Sämtliche Werke


 FRANZ KAFKA: Sämtliche Werke, Band I

 

 

Von Franz Kafka

Deutscher Literaturhaus-Verlag

© 2011

INHALTSVERZEICHNIS

 

Amerika

Der Heizer

Der Onkel

Ein Landhaus bei New York

Weg nach Ramses

Hotel Occidental

Der Fall Robinson

Ein Asyl

Das Naturtheater von Oklahoma

Fragmente

Aphorismen

Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg

Er

Auf der Galerie

Blumfeld, ein älterer Junggeselle

Brief an den Vater

Das Schloß

Das erste Kapitel

Das zweite Kapitel

Das dritte Kapitel

Das vierte Kapitel

Das fünfte Kapitel

Das sechste Kapitel

Das siebente Kapitel

Das achte Kapitel

Das neunte Kapitel

Das zehnte Kapitel

Das elfte Kapitel

Das zwölfte Kapitel

Das dreizehnte Kapitel

Das vierzehnte Kapitel

Das fünfzehnte Kapitel

Das sechzehnte Kapitel

Das siebzehnte Kapitel

Das achtzehnte Kapitel

Das neunzehnte Kapitel

Das zwanzigste Kapitel

Das Urteil

Der Bau

Der Gruftwächter

Der Prozeß

1. Kapitel: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner

2. Kapitel: Erste Untersuchung

3. Kapitel: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien

4. Kapitel: Die Freundin des Fräulein Bürstner

5. Kapitel: Der Prügler

6. Kapitel: Der Onkel - Leni

7. Kapitel: Advokat - Fabrikant - Maler

8. Kapitel: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten

9. Kapitel: Im Dom

10. Kapitel: Ende

Die Verwandlung

Erzählungen

Auf der Galerie

Betrachtung (1913)

Das Schweigen der Sirenen

Das Urteil

Das nächste Dorf

Der Geier

Der Jäger Gracchus

Der Kübelreiter

Der Schlag ans Hoftor

Ein Bericht für eine Akademie

Ein Hungerkünstler

Fürsprecher

Nachts

Von den Gleichnissen

In der Strafkolonie

Kleine Fabel

Verschiedenes

Beim Bau der Chinesischen Mauer

Der Riesenmaulwurf

Die Wahrheit über Sancho Pansa

Eine alltägliche Verwirrung

Eine kleine Frau

Erstes Leid

Forschungen eines Hundes

Heimkehr

Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse

Prometheus

Rede über die jiddische Sprache

Vom Scheintod

 

ILLUSTRATIONEN

 


 


 


 


 



 



 


 

 


 


Amerika

 


 

Der Heizer

 

Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.

>So hoch!< sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehen dachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben.

Ein junger Mann, mit dem er während der Fahrt flüchtig bekannt geworden war, sagte im Vorübergehen: »Ja, haben Sie denn noch keine Lust, auszusteigen?« »Ich bin doch fertig«, sagte Karl, ihn anlachend, und hob aus Übermut, und weil er ein starker Junge war, seinen Koffer auf die Achsel. Aber wie er über seinen Bekannten hinsah, der ein wenig seinen Stock schwenkend sich schon mit den andern entfernte, merkte er bestürzt, daß er seinen eigenen Regenschirm unten im Schiff vergessen hatte. Er bat schnell den Bekannten, der nicht sehr beglückt schien, um die Freundlichkeit, bei seinem Koffer einen Augenblick zu warten, überblickte noch die Situation, um sich bei der Rückkehr zurechtzufinden, und eilte davon. Unten fand er zu seinem Bedauern einen Gang, der seinen Weg sehr verkürzt hätte, zum erstenmal versperrt, was wahrscheinlich mit der Ausschiffung sämtlicher Passagiere zusammenhing, und mußte Treppen, die einander immer wieder folgten, durch fortwährend abbiegende Korridore, durch ein leeres Zimmer mit einem verlassenen Schreibtisch mühselig suchen, bis er sich tatsächlich, da er diesen Weg nur ein- oder zweimal und immer in größerer Gesellschaft gegangen war, ganz und gar verirrt hatte. In seiner Ratlosigkeit und da er keinen Menschen traf und nur immerfort über sich das Scharren der tausend Menschenfüße hörte und von der Ferne, wie einen Hauch, das letzte Arbeiten der schon eingestellten Maschinen merkte, fing er, ohne zu überlegen, an eine beliebige kleine Tür zu schlagen an, bei der er in seinem Herumirren stockte.

»Es ist ja offen«, rief es von innen, und Karl öffnete mit ehrlichem Aufatmen die Tür. »Warum schlagen Sie so verrückt auf die Tür?« fragte ein riesiger Mann, kaum daß er nach Karl hinsah. Durch irgendeine Oberlichtluke fiel ein trübes, oben im Schiff längst abgebrauchtes Licht in die klägliche Kabine, in welcher ein Bett, ein Schrank, ein Sessel und der Mann knapp nebeneinander, wie eingelagert, standen. »Ich habe mich verirrt«, sagte Karl, »Ich habe es während der Fahrt gar nicht so bemerkt, aber es ist ein schrecklich großes Schiff.« »Ja, da haben Sie recht«, sagte der Mann mit einigem Stolz und hörte nicht auf, an dem Schloß eines kleinen Koffers zu hantieren, den er mit beiden Händen immer wieder zudrückte, um das Einschnappen des Riegels zu behorchen. »Aber kommen Sie doch herein!« sagte der Mann weiter, »Sie werden doch nicht draußen stehn!« »Störe ich nicht?« fragte Karl. »Ach, wie werden Sie denn stören!« »Sind Sie ein Deutscher?« suchte sich Karl noch zu versichern, da er viel von den Gefahren gehört hatte, welche besonders von Irländern den Neuankömmlingen in Amerika drohen. »Bin ich, bin ich«, sagte der Mann. Karl zögerte noch. Da faßte unversehens der Mann die Türklinke und schob mit der Türe, die er rasch schloß, Karl zu sich herein. »Ich kann es nicht leiden, wenn man mir vom Gang hereinschaut«, sagte der Mann, der wieder an seinem Koffer arbeitete, »da läuft jeder vorbei und schaut herein, das soll der Zehnte aushalten!« »Aber der Gang ist doch ganz leer«, sagte Karl, der unbehaglich an den Bettpfosten gequetscht dastand. »Ja, jetzt«, sagte der Mann.>Es handelt sich doch um jetzt<, dachte Karl, >mit dem Mann ist schwer zu reden.< »Legen Sie sich doch aufs Bett, da haben Sie mehr Platz«, sagte der Mann. Karl kroch, so gut es ging, hinein und lachte dabei laut über den ersten vergeblichen Versuch, sich hinüberzuschwingen. Kaum war er aber im Bett, rief er: »Gotteswillen, ich habe ja ganz meinen Koffer vergessen!« »Wo ist er denn?« »Oben auf dem Deck, ein Bekannter gibt acht auf ihn. Wie heißt er nur?« Und er zog aus seiner Geheimtasche, die ihm seine Mutter für die Reise im Rockfutter angelegt hatte, eine Visitkarte. »Butterbaum, Franz Butterbaum.« »Haben Sie den Koffer sehr nötig?« »Natürlich.« »Ja, warum haben Sie ihn dann einem fremden Menschen gegeben?« »Ich habe meinen Regenschirm unten vergessen und bin gelaufen, um ihn zu holen, wollte aber den Koffer nicht mitschleppen.