Dies ist das Leben, das Glück des Mittelstandes; zu diesem wurde ich geboren, und wurde früh dafür verdorben, das ist mein Schmerz! Was hier Reichthum ist, würde in Deiner Sphäre Armuth heißen, und welche Genüsse bietet diese glückliche Armuth! Hierher gehöre ich; warum mußte ich aus meinem tiefen Thale auf Eure sonnige Felsenhöhe verpflanzt werden, wo ich nie festwurzeln werde, wo ich, im nutzlosen Streben danach, am Ende doch verkümmern muß?

Und Helena? erwiederte mit einem Händedruck Eugen.

Ach, stünde sie in der Welt nicht höher als jene Julie! seufzte Richard.

Und könnte sie dann noch Helena sein? fragte Eugen.

Ich weiß, ich fühle, es ist wie es ist, und keine Gewalt im Himmel und auf Erden kann die verworrene Zerrissenheit meines unseligen Daseins zu einem Ganzen umbilden, klagte Richard. Aber verarge es mir wer da kann, ich bin müde dieses Harrens auf eine unbestimmte Zukunft, dieses Hoffens ins weite Blaue hinein müde, müde bis zum Tode. Die Luftschlösser, die ich mit Hülfe Deiner sorgenden Liebe mir erbaute, was ist aus ihnen geworden? sie lösen in Nebel sich auf. Langsam kriecht der Schneckengang meines Lebens von einem Tage zum andern mit mir fort. Was hilft mir Deines Vaters Wohlwollen? der mächtige Schutz Deines Hauses? was hilft es mir sogar, daß, wie Du sagst, der Kaiser, seit jenem seltsamen Zusammentreffen mit ihm, meinen Namen kennt, und gnädig meiner erwähnte? Mein Ziel rückt immer weiter hinaus, ein Wunder nur könnte mich retten, und Wunder geschehen nicht mehr!

Mit bewundernswürdiger Geduld hatte Eugen diese lange Jeremiade seines Freundes bis ans Ende angehört, doch jetzt brach er mit fast strafendem Ernste los: Kleinmüthiger, Verzagter, sprach er, Wunder geschehen nicht mehr! bist Du denn dessen so gewiß? Hast Du den Schleier der Zukunft gelüftet? weißt Du was vielleicht dicht neben Dir sich bereitet? bist Du im Stande genau zu berechnen, was, vielleicht in sehr kurzem, sich Unerwartetes ereignen kann? Sohn unsrer ereignißreichen Zeit, die schon so viele Wunder ihm vorführte, wie darfst Du behaupten, es geschehen keine Wunder mehr!

Mit diesen Worten brach Eugen das Gespräch ab, und wendete der übrigen Gesellschaft sich zu; Richard glaubte zu bemerken, daß er im Verlaufe dieses Abends jede Gelegenheit, es wieder anzuknüpfen, absichtlich vermied.

 

Im vergeblichen Streben, die eigentliche Meinung von Eugens letzten Worten sich zu erklären, brachte Richard eine lange schlaflose Nacht hin, und stand am Morgen mit dem festen Vorsatze auf, die Sonne nicht untergehen zu lassen, ohne diese Erklärung von seinem Freunde erhalten zu haben. Dienstverhältnisse von seiner, andere Verhinderungen von Seiten Eugens, hielten indessen, sehr wider ihren Willen, beide Freunde während mehrerer Tage von einander entfernt; und selbst am letzten von diesen wollte es Richard nur zur ungewohnt späten Abendstunde gelingen, zu Eugen eilen zu können.

Eine ruhige, von jedem Geräusche möglichst entfernte Wohnung, war von jeher, selbst mit Aufopferung mancher andern Bequemlichkeit, Eugens Lieblingswunsch gewesen. Daher hatte er auch in Petersburg, wie früher in Moskau, in einem abgelegenen, vom Hauptgebäude wie von der Straße entfernten Seitenflügel des Palastes seines Vaters seine Zimmer sich gewählt, deren Fenster auf öde, mit hohen Mauern umgebene Höfe hinaus gingen, die fast nie ein menschlicher Fuß betrat. Richard wunderte sich, die Thüre diesmal verschlossen zu finden, was sonst nie der Fall war; auf sein Klopfen wurde ihm zwar gleich geöffnet, und zwar, was als nicht minder ungewöhnlich ihm auffiel, von dem vertrauten Leibjäger des jungen Fürsten, dem einzigen Diener, der in diesem Zimmer sich befand, in welchem es sonst, nach Sitte großer russischer Häuser, von dienstbaren Geistern wimmelte.

Alles schien an diesem Abende ein fremdes, unheimliches Ansehen hier gewonnen zu haben. Fast verlegen stand der ihm sonst so freundlich ergebene Jäger Wladimir vor ihm; er, der in diesem Hause mit seinem jetzigen Herrn und Richard als beider demüthiger Spielkamerad aufgewachsen war, und manche kleine Freiheit sich herausnehmen durfte, wagte es heute kaum ihn seitwärts, mit scheuen verstohlenen Blicken zu betrachten; Richard selbst fühlte sich dadurch beängstigt; er sah schweigend um sich her, und wurde in einer Ecke einen Haufen abgeworfner Mäntel, Säbel, Federhüte und Mützen gewahr, die auf eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft im Zimmer des Fürsten Eugen schließen ließen. Dieses brachte ihn auf den Gedanken, ob er nicht vielleicht hier in eine Gesellschaft gerathen könne, zu welcher ihm der Zugang versagt sei, zu der selbst dieser Diener Bedenken trüge ihn zuzulassen, hier, in den Zimmern seines innigsten Freundes, bei dem Bruder seiner Geliebten! Sein stolzer Sinn fing an sich mächtig zu regen, sein Herz schwoll, Empfindungen wurden in ihm wach, welche bei ähnlichen Anlässen ihn schon oft um so peinlicher gequält hatten, je ängstlicher er sich bemühte, sie aller Welt, wo möglich sich selbst, zu verhehlen. Schon war er im Begriff, hier an der Schwelle umzukehren, um sich nicht vielleicht einer Beleidigung auszusetzen, die er ungeahndet nicht hätte ertragen können, und nur Scheu, einen ihm schmachvoll dünkenden Schritt in Gegenwart des Dieners seines Freundes zu thun, hielt ihn noch zurück. Doch Wladimir schien plötzlich andres Sinnes geworden; mit gewohnter Ehrerbietung näherte er sich geschäftig, ihm den Mantel abzunehmen und öffnete, wie sonst immer, die Thüre zu dem Wohnzimmer seines Herrn. Jetzt erst erinnerte sich Richard, daß Gesellschaften der Art, wie er hier eine anzutreffen gefürchtet hatte, sich zwar nicht selten bei dem Fürsten Andreas und dessen Gemahlin zu versammeln pflegten, aber nie bei den Söhnen derselben. Ohne alles Bedenken trat er jetzt durch die ihm offen stehende Thüre, die gleich, sehr behutsam alles Geräusch vermeidend, hinter ihm geschlossen wurde, und fand abermals zu seiner großen Verwunderung auch hier sich allein, wo er fest darauf gerechnet hatte, seinen Freund anzutreffen.

Doch ein dumpfes Geräusch in dem anstoßenden größern, und deshalb selten gebrauchten Besuchszimmer seines Freundes, schien die Gegenwart mehrerer dort versammelter Personen anzukündigen; von neuem zweifelhaft geworden, ob unbemerkt sich zurückzuziehen nicht noch immer das Gerathenste für ihn wäre, stand er abermals unschlüssig da. Einige bekannte, ihm freundlich tönende Stimmen ließen jetzt aus dem dumpfen Gemurmel der übrigen sich unterscheiden. Richard fing an, der zu reizbaren Furcht vor Verletzung seines Ehrgefühls sich recht herzlich zu schämen; er ging, zwar mit noch immer etwas unsichren Schritten, auf die nur angelehnte Thüre zu; unhörbar leise drehte sie sich in ihren Angeln. Richard stand erstarrt.

Dreißig bis vierzig Männer, einige stehend, andere sitzend, bildeten in zwei- bis dreifachen Reihen einen Kreis rings um den nicht sehr großen, aber doch geräumigen Salon. Die der Thüre zunächst Stehenden waren mit dem Rücken ihr zugewendet, Richard konnte unbemerkt alles überschauen, denn die allgemeine Aufmerksamkeit schien von einem in der Mitte des Kreises befindlichen Gegenstande gefesselt, der für den Augenblick aber ihm noch nicht sichtbar war. Daß ein allgemeiner, sehr großer und ernster, aber auch geheimer Zweck diese Alle hier versammle, war unverkennbar.

Noch war es Zeit, noch konnte Richard unbemerkt, wie er gekommen, sich zurück ziehen. Gern hätte er es gethan; aber ihm gerade gegenüber, in einem Armstuhle sitzend, gewahrte er die ehrfurchtgebietende Gestalt seines Wohlthäters, des Fürsten Andreas; ein unbeschreiblich bängliches Gefühl, eine Ahnung herannahenden Unheils, bemächtigte bei diesem Anblicke sich seiner, und fesselte ihn an den Platz, wo er eben stand.

Doch nicht nur der Fürst selbst, auch dessen Söhne Eugen und Alex, der Fürst Konstantin Nataliens Gemahl, fast alle Verwandte, alle näher Befreundete des Hauses waren zugegen. Nächst diesen viele Männer von anerkannt edlem Charakter aus den geachtetsten und vornehmsten Familien des russischen Reiches, die mehresten unter ihnen Richard wohlbekannt, und zum Theil in näherem freundlichem Verhältnisse ihm zugethan.

Die Gegenwart aller dieser Personen hätte über den Zweck dieser Versammlung ihn füglich beruhigen können; höchstens hätte er eine Berathung über irgend einen jener Lieblingspläne des Fürsten Andreas darunter vermuthet, mit denen dieser sich noch immer gern beschäftigte, und auch seine Söhne dafür zu interessiren sich bemühte; etwa ein Projekt zur Verbreitung höherer Kultur unter dem Volke, oder sonst ein auf die Verbesserung des bürgerlichen Wohlstandes abzweckendes Unternehmen. Aber diesen geliebten und verehrten Gestalten waren auch ihm ebenfalls wohl bekannte andrer Art, wie Unkraut dem Weizen beigemischt. Leute, von denen ihm auch nicht im Traume eingefallen wäre, daß sie jemals hier hätten Zutritt erlangen können, erblickte er, völlig wie einheimisch sich geberdend.

Da stand Einer unter andern, ihm gerade gegenüber, im Hintergrunde des Saales, einige Schritte hinter dem Armstuhle des Fürsten Andreas, ein vielleicht absichtlich gewählter Platz. Richard hätte unbedenklich es beschwören mögen, daß dieser Mann kein andrer sei als der Freund der Frau Marina, der sogenannte Baron vom Pharaotisch. Zwar hatte er den braunen Überrock sammt der grünen Brille abgelegt, auch waren seine Haare bedeutend dunkler; solche leicht auszuführende Veränderungen aber täuschen nicht leicht den aufmerksam beobachtenden Blick eines Unbefangenen.

Andere Figuren, augenscheinlich vom nämlichen Gelichter, befanden sich, wie durch Zufall, einzeln durch alle Reihen der Anwesenden zerstreut; Leute, denen an andern, mitunter ziemlich zweideutigen Orten begegnet zu sein, sich Richard deutlich erinnerte, ohne jedoch ihre Namen zu kennen. Je länger seine Blicke im Saale umherstreiften, je mehr bekannte Gesichter traten ihm entgegen, großentheils namen- und sittenlose junge Leute, dem Trunke, dem Spiele und jeder Ausschweifung ergeben, in deren Umgang er zu seinem großen Leidwesen seinen Freund Iwan verstrickt gefunden; zu seinem höchsten Erstaunen erblickte er sogar einige eifrige Mitglieder und Beförderer jener die Welt verbessernden Gesellschaft in Moskau, in welche er selbst, sehr gegen seinen Willen, durch Iwan verwickelt gewesen, und die er in Petersburg anzutreffen nimmer vermuthet hätte. Wie das alles hier, in Eugens Zimmer, zusammengekommen sei, war und blieb ihm ein unauflösbares Räthsel.

Wenig Minuten waren hinreichend, um alle diese Bemerkungen zu machen; doch überrascht von dem Unerwarteten, war Richard während derselben kaum seines Daseins sich bewußt geblieben. Das Herz klopfte hörbar ihm in der Brust, wild jagte, mit betäubendem Sausen, das Blut durch alle seine Adern; erst als dieser Tumult in seinem Innern sich etwas legte, und er dadurch zu einiger Besinnung gelangte, ward er auf eine Stimme aufmerksam, die bis jetzt in klangloser unverständlicher Monotonie unbeachtet an ihm vorüberrauschte. Eine unter den vor ihm in der Thüre Stehenden zufällig sich bildende kleine Lücke, zeigte ihm in der Mitte des Saales einen mit Schreibmaterialien, Journalen, Broschüren, Mappen und Büchern bedeckten Tisch, und hinter demselben, den Rücken der Thüre und folglich auch ihm zugewendet, einen stattlichen Mann, von militairischem Ansehen, der nach kurzem Ausruhen in diesem Augenblicke den Faden seiner Rede wieder aufnahm.

Vereinte zum Bunde des Heils, ächte getreue Kinder des Vaterlandes, Boyaren, Männer und Brüder, sprach er, ihr habt aus meinem Vortrage jetzt vernommen, daß die aus unsrer Mitte erwählte Elite, bei welcher ich den Vorsitz zu führen gewürdiget worden bin, sich aus hinreichenden Gründen bewogen gefühlt hat, den von einem der getreuesten Söhne des Vaterlandes, Alexander Murawieff ausgegangenen, und von den nicht minder würdigen und getreuen, Obrist Fürst Trubetzkoy und Nikita Murawieff unterstützten Vorschlag, nach reiflicher Überlegung einstimmig als unausführbar zu verwerfen.

Allerdings muß der Gedanke auf den ersten Anblick groß und im blendendsten Glanze erscheinen, unsern neuen Bund für das wahre Heil unsres geliebten heiligen Vaterlandes mit jener, seit Jahrtausenden bestehenden ehrwürdigen Verbindung der Freimaurer, und den unter dem Schleier des tiefsten Geheimnisses allen Ungeweihten verborgnen Gesetzen und Gebräuchen der Loge, zu verbinden und in Einklang zu bringen; aber die Wissenden unter uns, die wenigen Eingeweihten, die tiefer in jene Geheimnisse eingeführt wurden, sind gewiß schon längst durch ernsteres eigenes Nachdenken in ihrem Herzen überzeugt, wie unmöglich dies sei. Durch die eben vorgetragenen Gründe, denen noch mehrere hinzugefügt werden könnten, welche aber alle hier auseinander zu setzen, zu zeitzersplitternd werden möchte, hoffe ich auch meine übrigen Zuhörer, sie mögen nun in jene Geheimnisse theilweise eingeweiht sein oder nicht, über die Unausführbarkeit jenes Vorschlages vollkommen ins Klare gesetzt zu haben.

Der triftigste, alle andern überwiegende, jedem einleuchtende Grund gegen diese, sonst so wünschenswürdige Vereinigung, bleibt immer der, daß jene ehrwürdige Gesellschaft, obgleich über ganz Europa verbreitet, durch ihren Ursprung, ihre innere Einrichtung, ja durch ihre nicht zu umstoßenden Urgesetze, verpflichtet ist, bei ihrer großen Ausdehnung sich dennoch auf eine verhältnißmäßig kleine Anzahl ihrer Verbündeten zu beschränken.