Sie ließ den Sonnenschirm fallen und sank mit einem Seufzer in das Moos. Da verwandelte sich die heitere Laune des Mädchens in Erbarmen.

»Armes Tantchen! Nun mach' ich mir wahrhaftig Gewissensbisse!«

»Kitty! Du bist ein Ungeheuer!« Fräulein von Kleesberg keuchte noch was von »Narretei«, von »Hitze« und »schattigem Park«, von »Schaukelstuhl« und »verwünschten Bergen«, von »Eigensinn« und »kindischer Ungeduld«. Dabei zerrte sie das Taschentuch hervor, um Stirn und Wangen zu trocknen; als sie das Tüchlein sinken ließ, glich ihr brennendes Vollmondgesicht einer Palette, auf der man Weiß und Rot und Schwarz in konfusen Mischungen durcheinandergerieben hatte.

Mühsam unterdrückte Kitty das Lachen. »Wie kannst du mir böse sein, weil ich Papa eine Stunde früher sehen wollte. Seit vier Monaten, seit der Hahnenjagd, hab' ich ihn nicht mehr gesehen. Und denk' nur, die Freude, die es ihm machen wird, wenn ich ihn so überrasche, mitten im Bergwald –« Ihre Worte erloschen unter einem dumpfen Rauschen, das den Wald durchzog. Sie warf einen Blick zum Himmel; dort oben sag es schon bedrohlich aus. Spähend blickte sie zur Höhe des Waldes und sagte kleinlaut: »Lange kann Papa nicht mehr ausbleiben. Hier müssen wir mit ihm zusammentreffen. Er hat keinen anderen Weg, um vom Jagdhaus herunter an den See zu kommen.«

Auch Gundi Kleesberg schien das dumpfe Rauschen, das über den Wald gefallen, nicht geheuer zu finden und vergaß alle Müdigkeit. »Herr du mein Gott im Himmel, da kommt ein Gewitter! Fort! Nach Hause!«

»Tantchen, ich bitte dich –«

»Nein! Ich bleibe keine Sekunde mehr!« Mühselig raffte Gundi Kleesberg sich auf und jammerte: »Ich hab' es mir gleich gedacht, daß bei dieser Narrheit so was herauskommt!« Stöhnend hob sie ihren Sonnenschirm von der Erde und trippelte hastig davon, jeden unsicheren Tritt mit leisem Aufschrei begleitend.

In Mißvergnügen blickte Kitty ihr nach, unschlüssig, ob sie folgen sollte. Ein rollender Donner entschied ihren Zweifel. Sie warf noch einen sehnsüchtigen Blick empor durch den wogenden Bergwald und rief mit glockenheller Stimme: »Papa!« Nur das Rauschen des Windes gab ihr Antwort. Schon wollte sie gehen; da fiel ihr Blick auf das Martertäfelchen an der Buche. Neugierig bog sie einen überhängenden Zweig beiseite. Mit ländlicher Kunst war auf dem Täfelchen eine waldige Berggegend abgebildet; ein grün gekleideter Mann, die Büchse im Arm, lag ausgestreckt auf der Erde, und über seiner Stirn schwebte ein rotes, von einem Schein umzogenes Kreuzlein. Unter dem Bilde stand in verwaschener Schrift zu lesen:

»Hier an dieser Stelle wurde Anton Hornegger, Gräflich Egge-Sennefeldischer Förster, am heiligen Johannistag erschossen aufgefunden.

 

Böse Tat ist hier geschehen,

Und der Mörder ist entflohn,

Gottes Aug' hat ihn gesehen,

Gottes Zorn erreicht ihn schon!

R.I.P.

Wanderer, ein Vaterunser!«

 

Unwillkürlich bekreuzte sich Kitty. Ein leises Grauen kam ihr aus dem Gedanken, daß sie hier geruht hatte, auf dieser Erde, die getränkt war mit dem Blut eines Ermordeten. »Tante Gundi!« stammelte sie und fing zu laufen an.

Hinter ihr rauschte der Bergwald, und über das finstere Gewölk leuchtete der Schein des ersten Blitzes, der sich in der Ferne entlud.

Eine Minute, und Kitty hatte Tante Gundi eingeholt, die der erste Blitz um das letzte Restchen ihrer Fassung brachte. Wie eine Verzweifelte beteuerte sie, daß ihr Leben eine grausame Qual, daß sie nur zum Elend geboren wäre. Eine Lungenentzündung war das Gelindeste, was sie für sich als Ende dieses »neuen Unglücks« prophezeite, in das sie »wieder einmal aus blinder Liebe« hineingerannt wäre.

Kitty schwieg und half nach Kräften, um diesem ausgewachsenen Häuflein Jammer den Niederstieg auf dem unbequemen Wege zu erleichtern. Nur einmal, als Tante Gundis Klagelied sich in scheltende Gereiztheit gegen die »Anstifterin des Unglücks« verwandelte, bracht Kitty ihr Schweigen: »Ich habe dir doch gesagt: bleib du zu Hause und laß mich allein gehen!«

Auch im Stadium hochgradiger Verzweiflung vergaß Adelgunde von Kleesberg nicht, was sie ihrer Stellung schuldig war. Zürnend hob sie das brennende Gesicht und erklärte: »Eine Gräfin Egge-Sennefeld in deinem Alter geht nicht allein.«

Schmollend verzog Kitty das Mäulchen. »Ach was, hier im Gebirge, in Papas eigenem Walde!« Und nach kurzem Schweigen fügte sie bei: »In meinem Alter? Siebzehn Jahre! Wie alt muß man denn werden, um allein gehen zu dürfen?«

»So alt wie deine Mutter war, als sie ihre eigenen Wege ging.«

Nein, Tante Gundi sagte das nicht; es blieb in ihren Gedanken; sie sagte nur: »Ich hoffe, daß du dieses Alter niemals erreichen wirst!«

Kitty fand nicht Zeit, über den Sinn dieser unverständlichen Wendung nachzudenken. Die ersten schweren Tropfen fielen klatschend auf die Blätter. Ohne ein ausgiebiges Bad schien das Abenteuer nicht ablaufen zu wollen. Kitty faßte die Gundi Kleesberg, die jetzt dem Weinen näher war als dem Schelten, energisch unter den Arm, um sie in rascheren Gang zu bringen. An einer Biegung des Pfades jubelte sie: »Wir sind gerettet!«

Zwischen Büschen schimmerten die grauen Bretter einer Scheune, die im Winter zur Fütterung des Hochwildes diente. Hundert Schritt seitwärts durch den Wald, und das schützende Dach war erreicht, ehe das Unwetter begann. Die Scheune war von drei Seiten geschlossen.