Seit ihrem Zusammentreffen mit dem Kaiser war Julie ihm noch einmal so lieb geworden, und selbst auf Iwan und Richard fiel ein Strahl der von demselben ausgehenden Verklärung zurück.
Ungeachtet des auffallendsten Contrastes in ihrer äußern Erscheinung, hat es doch nie ein besser assortirtes Ehepaar auf der Welt gegeben, als Heinrich Lange und seine kleine Frau. Freilich war sie wenigstens um zehn Jahre jünger als er, doch dieser Unterschied wird in der Ehe allmälig ausgeglichen, weil die Jugendzeit der Frauen zwar weit früher beginnt, als die der Männer, aber auch früher endet. Frau Karoline war das zierlichste, anmuthigste, graziöseste kleine Figürchen, das sich nur erdenken läßt. Von der Natur mit einer ächten Nachtigallstimme ausgestattet, die sie, von einem trefflichen Meister geleitet, auf das glücklichste zu benutzen gelernt hatte, war sie einige Jahre hindurch erst in Deutschland, dann auf dem Theater in Petersburg als erste Sängerin aufgetreten, und hatte überall, wo sie sich nur zeigte, Furore gemacht. Aber sie entsagte sehr früh dem theatralischen Glanze, und ward, zu allgemeinster Verwunderung, die bescheidene Hausfrau der wunderlichsten Figur in der ganzen großen Residenz. Ihr Herz sowohl, als ihr guter Verstand führten sie in die Arme des Mannes, der unter einer nicht eben für ihn einnehmenden Außenseite alle Eigenschaften verbarg, sie zu einer der glücklichsten ihres Geschlechtes zu erheben.
Sie hatte die größte Freude an seinem Talente, liebte was er liebte, that was ihm gefiel, und schalt und zankte alle Tage mit ihm. Nie war sie hübscher, als wenn sie zornig sich zeigte, oder vielmehr, wie es meistens der Fall war, sich stellte als ob sie es wäre, um hinterdrein über seine ungeschickten Entschuldigungen ihn recht herzlich auszulachen. Im Grunde war sie die Gutmüthigkeit, die Fröhlichkeit selbst; witzig, von unverwüstlich guter Laune, voll jener theatralischen Einfälle, Anspielungen, Citationen, die keiner los wird, der jemals, sei es auch nur auf kurze Zeit, die Breter betrat »die die Welt bedeuten.«
Julie Reinert, die dritte Person in diesem fröhlichen Haushalte, war ein gutes unerfahrnes Kind, achtzehn Jahre alt, mit so viel Geist, Mutterwitz und Verstand von der Natur begabt, als solch ein Wesen eben nöthig hat, um mit sich selbst und überhaupt mit dem Leben recht leidlich fertig zu werden. Sie war von ihrer frühesten Kindheit an in Königsberg, im Hause eines ziemlich wohlhabenden Kaufmannes aufgewachsen, der für ihren Vormund galt. Zur Ausbildung einer, etwas spät entdeckten, sehr schönen Stimme von ungewöhnlichem Umfange, wurde sie von diesem nach Petersburg, zu seinem Bruder Heinrich Lange geschickt, wo ihr vom ersten Augenblicke an die herzlichste Aufnahme ward. Um das Miteinanderleben sich gegenseitig zu erleichtern, wurde sie sogleich für Langes Nichte erklärt, und fühlte nach weniger als vierundzwanzig Stunden sich so einheimisch bei diesen freundlichen Leuten, als hätte sie nie in andern Verhältnissen gelebt.
Was nun Juliens Gestalt betrifft, so sei hiemit jeder junge Leser dieser Blätter freundlichst gebeten, ihr einstweilen die der Dame seines Herzens zu leihen; und jede junge Leserin, sich nach dem Portrait der hübschen Julie Reinert in ihrem Spiegel umzusehen.
Ächte, traulich entgegenkommende Gastfreiheit wohnt nicht im reichen üppigen Süden, wo die entnervende Sonnengluth nur die unbeweglichste Ruhe wünschenswerth macht, und der Mensch den Menschen leichter entbehrt, weil jeder fast mühelos sich verschaffen kann, was er zur Erhaltung seines Lebens bedarf. Aber im hohen eisigen Norden ist sie recht eigentlich zu Hause, und jeder Schritt, der den Wandrer diesem Ziele nähert, wird ihm zur Bestätigung dieser Bemerkung dienen können. Die erstarrende Kälte eines unwirthbaren Himmelsstriches bannt dort, wenigstens acht Monate im Jahre, die Bewohner zwischen ihre vier Wände; die langen, fast endlos scheinenden Winternächte, laden unwiderstehlich zur Geselligkeit ein, jeder Besuch wird zum heiteren Feste, der Fremde, der zum erstenmale die Schwelle des gastlichen Hauses betritt, wird wie ein lieber Bekannte empfangen, er wird bei den nächsten Freunden eingeführt, die man eines solchen angenehmen Ereignisses ebenfalls theilhaftig machen möchte, diese beeifern sich ihn wieder ihren Freunden zuzuführen, und es kann nur von seinem Willen und Benehmen abhängen, sich so lange Zeit als Mitglied nicht nur der Familie, deren Gastfreund er ursprünglich war, sondern auch aller mit dieser verbündeter, zu betrachten, als es ihm selbst angenehm oder bequem ist.
Nirgends aber giebt diese, aus den kultivirtesten europäischen Ländern immer mehr verschwindende Tugend auf liebenswürdigere Weise sich kund, als in Petersburg, wo alle Vortheile sich vereinen, die eine große glänzende Residenzstadt nur gewähren kann; wo man nicht nur alle verfeinerten Genüsse des Lebens, sondern auch, und obendrein mit großer Leichtigkeit, alle eigentlichen Bedürfnisse desselben sich verschafft. Auch Heinrich Lange machte in seinem nicht luxuriösen, aber sehr anständig geführten Haushalte, von der allgemein herrschenden Lebensweise keine Ausnahme. Seine Thüre stand täglich allen seinen Freunden offen, und Juliens beide Befreier waren ihm, als solche, ein paar sehr werthe, zwiefach willkommene Gäste.
Für Iwan war die Bekanntschaft mit dieser ausgezeichnet trefflichen Familie von sehr großer Bedeutung, denn seine ganze bisherige Lebensweise erhielt dadurch einen neuen, für ihn höchst vortheilhaften Umschwung. Überall, wo seine zahlreichen Bekannten fast täglich mit Sicherheit darauf rechnen konnten, ihn anzutreffen, wurde er jetzt vergeblich von ihnen aufgesucht; der ihm sonst so gefährliche grüne Tisch, war für ihn gar nicht mehr in der Welt; der enthusiastische Eifer, mit dem er plötzlich dem Studium der deutschen Sprache sich ergab, von der er bis dahin nur einzelne Worte gekannt, und die er jetzt für die ihm unentbehrlichste erklärte, hatte dieses fast unglaublich große Wunder bewirkt.
Dankbarkeit für den ihr geleisteten Beistand, bewog Julie Reinert zu dem etwas schwierigen Unternehmen, seine Lehrerin zu werden; und nun brachte er jede Stunde, welche der Dienst und anderweitige Beschäftigungen ihm Vormittags frei ließen, eifrigst studirend bei ihr zu. Frau Karoline, wie diese gewöhnlich genannt wurde, ging, nebenbei ihren Haushalt besorgend, dabei im Zimmer aus und ein, trat als Oberlehrerin auf, wenn Juliens grammatikalische Kenntnisse nicht ganz zureichen wollten, und half auch schelten, wenn der etwas ungelenke Schüler unachtsam oder zerstreut sich bewies.
Abends pflegte ein nicht großer, aber interessanter Kreis, sich gewöhnlich in diesem Hause zu versammeln, in welchem Iwan niemals fehlte, und den auch Richard oft und gern besuchte. Fremde, ohne Unterschied des Standes, besonders Deutsche, Gelehrte, Künstler und Künstlerinnen, bildeten einen eben so zwanglosen als angenehmen Verein, in welchem jeder das Seine zur allgemeinen Unterhaltung beizutragen suchte. Scherz und Lachen wechselten mit ernsteren und unterrichtenden Gesprächen über die Geschichte des Tages, oder über Kunst und schöne Literatur; doch Musik blieb, wie es denn auch in diesem Hause nicht anders sein konnte, das Hauptelement der Unterhaltung. Karolinens seelenvoller Gesang entzückte den kleinen Kreis ihrer Freunde, wie er früher das große Publikum zu begeisterndem Enthusiasmus aufgeregt hatte; Juliens Lerchenkehle, wie ihr Lehrer Lange sie sehr bezeichnend nannte, wirbelte in silberreinen Tönen; auch fehlte es nie an Tonkünstlern vom ersten Range, die hier zum allgemeinen Ergötzen ihre glänzenden Talente vereinten.
Am Ende eines solchen musikalischen Abends, um welchen die Vornehmsten des großen Reiches den guten Lange mit Recht hätten beneiden mögen, ließ er sich zuweilen erbitten, mit seiner ächten Kapellmeisterstimme, dumpf und klanglos wie ein geborstner Topf, aber durch Vortrag und Ausdruck unwiderstehlich zum Herzen sprechend, ein Lied von Goethe nach Zelters, oder auch wohl von eigner Composition zu singen; »das thut Keiner ihm nach,« flüsterten dann die Meister unter einander; und auch seine eigne Frau gab dieses zu, obgleich sie vor den Leuten ihn lächelnd einen alten Dudelsack schalt.
Auch Richard wurde in diesem gastlichen Hause zum erstenmale in das bürgerliche Leben des gebildeten, wohlhabenden Mittelstandes eingeführt. Bis dahin hatte er in der fürstlichen Familie, in welcher er auferzogen wurde, nur das vornehme, prunkvolle, von Genüssen aller Art übersatte Leben der Großen gekannt; und später, als Gegenstück zu demselben, das völlig zwang- und regellose, mitunter ziemlich wüste Treiben von Iwans Freunden, lauter jungen Männern, die weder durch Familienbande noch Rücksichten in ihrer Freiheit gehemmt, nach eigner Wahl diese benutzten.
Eugen und dessen Bruder Alex, hatten auf ihr dringendes Verlangen, unter Richards Schutz, ebenfalls in diesem Hause Zutritt erhalten, das in musikalischer Hinsicht ihnen Genüsse bot, die sie in glänzenderen Zirkeln vergebens suchen mußten, und für welche beide Brüder viel Sinn hatten. Die Gegenwart der jungen Fürsten brachte in Frau Karolinens häuslicher Einrichtung zwar nicht die mindeste Abänderung oder Störung hervor, denn sie war auch an Gäste dieses Ranges zu gewöhnt, um sich durch sie irren zu lassen; aber sie benahm bei der Einladung derselben sich doch immer sehr vorsichtig, und es gehörte ein Fürsprecher wie Richard war dazu, um die Zurückhaltung, die in dieser Hinsicht Grundsatz bei ihr geworden war, zu überwinden.
Gott behüte in Gnaden unsre kleinen Abendgesellschaften vor dem Unglück, Mode zu werden! sprach sie; dann wäre es bald damit aus und vorbei! Vor all' den Ordensbändern, Sternen und Federhüten würden wir selbst kaum Platz im Hause behalten, denn in Petersburg ist es nicht anders, als in andern großen Städten, wo viele vornehme, reiche und müßige Leute bei einander wohnen, die nicht immer wissen, wo sie mit ihrem Überflusse an Zeit hin sollen.
Eines Abends hatte die Gesellschaft zahlreicher als gewöhnlich sich versammelt; in der heitersten glücklichsten Stimmung waren die berühmtesten der damals in Petersburg anwesenden Tonkünstler alle zugegen, um den Geburtstag ihres Freundes Lange recht festlich zu begehen. Mancherlei musikalische, größtentheils humoristische Excesse, wurden bei dieser Gelegenheit getrieben, bis endlich, ganz unverabredet, eine Art Wettkampf daraus entstand, bei welchem jeder von ihnen alles aufbot, um die wenigen, nicht thätig dabei beschäftigten Zuhörer, in einen Rausch von Entzücken zu versetzen.
Eugen und Richard hatten sich in die entfernteste Ecke des Zimmers zurück gezogen. Schweigend, mit gesenkten Augen, gab der junge Fürst der Gewalt der Töne sich hin. Erst als der letzte verhallte, richtete er sich auf, um seinen bewundernden Beifall laut werden zu lassen; sein Blick fiel zuerst auf Richard; tief gebückt, unbeweglich, beide Hände vor dem Gesicht, saß dieser neben ihm, augenscheinlich in düstre Trauer versunken.
Heimweh ohne Zweck und Ziel, Heimweh eines Heimathslosen! war, von einem tiefen Seufzer begleitet, die kaum hörbar geflüsterte Antwort, welche Eugen auf sein besorgtes Fragen von ihm erhielt.
Eugen blickte staunend ihn an. Ach, hätte ich Rußland nie gesehen! setzte er, gleich einem Träumenden unwillkürlich in sich hinein redend, nach kurzem Schweigen noch hinzu.
Jetzt begann Eugen in der That, ein seinem Freunde widerfahrnes Unglück zu fürchten, und hörte nicht auf mit bittenden Fragen in ihn zu dringen. Richard blickte mit jenem trüben Lächeln zu ihm auf, das weit schmerzlichere Klagen ausspricht, als Thränen es könnten.
Du frägst so mitleidig, was mir geschehen? sprach er sehr leise: ach! nichts und alles, und nicht erst heute oder gestern. Sieh um Dich, so recht mit Deinem innern Auge. Sieh das prunklose, einfache, genußreiche Leben um uns her, betrachte es genau. Sieh und fühle, wie durch des Tages Arbeit und Mühen die Freude des Abends erst zur Freude erhoben wird.
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