Denn ungeachtet der unglaublichen Fortschritte, die dieses, die erste Grenze höherer Kultur erst vor kurzem überschritten habende Volk während des Laufes der letzten hundert Jahre gemacht hat, neigt sein Geschmack sich noch immer mit einer Art kindlicher Naivität dem zu, was die alten Griechen barbarisch zu nennen pflegten.

So suchen nur Eltern ihren Sohn, Geschwister ihren Bruder, über eine nothwendig gewordene Entfernung aus dem väterlichen Hause zu trösten und zugleich ihr Andenken in ihm lebendig zu erhalten: rief es laut in seinem Herzen. Seit über seine wahre Lage ihm die Augen aufgegangen waren, konnte er es sich leider nicht mehr verhehlen, daß er ein Fremdling unter Fremden aufgewachsen sei; doch diese traurige Wahrheit drückte ihn nicht mehr zu Boden; er hatte die Überzeugung gewonnen, geliebt zu sein, und diese erhob ihn wieder; sie tröstete ihn über Alles, was er früher entbehrt hatte, ohne es zu empfinden.

Ungeachtet der vor ihm ausgebreiteten Reichthümer schien Richard aber doch noch etwas zu vermissen; er suchte und suchte mit steigender Ängstlichkeit, bis er endlich auf dem Grunde der Schatulle ein ziemlich zerlesenes Büchelchen fand, eine englische Taschenausgabe des Vicar of Wakefield, und in demselben als Buchzeichen ein Stückchen blaues Silberband. Alles übrige war nun vor seinen Augen verschwunden; die auf dem Tische ausgebreiteten Herrlichkeiten mochten liegen bleiben wie sie lagen, er warf mit seinem Funde sich in den nächsten Sessel, und schien eifrig die unscheinbaren Blätter zu studiren. Ob er wirklich darin las? wer mag das sagen.

Nun, Bruderherz, spielst Du auch hier noch immer den Gelehrten? rief eine tiefe sonore Stimme neben ihm, und ein leichter Schlag auf die Achsel begleitete die Frage. Richard blickte auf; Iwan Yakuchin, Unteroffizier des Regiments, zu welchem auch er von heute an gehörte, stand vor ihm, ein ihm sehr lieber, wenn gleich nicht alter Bekannter; denn Iwan war erst seit wenigen Monaten aus dem südlichern Rußland nach Moskau gekommen.

Er war an Leib und Seele ein roher Diamant, dieser Iwan; ein treues, tapfres, redliches Gemüth, dessen seltnen Werth Richard auf den ersten Blick erkannt hatte; obgleich er weit davon entfernt war, ihn seinem weit höher gebildeten Freunde Eugen gleichzustellen, dessen ganzes Wesen durch die zartesten, innigsten Bande dem Seinigen auf das unzertrennlichste verzweigt war. Iwan aber hatte mit seinem heißen, liebebedürfenden, durch die erste Trennung vom väterlichen Heerde schmerzlich verletzten Herzen, sich an die Brust des Jünglings geworfen, dessen milde edle Erscheinung ihn unwiderstehlich anzog; er war nicht gewohnt, das was in seinem Gemüthe vorging, bis auf gelegenere Zeit weltklug zu verbergen, und Richard war eben so wenig dazu geeignet, eine ihm entgegenstrebende Neigung hart und kalt von sich abzuweisen.

Nicht nur als Kamerad, auch als Nachbar komme ich in dieser späten Stunde Dich zu begrüßen; denn wenn gleich weite Hallen, lange Korridors und einige Höfe zwischen uns liegen, so wohnen wir doch eigentlich unter einem Dach, sprach Iwan und schüttelte treuherzig dem Freunde die Hand. Was bin ich froh, Dich der parfümirten, vornehmen Atmosphäre endlich entronnen zu sehen, in welcher ein geheimes Etwas unser Einem, mir wenigstens, immer den Athem versetzt! fuhr er fort. Jetzt erst, Herzensbrüderchen, wirst Du recht aufleben, wenn Du fühlst und einsiehst, was es sagen will, sich selbst angehören, sich nach eigner Willkür regen und bewegen, frei von den tausend Banden, mit welchen jene Kneesen, Fürsten, oder wie man sie nennen will ...

Vater und Mutter, Brüder und Schwestern, sind, die Du meinst, mir gewesen; sie sind es mir noch, und werden es bleiben, und ich will auf keine Weise sie schelten hören: fiel Richard heftig mit zornblitzenden Augen ihm ein. Und wenn ich sie nie wiedersähe, und wenn sie ihre Hand ganz von mir abzögen, sie bleiben das Kleinod meines Herzens, an dem ich hänge, fester als am eigenen Leben. Habe ich nicht, außer diesem, ihnen alles zu verdanken? und ich will sie nicht verunglimpfen hören, nicht durch den Schatten eines sie herabsetzenden Gedankens.

Nun nun! nun nun! erwiederte Iwan sehr gutmüthig, ereifre Dich nicht, ich meine es ja nicht böse. Ich will mich ja gern fügen, wenn man mir nur das Verständniß öffnet. Ich kenne ja nichts, bin hier noch nagelneu, weiß noch von gar nichts; nicht einmal wer Du eigentlich bist. Als ich auf der Reitbahn zum erstenmale Dich sah, hätte ich Dich beinahe auch für so ein Fürstenkind gehalten. Und vielleicht bist Du es auch, denn hier sieht es doch gewaltig fürstlich aus! rief er plötzlich, indem er jetzt erst den mit glänzenden Geschenken bedeckten Tisch gewahr wurde. Was für Reichthümer! Hilf Gott, dergleichen kommt mir nicht einmal im Traume vor.

Richard, in der noch nicht verklungenen Freude seines Herzens, und zugleich froh dem Gespräch dadurch eine andre Wendung geben zu können, beeiferte sich seinem Freunde mit der größten Gefälligkeit jedes Stück einzeln zu zeigen, und ihm den Gebrauch von manchem derselben zu erklären. Denn der gute Iwan war ein ebenso großer Neuling in Hinsicht dessen, was die elegante Welt unentbehrlich nennt, als des Lebens in und mit ihr. Zugleich nannte Richard bei jedem der Geschenke ihm den Namen des Gebers, und suchte bei einigen derselben ihm begreiflich zu machen, durch welche Nebenbedeutung diese einen unschätzbaren Werth für ihn erhielten. Iwan sah und hörte alles mit der größten Aufmerksamkeit an: Brave Leute, gute Leute, vornehm aber gut, murmelte er dabei in abgebrochnen Sätzen vor sich hin; ja wohl Eltern und Brüder für Dich, mußt sie ehren und lieben, Du kannst nicht anders. Nachdem Iwan alles sattsam betrachtet und bewundert hatte, ausgenommen den Vicar of Wakefield, der ihm nicht gezeigt worden war, und dem er auch wohl kein Interesse abgewonnen hätte, setzten beide Freunde in immer traulicher werdendem Gespräch sich zu einander hin. Iwan erzählte von seinen früheren Verhältnissen; von seinem alten Vater, einem wackern Landmanne am Fuße des Kaukasus, von seiner fleißigen, noch im höheren Alter im Haushalte rührigen Mutter; von seinen vielen Schwestern und Brüdern, sogar von seinen vielen Hunden, die er alle hatte daheim lassen müssen, und nur einen mitnehmen dürfen. Er war so jung, so einfach auferzogen, hatte so weniges erlebt, daß ihm alles bedeutend erschien. Auch Richarden ging, in der Stille der Nacht, das ohnehin sehr bewegte Herz auf; auch er ergoß sich in offnem Vertrauen gegen seinen Freund; und als Iwan zu später Nachtzeit ihn verließ, konnte er nicht mehr darüber klagen, daß er nicht wisse, wer Richard eigentlich sei.

 

Sally! mach' endlich Feierabend: setz' Dich zu mir, und lass' uns unser Butterbrod und unsern Krug Porter gemüthlich mit einander verzehren, ich habe viel Neues Dir mitzutheilen, und mich über mancherlei mit Dir zu berathen.

So ungefähr hatte zwölf oder dreizehn Jahre vor jenem Abende in dem kleinen englischen Fabrikstädtchen Nottingham, Master Wood, ein guter ehrlicher Strumpf-Fabrikant, seiner noch in ihrem Haushalt beschäftigten Ehefrau zugerufen.

Ohne diesen letzten Zusatz hätte Mißtreß Wood ihren lieben Herrn und Gebieter wohl noch ein halbes Stündchen warten lassen. Zwar waren die Kinder schon zu Bette gebracht, die Taubenpastete für den morgenden Sabbath, dieses größte Festtagsgericht der englischen Kleinbürger, war bis zum Abbacken fertig, die Rhabarber-Torte ebenfalls, die Keine so trefflich zu bereiten wußte als sie: es war jedoch Sonnabend, am folgenden Tage wurden einige Gäste aus der Nachbarschaft erwartet, und die ordnungsliebende Hausfrau hätte gar zu gern vor Schlafengehen noch dieses und jenes besorgt.

Aber Master Wood hatte ihr Neues zu erzählen, und verlangte obendrein ihren Rath, ein Fall der sich nicht oft ereignete; was in aller Welt konnte das bedeuten! dieser Gedanke besiegte jede ihrer Bedenklichkeiten. In aller Geschwindigkeit warf sie noch eine Hand voll Cayenne-Pfeffer in die Pastete, band ihre Küchenschürze ab, rückte vor dem Spiegel ihre Haube zurecht, und saß nach zwei Minuten mit dem allerfreundlichsten erwartungsvollsten Gesicht neben ihrem Mann, an dem bereits gedeckten Abendtisch.

Beide befanden sich in jener heitern zufriednen Stimmung, wie sie der in England dem stillen Genusse häuslichen Wohlbefindens besonders geweihte Samstagabend erfordert, dieser freundliche Vorläufer des ernsteren, halb dem Gottesdienst, halb der Langenweile gewidmeten Sonntags. Master Wood hatte, wie der pünktliche Geschäftsmann an diesem Tage immer that, seinen Arbeitern ihren Lohn ausgezahlt, seine Wochenrechnungen abgeschlossen, und war mit dem Ertrage derselben zufrieden. Mißtreß Wood freute sich auf die einer arbeitsvollen Woche folgende Sonntagsruhe, auf den morgen zu erwartenden Besuch ihrer Verwandten, auf das neue Bonnet, mit welchem sie in der Kirche zu erscheinen gedachte. Mann und Frau waren gute, redliche, fleißige Leute, denen es, bei ziemlich beschränkten Mitteln, nicht leicht wurde, sich und ihre vierzehn Kinder anständig und ehrlich durch die Welt zu bringen, von denen das älteste achtzehn, das jüngste anderthalb Jahre alt war.

Solche zahlreiche Familien sind indessen in Großbritannien, besonders beim Mittelstande, nichts Ungewöhnliches; und das Ehepaar war mit seiner Lage ganz zufrieden. Der Hausvater hätte freilich gern, durch einige Vermehrung seines Kapitals, seinem Geschäft eine größere Ausdehnung gegeben; war aber doch herzlich froh, wenn bei möglichstem Fleiß von seiner, bei möglichster Sparsamkeit von seiner Frau Seite, es am Ende des Jahres ihm gelang, beide Enden zusammenzubringen, wie er es nannte; das heißt, wenn seine Ausgaben seine Einnahme nicht überstiegen. War er aber vollends so glücklich gewesen eine kleine Summe erübrigt zu haben, die er zu seinem Kapital schlagen konnte, so hätte er in dem Augenblicke gewiß nicht mit dem Lord Mayor von London getauscht.

Nach Beendigung des frugalen Mahles zog Master Wood, mit einiger Umständlichkeit, einen dicken Brief hervor, und machte Anstalt ihn seiner Frau vorzulesen; denn kein Engländer wird während der Mahlzeit von Geschäften sprechen; auch hatte Mißtreß Wood äußerlich ganz gelassen, wenn gleich vor innerer Ungeduld brennend, diesen Zeitpunkt abgewartet. Das Schreiben war von einem bedeutenden Correspondenten ihres Mannes, dem reichen und angesehenen Strumpfhändler Smith in London und der Anfang desselben kam der guten Frau zwar ganz angenehm, aber keinesweges besonders merkwürdig oder interessant vor.