Er schlang es um den Hals und ließ die langen Zipfel fliegen; auch stellte er zum erstenmal den
Hemdkragen, den er sonst immer umgeschlagen, ehrbar und männlich in die Höhe, bis über die Ohren hinauf, in einer Anwandlung
ländlichen Stolzes, und machte sich dann, seine Schuhe in der Brusttasche des Rockes, schon nach sieben Uhr auf den Weg. Als
er die Stube verließ, drängte ihn ein seltsames Gefühl, Vater und Mutter die Hand zu geben, und auf der Straße sah er sich
noch einmal nach dem Hause um. »Ich glaube am Ende«, sagte Manz, »der Bursche streicht irgendeinem Weibsbild nach; das hätten
wir gerade noch nötig!« Die Frau sagte: »O wollte Gott! daß er vielleicht ein Glück machte! das täte dem armen Buben gut!«
– »Richtig!« sagte der Mann, »das fehlt nicht! das wird ein himmlisches Glück geben, wenn er nur erst an eine solche Maultasche
zu geraten das Unglück hat! das täte dem armen Bübchen gut! natürlich!«
Sali richtete seinen Schritt erst nach dem Flusse zu, wo er Vrenchen erwarten wollte; aber unterweges ward er andern Sinnes
und ging gradezu ins Dorf, um Vrenchen im Hause selbst abzuholen, weil es ihm zu lang währte bis halb elf. Was kümmern uns
die Leute! dachte er. Niemand hilft uns und ich bin ehrlich und fürchte niemand! So trat er unerwartet in Vrenchens Stube
und ebenso unerwartet fand er es schon vollkommen angekleidet und geschmückt dasitzen und der Zeit harren, wo es gehen könne,
nur die Schuhe fehlten ihm noch. Aber Sali stand mit offenem Munde still in der Mitte der Stube, als er das Mädchen erblickte,
so schön sah es aus. Es hatte nur ein einfaches Kleid an von blaugefärbter Leinwand, aber dasselbe war frisch und sauber und
saß ihm sehr gut um den schlanken Leib. Darüber trug es ein schneeweißes Musselinhalstuch und dies war der ganze Anzug. Das
braune gekräuselte Haar war sehr wohl geordnet und die sonst so wilden Löckchen lagen nun fein und lieblich um den Kopf, da
Vrenchen seit vielen Wochen fast nicht aus dem Hause gekommen, so war seine Farbe zarter und durchsichtiger geworden, so wie
auch vom Kummer; aber in diese Durchsichtigkeit goß jetzt die Liebe und die Freude ein Rot um das andere, und an der Brust
trug es einen schönen Blumenstrauß von Rosmarin, Rosen und prächtigen Astern. Es saß am offenen Fenster und atmete still und
hold die frisch durchsonnte Morgenluft; wie es aber Sali erscheinen sah, streckte es ihm beide hübsche Arme entgegen, welche
vom Ellbogen an bloß waren, und rief. »Wie recht hast du, daß du schon jetzt und hierher kommst! Aber hast du mir Schuhe gebracht?
Gewiß? Nun steh ich nicht auf, bis ich sie anhabe!« Er zog die ersehnten aus der Tasche und gab sie dem begierigen schönen
Mädchen; es schleuderte die alten von sich, schlüpfte in die neuen und sie paßten sehr gut. Erst jetzt erhob es sich vom Stuhl,
wiegte sich in den neuen Schuhen und ging eifrig einigemal auf und nieder. Es zog das lange blaue Kleid etwas zurück und beschaute
wohlgefällig die roten wollenen Schleifen, welche die Schuhe zierten, während Sali unaufhörlich die feine reizende Gestalt
betrachtete, welche da in lieblicher Aufregung vor ihm sich regte und freute. »Du beschaust meinen Strauß?« sagte Vrenchen,
»hab ich nicht einen schönen zusammengebracht? Du mußt wissen, dies sind die letzten Blumen, die ich noch aufgefunden in dieser
Wüstenei. Hier war noch ein Röschen, dort eine Aster, und wie sie nun gebunden sind, würde man es ihnen nicht ansehen, daß
sie aus einem Untergange zusammengesucht sind! Nun ist es aber Zeit, daß ich fortkomme, nicht ein Blümchen mehr im Garten
und das Haus auch leer!« Sali sah sich um und bemerkte erst jetzt, daß alle Fahrhabe, die noch dagewesen, weggebracht war.
»Du armes Vreeli!« sagte er, »haben sie dir schon alles genommen?« – »Gestern«, erwiderte es, »haben sie's weggeholt, was
sich von der Stelle bewegen ließ, und mir kaum mehr mein Bett gelassen. Ich hab's aber auch gleich verkauft und hab jetzt
auch Geld, sieh!« Es holte einige neu glänzende Talerstücke aus der Tasche seines Kleides und zeigte sie ihm. »Damit«, fuhr
es fort, »sagte der Waisenvogt, der auch hier war, solle ich mir einen Dienst suchen in einer Stadt und ich solle mich heute
gleich auf den Weg machen!« – »Da ist aber auch gar nichts mehr vorhanden«, sagte Sali, nachdem er in die Küche geguckt hatte,
»ich sehe kein Hölzchen, kein Pfännchen, kein Messer! Hast du denn auch nicht zu Morgen gegessen?« »Nichts!« sagte Vrenchen,
»ich hätte mir etwas holen können, aber ich dachte, ich wolle lieber hungrig bleiben, damit ich recht viel essen könne mit
dir zusammen, denn ich freue mich so sehr darauf, du glaubst nicht, wie ich mich freue!« – »Wenn ich dich nur anrühren dürfte«,
sagte Sali, »so wollte ich dir zeigen, wie es mir ist, du schönes, schönes Ding!« – »Du hast recht, du würdest meinen ganzen
Staat verderben, und wenn wir die Blumen ein bißchen schonen, so kommt es zugleich meinem armen Kopf zugut, den du mir übel
zuzurichten pflegst!« – »So komm, jetzt wollen wir ausrücken!« – »Noch müssen wir warten, bis das Bett abgeholt wird; denn
nachher schließe ich das leere Haus zu und gehe nicht mehr hierher zurück! Mein Bündelchen gebe ich der Frau aufzuheben, die
das Bett gekauft hat.« Sie setzten sich daher einander gegenüber und warteten; die Bäuerin kam bald, eine vierschrötige Frau
mit lautem Mundwerk, und hatte einen Burschen bei sich, welcher die Bettstelle tragen sollte. Als diese Frau Vrenchens Liebhaber
erblickte und das geputzte Mädchen selbst, sperrte sie Maul und Augen auf, stemmte die Arme unter und schrie: »Ei sieh da,
Vreeli! Du treibst es ja schon gut! Hast einen Besucher und bist gerüstet wie eine Prinzeß?« »Gelt aber!« sagte Vrenchen freundlich
lachend, »wißt Ihr auch, wer das ist?« – »Ei, ich denke, das ist wohl der Sali Manz? Berg und Tal kommen nicht zusammen, sagt
man, aber die Leute! Aber nimm dich doch in acht, Kind, und denk, wie es euren Eltern ergangen ist!« – »Ei, das hat sich jetzt
gewendet und alles ist gut geworden«, erwiderte Vrenchen lächelnd und freundlich mitteilsam, ja beinahe herablassend, »seht,
Sali ist mein Hochzeiter!« – »Dein Hochzeiter! was du sagst!« – »Ja, und er ist ein reicher Herr, er hat hunderttausend Gulden
in der Lotterie gewonnen! Denket einmal, Frau!« Diese tat einen Sprung, schlug ganz erschrocken die Hände zusammen und schrie:
»Hund – hunderttausend Gulden!« – »Hunderttausend Gulden!« versicherte Vrenchen ernsthaft. – »Herr du meines Lebens! Es ist
aber nicht wahr, du lügst mich an, Kind!« – »Nun, glaubt was Ihr wollt!« – »Aber wenn es wahr ist und du heiratest ihn, was
wollt ihr denn machen mit dem Gelde? Willst du wirklich eine vornehme Frau werden?« – »Versteht sich, in drei Wochen halten
wir die Hochzeit!« – »Geh mir weg, du bist eine häßliche Lügnerin!« – »Das schönste Haus hat er schon gekauft in Seldwyl mit
einem großen Garten und Weinberg; Ihr müßt mich auch besuchen, wenn wir eingerichtet sind, ich zähle darauf!« »Allweg, du
Teufelshexlein, was du bist!« – »Ihr werdet sehen, wie schön es da ist! Einen herrlichen Kaffee werde ich machen und Euch
mit feinem Eierbrot aufwarten, mit Butter und Honig!« – »O du Schelmenkind! zähl drauf, daß ich komme!« rief die Frau mit
lüsternem Gesicht und der Mund wässerte ihr. »Kommt Ihr aber um die Mittagszeit und seid ermüdet vom Markt, so soll Euch eine
kräftige Fleischbrühe und ein Glas Wein immer parat stehen!« – »Das wird mir baß tun!« – »Und an etwas Zuckerwerk oder weißen
Wecken für die lieben Kinder zu Hause soll es Euch auch nicht fehlen!« »Es wird mir ganz schmachtend!« – »Ein artiges Halstüchelchen
oder ein Restchen Seidenzeug oder ein hübsches altes Band für Eure Röcke oder ein Stück Zeug zu einer neuen Schürze wird gewiß
auch zu finden sein, wenn wir meine Kisten und Kasten durchmustern in einer vertrauten Stunde!« Die Frau drehte sich auf den
Hacken herum und schüttelte jauchzend ihre Röcke. »Und wenn Euer Mann ein vorteilhaftes Geschäft machen könnte mit einem Land-
oder Viehhandel und er mangelt des Geldes, so wißt Ihr, wo Ihr anklopfen sollt. Mein lieber Sali wird froh sein, jederzeit
ein Stück Bares sicher und erfreulich anzulegen! Ich selbst werde auch etwa einen Sparpfennig haben, einer vertrauten Freundin
beizustehen!« Jetzt war der Frau nicht mehr zu helfen, sie sagte gerührt: »Ich habe immer gesagt, du seist ein braves und
gutes und schönes Kind! Der Herr wolle es dir wohl ergehen lassen immer und ewiglich und es dir gesegnen, was du an mir tust!«
– »Dagegen verlange ich aber auch, daß Ihr es gut mit mir meint!« – »Allweg kannst du das verlangen!« – »Und daß Ihr jederzeit
Eure Waren, sei es Obst, seien es Kartoffeln, sei es Gemüse, erst zu mir bringet und mir anbietet, ehe Ihr auf den Markt gehet,
damit ich sicher sei, eine rechte Bäuerin an der Hand zu haben, auf die ich mich verlassen kann! Was irgendeiner gibt für
die Ware, werde ich gewiß auch geben mit tausend Freuden, Ihr kennt mich ja! Ach, es ist nichts Schöneres als wenn eine wohlhabende
Stadtfrau, die so ratlos in ihren Mauern sitzt und doch so vieler Dinge benötigt ist, und eine rechtschaffene ehrliche Landfrau,
erfahren in allem Wichtigen und Nützlichen, eine gute und dauerhafte Freundschaft zusammen haben! Es kommt einem zugut in
hundert Fällen, in Freud und Leid, bei Gevatterschaften und Hochzeiten, wenn die Kinder unterrichtet werden und konfirmiert,
wenn sie in die Lehre kommen und wenn sie in die Fremde sollen! Bei Mißwachs und Überschwemmungen, bei Feuersbrünsten und
Hagelschlag, wofür uns Gott behüte!« – »Wofür uns Gott behüte!« sagte die gute Frau schuchzend und trocknete mit ihrer Schürze
die Augen; »welch ein verständiges und tiefsinniges Bräutlein bist du, ja, dir wird es gut gehen, da müßte keine Gerechtigkeit
in der Welt sein! Schön, sauber, klug und weise bist du, arbeitsam und geschickt zu allen Dingen! Keine ist feiner und besser
als du, in und außer dem Dorfe, und wer dich hat, der muß meinen, er sei im Himmelreich, oder er ist ein Schelm und hat es
mit mir zu tun. Hör, Sali! daß du nur recht artlich bist mit meinem Vreeli, oder ich will dir den Meister zeigen, du Glückskind,
das du bist, ein solches Röslein zu brechen!« – »So nehmt jetzt auch hier noch mein Bündel mit, wie Ihr mir versprochen habt,
bis ich es abholen lassen werde! Vielleicht komme ich aber selbst in der Kutsche und hole es ab, wenn Ihr nichts dagegen habt!
Ein Töpfchen Milch werdet Ihr mir nicht abschlagen alsdann, und etwa eine schöne Mandeltorte dazu werde ich schon selbst mitbringen!«
– »Tausendskind! Gib her den Bündel!« Vrenchen lud ihr auf das zusammengebundene Bett, das sie schon auf dem Kopfe trug, einen
langen Sack, in welchen es sein Plunder und Habseliges gestopft, so daß die arme Frau mit einem schwankenden Turme auf dem
Haupte dastand. »Es wird mir doch fast zu schwer auf einmal«, sagte sie, »könnte ich nicht zweimal dran machen?« »Nein nein!
wir müssen jetzt augenblicklich gehen, denn wir haben einen weiten Weg, um vornehme Verwandte zu besuchen, die sich jetzt
gezeigt haben, seit wir reich sind! Ihr wißt ja, wie es geht!« – »Weiß wohl! so behüt dich Gott und denk an mich in deiner
Herrlichkeit!«
Die Bäuerin zog ab mit ihrem Bündelturme, mit Mühe das Gleichgewicht behauptend, und hinter ihr drein ging ihr Knechtchen,
das sich in Vrenchens einst buntbemalte Bettstatt hineinstellte, den Kopf gegen den mit verblichenen Sternen bedeckten Himmel
derselben stemmte und, ein zweiter Simson, die zwei vorderen zierlich geschnitzten Säulen faßte, welche diesen Himmel trugen.
Als Vrenchen, an Sali gelehnt, dem Zuge nachschaute und den wandelnden Tempel zwischen den Gärten sah, sagte es: »Das gäbe
noch ein artiges Gartenhäuschen oder eine Laube, wenn man's in einen Garten pflanzte, ein Tischen und ein Bänklein drein stellte
und Winden drum herumsäete! Wolltest du mit darin sitzen, Sali?« – »Ja, Vreeli! besonders wenn die Winden aufgewachsen wären!«
»Was stehen wir noch?« sagte Vrenchen, »nichts hält uns mehr zurück!« »So komm und schließ das Haus zu! Wem willst du denn
den Schlüssel übergeben?« Vrenchen sah sich um. »Hier an die Helbart wollen wir ihn hängen; sie ist über hundert Jahr in diesem
Hause gewesen, habe ich den Vater oft sagen hören, nun steht sie da als der letzte Wächter!« Sie hingen den rostigen Hausschlüssel
an einen rostigen Schnörkel der alten Waffe, an welcher die Bohnen rankten, und gingen davon. Vrenchen wurde aber bleicher
und verhüllte ein Weilchen die Augen, daß Sali es führen mußte, bis sie ein Dutzend Schritte entfernt waren. Es sah aber nicht
zurück. »Wo gehen wir nun zuerst hin?« fragte es. »Wir wollen ordentlich über Land gehen«, erwiderte Sali, »wo es uns freut
den ganzen Tag, uns nicht übereilen, und gegen Abend werden wir dann schon einen Tanzplatz finden!« – »Gut!« sagte Vrenchen,
»den ganzen Tag werden wir beisammen sein und gehen, wo wir Lust haben. Jetzt ist mir aber elend, wir wollen gleich im andern
Dorf einen Kaffee trinken!« – »Versteht sich!« sagte Sali, »mach nur, daß wir aus diesem Dorf wegkommen!«
Bald waren sie auch im freien Felde und gingen still nebeneinander durch die Fluren; es war ein schöner Sonntagmorgen im September,
keine Wolke stand am Himmel, die Höhen und die Wälder waren mit einem zarten Duftgewebe bekleidet, welches die Gegend geheimnisvoller
und feierlicher machte, und von allen Seiten tönten die Kirchenglocken herüber, hier das harmonische tiefe Geläute einer reichen
Ortschaft, dort die geschwätzigen zwei Bimmelglöcklein eines kleinen armen Dörfchens.
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