehl aus London da ist!«
»Das ist allerdings Ihre eigene Angelegenheit, mein lieber Mister Fix«, entgegnete der Konsul. »Ich habe lediglich …« Der Satz blieb unbeendet, denn in diesem Augenblick klopfte der Konsulsekretär an die Tür und führte zwei Herren herein. Einer der beiden war tatsächlich jener Bedienstete, mit dem sich der Detektiv zuvor unterhalten hatte.
Sein Herr legte den Pass auf den Tisch und bat den Konsul ziemlich lässig um die Eintragung des Visumstempels.
Der Konsul las aufmerksam die Eintragungen im Pass, während sich der Detektiv in eine Zimmerecke zurückgezogen hatte und den Fremden beobachtete, genauer gesagt: mit den Blicken verschlang.
Der Konsul wendete sich jetzt direkt an den Besucher.
»Sie sind Phileas Fogg?«, fragte er.
»Ja, das stimmt«, antwortete der Herr.
»Dieser Mann dort ist Ihr Diener?«
»Ja. Er ist Franzose und heißt Passepartout.«
»Sie kommen aus London?«
»Ja.«
»Und Sie reisen nach …?«
»Bombay.«
»In Ordnung, mein Herr. Sie wissen doch sicher, dass der Visumzwang aufgehoben ist?«
»Das ist mir bekannt«, antwortete Phileas Fogg. »Ihre Eintragung soll aber beweisen, dass ich Sues auf meiner Reise berührt habe.«
»Wie Sie wünschen.«
Der Konsul signierte den Pass, trug das Datum ein und setzte das Amtssiegel dazu. Mr Fogg bezahlte die Gebühr, grüßte steif und verließ mit seinem Diener das Konsulatsbüro.
»Nun?«, fragte der Polizeiinspektor.
»Was heißt nun? Der Herr sieht grundehrlich aus«, sagte der Konsul.
»Darum geht es gar nicht, Herr Konsul. Sie müssen doch zugeben, dass die Suchanzeige aus London haargenau auf diesen phlegmatischen Gentleman hier passt.«
»Das bestreite ich gar nicht, aber Sie wissen doch, dass solche Personenbeschreibungen …«
Fix wurde ungeduldig.
»Für mich gibt es keinen Zweifel mehr«, sagte er. »Der Diener scheint mir übrigens weniger rätselhaft als der Herr zu sein. Außerdem ist er Franzose, wird sich also verplappern. Ich empfehle mich, Herr Konsul.«
Fix verließ das Büro und begab sich auf die Suche nach Passepartout.
Inzwischen war Mr Fogg bereits am Kai angelangt, hatte seinen Diener mit einigen Aufträgen fortgeschickt und ein Boot herbeigerufen, um auf die Mongolia zurückzukehren. An Bord des Schiffes suchte er sofort seine Kabine auf und öffnete sein Reisetagebuch, das schon folgende Eintragungen enthielt:
Abfahrt London,
Mittwoch, den 2. Oktober, 8 Uhr 45 Min.
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