Dann zog er in eiliger, aufgeregter Weise eine Brieftasche aus Maroquinleder aus der Seitentasche seines Überrockes. Er wog sie argwöhnisch in seiner Hand und betrachtete sie dann mit einem Ausdruck höchster Überraschung, als erstaune ihn ihr Gewicht. Endlich öffnete er sie und entnahm ihr einen riesigen Brief, der mit rotem Wachs gesiegelt und mit einem Bändchen von derselben Farbe sorgfältig zusammengebunden war, und ließ ihn gerade vor die Füße des Bürgermeisters Superbus van Underduk hinabfallen.
Seine Exzellenz bückte sich, um ihn aufzuheben. Der Aeronaut jedoch, der sich noch immer in großer Unruhe zu befinden schien und auch wohl weiter keine Geschäfte in Rotterdam zu verrichten hatte, traf eilfertig seine Veranstaltungen zur Abfahrt. Da er wieder Ballast auswerfen mußte, um steigen zu können, so fiel ein halb Dutzend Sandsäcke, die er, ohne sich die Mühe zu geben, sie zu leeren, einfach herunterwarf, dem unglückseligen Bürgermeister auf den Buckel und kugelte ihn nicht weniger als ein halbdutzendmal vor den Augen von ganz Rotterdam um und um.
Man muß nun nicht glauben, daß sich der große Underduk diese Impertinenzen des kleinen alten Mannes gefallen ließ. Im Gegenteil, man erzählt, daß er während der sechs Umdrehungen nicht weniger als ein halbes Dutzend wütender Dampfwolken aus seiner Pfeife blies, die er während der ganzen Zeit aus aller Kraft zwischen den Zähnen festhielt, und – so Gott will – bis zum Tage seines Todes festhalten wird.
Mittlerweile erhob sich der Ballon wie eine Lerche, schwebte hoch über der Stadt und verschwand endlich ruhig hinter einer Wolke, die der, hinter welcher er hervorgekommen, ganz ähnlich war, und wurde so den staunenden Augen der guten Bürger auf immer entzogen. Nun richtete sich die ganze Aufmerksamkeit auf den Brief, dessen Ankunft oder vielmehr dessen Begleitumstände sich so umstürzlerisch gegen die würdige Person Seiner Exzellenz van Underduk gerichtet.
Der hohe Beamte hatte jedoch während seiner kreisförmigen Bewegungen nicht vergessen, die Epistel in Sicherheit zu bringen, die, wie sich bald herausstellte, in die richtigen Hände gelangt war, da sie an ihn selbst und den Professor Rubadub in ihrer Eigenschaft als Präsident und Vizepräsident des Rotterdamer Astronomischen Kollegiums adressiert war. Er wurde von den beiden Würdenträgern auf der Stelle geöffnet und enthielt folgende höchst seltsame und bei Gott höchst bedeutungsvolle Mitteilung:
›An Ihre Exzellenzen
van Underduk und Sternekiek,
Präsident und Vize-Präsident des staatlichen Kollegiums für Astronomie in der Stadt Rotterdam,
Eure Exzellenzen erinnern sich vielleicht noch eines bescheidenen Handwerkers Namens Hans Pfaall, seines Zeichens Blasebalgflicker, der mit drei anderen vor ungefähr fünf Jahren unaufgeklärterweise aus Rotterdam verschwand. Wenn es Euren Exzellenzen gefällt – ich, der Schreiber dieser Mitteilung, bin Hans Pfaall selbst. Es ist jedem meiner Mitbürger wohl bekannt, daß ich vierzig Jahre lang, bis zum Tage meines Verschwindens, das kleine Ziegelhaus am Anfang des Sauerkrautgäßchens inne hatte. Meine Voreltern haben seit undenklichen Zeiten in demselben gelebt – sie alle gingen, wie ich, dem ehrenwerten und einträglichen Handwerk des Bälgeflickens nach; und es gab wahrhaftig bis vor wenigen Jahren, als die Politik noch nicht in allen Köpfen spukte, keinen Erwerb, den sich ein ehrlicher Bürger lieber hätte wünschen mögen. Der Kredit war gut, das Geschäft ging flott, und es fehlte weder an Geld noch an gutem Willen. Doch wie ich schon sagte, wir begannen bald die Wirkungen der Freiheit, langer Reden, des Radikalismus und ähnlicher Sachen zu spüren. Leute, die sonst die besten Kunden von der Welt gewesen, hatten jetzt nicht einen Augenblick Zeit mehr, um an uns zu denken. Sie mußten den ganzen Tag von Revolutionen lesen, um mit der Entwickelung des Verstandes und dem Geiste der Zeit Schritt halten zu können. Wenn ein Feuer geschürt werden sollte, so fächelten sie es rasch mit einer Zeitung. Je schwächer die Regierung wurde, desto stärker wurde meine Überzeugung, daß Leder und Eisen immer unzerstörbarer wurden, – denn in sehr kurzer Zeit gab es in ganz Rotterdam keinen Blasebalg mehr, der einen Flicken oder einen Schlag mit dem Hammer nötig gehabt hätte. Das war doch ein unhaltbarer Zustand, wenigstens konnte ich mich nicht in demselben halten. Ich war bald so arm wie eine – na! natürlich Kirchenmaus, und da ich eine Frau und Kinder zu ernähren hatte, erschien mir das Leben nach kurzer Zeit unerträglich und ich dachte manchmal darüber nach, wie ich ihm am besten ein Ende machen könne.
Meine Herren Gläubiger ließen mir jedoch nur wenig Muße zum Nachdenken. Mein Haus war vom Morgen bis zum Abend buchstäblich belagert. Besonders drei Burschen quälten mich über alle Menschenmöglichkeit, hielten beständig an meiner Tür Wache und drohten mit dem Gesetz. Diesen dreien gelobte ich Rache, sobald sie mir nur mal in die Finger geraten würden. Und ich glaube, nur der Gedanke an diesen meinen Triumph verhinderte, daß ich meinen Selbstmordplan, mir eine Kugel durch den Kopf zu jagen, sofort ausführte.
Mittlerweile hielt ich es für das beste, meine Wut zu verbergen und sie mit guten Worten und Versprechungen so lange hinzuhalten, bis mir irgendwelche glücklichen Umstände eine Gelegenheit zur Rache bieten würden.
Eines Tages, als ich ihnen gerade wieder einmal entwischt war, irrte ich, niedergeschlagener als je, ziellos durch verborgene Straßen, bis ich mich endlich zufällig an der Krambude eines Buchhändlers fürchterlich stieß. Ich sah einen Stuhl in der Nähe, in den ich mich verbittert hineinwarf, und öffnete, ohne recht zu wissen warum, das erste beste Buch, das mir in die Hand kam. Es war eine kleine Abhandlung über die spekulative Astronomie und entweder von dem Professor Encke aus Berlin oder von einem Franzosen mit ähnlichem Namen geschrieben. Ich hatte schon einen kleinen Schimmer von dieser Wissenschaft und las das Bändchen zweimal durch, ehe ich mich wieder auf das, was um mich herum vorging, besinnen konnte.
Mittlerweile war es dunkel geworden, und ich lenkte meine Schritte heimwärts. Doch hatte die Abhandlung in Verbindung mit der Mitteilung einer wichtigen Entdeckung auf pneumatischem Gebiete, die mir vor kurzer Zeit ein Vetter aus Nantes unter dem Siegel der Verschwiegenheit gemacht, einen unauslöschlichen Eindruck auf mich ausgeübt. Und während ich so durch die dämmerigen Straßen schlenderte, ließ ich die seltsamen und zum Teil unverständlichen Schlüsse des Autors sorgfältig noch einmal vor meinem Gedächtnisse dahinziehen. Einige Stellen wirkten außerordentlich stark auf meine Phantasie; je länger ich über sie nachgrübelte, desto stärker wurde das Interesse, das sie in mir erregten. Meine im allgemeinen sehr beschränkte Bildung und meine in der Naturlehre ganz besonders große Unwissenheit zerstörten in mir doch nicht die Hoffnung, das, was ich gelesen, auch einmal verstehen zu können, und machten mich gegen die unbestimmten Gedanken, die mir während der Lektüre gekommen, durchaus nicht mißtrauisch, waren im Gegenteil meiner Phantasie nur ein mächtiger Antrieb.
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