»Nein!« rief sie; »o nein, kein Haß, Mama; Sie haben ja um ihn gelitten! Aber um seinetwillen, ich muß allein...«

Sie sprach nicht mehr; die Sekunde drängte, sie mußte fort, sie mußte fliegen, wenn es möglich war; und das junge Weib rang mit der Mutter, die sie nicht lassen wollte; auf beiden Seiten die Kraft und die Todesangst der Liebe.

Doch nur noch ein paar Augenblicke; dann sprang die Stubentür zurück, und gleich darauf wurde auch die Haustür aufgerissen. Drinnen im Zimmer lag die Mutter auf den Knien ; draußen über die Wiesen, entlang dem Waldesrande, lief, nein flog, wie mit dem Tode um die Wette, das junge Weib des Försters.

Aus einer engen Lichtung in jenem wild verwachsenen Teil des Waldes flatterten zwei Vögel auf, schwebten eine Weile darüber und hüpften, scheu hinabäugelnd, dann wieder von einem Zweig zum andern in die Tiefe, von der sie vorhin aufgeflogen waren. Es waren ein Paar Rotkehlchen, denen sich jetzt noch eine Meise zugesellte. Als sie bald danach aufs neue über den Wipfeln sichtbar wurden, jagten sie sich schreiend durch die Zweige, denn die Meise trug einen Brocken im Schnabel, von welchem die andern ihren Anteil haben wollten.

Unten in dieser Waldenge auf einem von Moos und Flechten übersponnenen Granitblock saß ein bleicher Mann; neben ihm lehnte eine Kugelbüchse; an seiner Brust, aus der halboffenen Joppe, ragte ein Strauß verdorrter Maililien, den er zuvor hart an dem Steine aufgesammelt hatte. Dem Anscheine nach mußte man ihn bei seinem Frühstück glauben, denn er hatte seine Jagdtasche, wie zur Tafel dienend, auf den Schoß gelegt; eine angebrochene Schwarzbrotschnitte hielt er in der Hand. Aber er selber hatte nichts davon genossen, wie in Andacht, als ob er ein Heiliges berühre, brach er das Brot in kleine Brocken und streute es vor sich hin in das Kraut. Als die Vögel jetzt zu ihm hinab- und gleich darauf wieder emporflogen, hob er den Kopf und blickte ihnen nach; die Meise, welche diesmal nichts erhascht hatte, saß noch drüben auf einem Buchenzweig und schaute mit bewegtem Köpfchen zu ihm hin; vielleicht erkannte sie den jungen Förster, der so oft durch ihr Revier geschritten war.

Kein Lufthauch ging durch die fast lautlose Einsamkeit, selbst der Vogel schien durch die düsteren Augen des Mannes wie auf seinen Zweig gebannt; nur von Zeit zu Zeit löste knisternd sich ein gelbes Blatt und sank zu Boden. Unhörbar streckte Rudolfs Hand sich nach der Kugelbüchse, und schon wollte er sie fassen, da, ganz aus der Ferne, kaum vernehmbar, drang ein Schall herüber. Und wieder nach kurzer Pause kam es, und dann stärker, wie vom aufgestörten Morgenhauch geschwellt; die Glocke der fernen Schloßuhr sandte ihren Ruf durch Wald und Felder. – Auch an Rudolfs Ohr war er gedrungen; seine Hand stockte; er zählte: sieben Uhr schon! Anna mußte jetzt seinen Abschiedsbrief gelesen haben; sie wußte alles. Und plötzlich stand ihm eines, nur dies eine vor der Seele: das Schweigen, das furchtbare Schweigen war ja nun zu Ende!

Er hatte sich so jäh emporgerichtet, daß ihm gegenüber der Vogel kreischend durch die Zweige fuhr. Was gab es nur? Was hatte er hier gewollt? – Ihm war, als sei er träumend einem Abgrund zugetaumelt.

Hoch über ihm, als hätte auch sie die Glocke wachgerufen, durchbrach jetzt die Sonne den grauen Dunst; sie streute Funken auf die feuchten Wipfel und warf auch einen Lichtstrahl in des Mannes Seele, der hier unten noch im Schatten stand; er wußte es plötzlich, er fühlte es hell durch alle Glieder rinnen: der Arzt hatte recht gehabt; er war gesund, er war es längst gewesen; es drängte ihn, sogleich die Probe mit sich anzustellen. Und mit unerbittlicher Genauigkeit rief er sich den Bericht des Holzschlägers ins Gedächtnis; er unterschlug sich nichts; er ließ den jungen Tollen mit der Axt sein Weib verfolgen, er zwang sich, ihr Geschrei zu hören; aber es blieb für ihn ein Fremdes, das sein eignes Leben nicht berührte.

Sein Leben – ja, jetzt konnte er es beginnen! – Die Waldesenge um ihn wich zurück, und jene Sonnenlandschaft, unter deren Bilde ihm das ersehnte Glück so oft erschienen war, breitete sich licht und weit zu seinen Füßen ; der Weg war offen, der zu ihr hinabführte.

Aber das Bild verschwand; er stand noch in demselben Waldesschatten. Nein, nein; nicht eine Krankheit, aber eine Schuld war es, die seine Kraft gelähmt und ihn vor Schatten hatte zittern lassen. Und nun – vor allen andern Wegen mußte er den zurück, den er hierher gegangen war ; ein reuiger Verbrecher mußte er auf die Schwelle seines Hauses treten! Ihn schauderte, die Füße schienen ihm im Boden festzuwurzeln.

Da kam ein Rauschen aus dem wilden Dickicht, und wie ein Leuchten flog es über seine finsteren Züge. »Anna!« schrie er; »Anna!« und streckte beide Arme in die Leere. – Wo war sie? – Sie suchte ihn! Er wußte es, daß sie ihn suchte; er sah sie vor sich in ihrer Todesangst, die schlanken Glieder, wie sie durch Zweige brachen, die blauen Augen links und rechts hin irre Strahlen werfend. »Ich komme!« rief er. »Ja, ich komme!«

Ihm war, als ob aus leerer Luft ihm Kräfte wuchsen; vor seinem Weibe wollte er in Demut knien und dann auf seinen Armen sie durchs Leben tragen! Nur noch die Kugel, die im Rohre steckte, diese Kugel durfte nicht mit ihm zurück! Er sah empor; ein mächtiger Falke zog über den Waldeswipfeln seine Kreise. Doch – kein Blut! Frei durch den weiten Himmel, ein Gruß ins neue Leben, sollte diese Kugel fliegen! Und sich niederbeugend, faßte er mit raschem Griff den Schaft der Büchse.

Aber ihm im Rücken, am Rand der Lichtung, war eben eine zitternde Frauengestalt erschienen. Wie ohnmächtig hatte sie dagestanden; jetzt gellte ihr Schrei ihm in den Ohren, und während junge Arme sich um ihn warfen, fuhr mit dumpfem Krach die Kugel aus dem Rohr.

Sie schien es nicht zu merken; aber sie bog sich von ihm ab, sie stemmte ihre Hände gegen seine Schultern und sah ihn mit fast wilden Augen an.

Da schrie er auf: »Du blutest! Du bist getroffen, Anna!«

Ihre Hände wehrten schwach den seinen, die an ihrem Nacken suchten. »Nein, nur die Dornen – – ich fühle nichts – – aber du!« – es war, als hätten diese Worte eine Felsenlast zurückgestoßen – »du lebst!« schrie sie; »du lebst!« scholl es noch einmal aus der ganzen Fülle ihrer Brust; dann brach sie in seinen Armen zusammen.

Drei Tage waren seitdem verflossen; unter dem Dach des Försterhauses lag Anna in den weißen Linnen ihres Bettes. Keine Kugel hatte sie verletzt; auch nicht die Wunden, die die Dornen ihr gerissen – der jähe Strahl des schon verloren gegebenen Glückes war es gewesen, der sie hingeworfen hatte. Und auch nicht um dies kräftige Leben selber, vielmehr nur um ein zweites, das in seinem Schoß dem Licht entgegenkeimte, hatte die Natur ihr stilles Ringen zu bestehen. Aber schon blickten die Augen der jungen Mutter froh und siegreich um sich, während sie im Grund der Seele nur ein Erinnern jenes Morgens festhielt; nur wie die Arme ihres Mannes sie vom Boden hoben und wie dann, schon im Erlöschen ihrer Sinne, sich ihr Haupt an seiner Brust zur Ruhe legte.

In den Nächten, die dann folgten, hatte Rudolf in seltenem Wechsel mit der Mutter, die jetzt selbst der Ruhe bedurfte, neben ihr gewacht und ihren Schlaf behütet. Der Tag fand ihn im Forste, an den Sümpfen; dann wieder an seinem Arbeitstische oder Bericht erstattend und seine Pläne klar entwickelnd bei dem Grafen; noch niemals hatte er das Vollmaß seiner Kräfte so empfunden.

Jetzt kniete er in Demut an dem Bette seines Weibes, die seine beiden Hände in den ihren hielt; er hatte lange zu ihr gesprochen, und sie hatte schweigend zugehört.

Nun, als auch er schwieg, bewegte sie leis verneinend ihren Kopf. »Gesündigt? Du an mir gesündigt?« frug sie, seine letzten Worte wiederholend. Und als er sprechen wollte, entzog sie ihm die eine ihrer Hände und legte sie auf seinen Mund: »Ich weiß es besser, Rudolf: du hattest mich zu lieb, du hast mich nicht verlieren können! Nein, sage nur nichts anderes; du hast noch immer nicht gewußt, daß du mich nicht verlieren kannst!« Und da er widersprechen wollte, richtete sie sich auf, und seinen Mund mit ihren Küssen schließend, schlang sie die Arme um seinen Hals und flüsterte wie leidenschaftliches Geheimnis ihm ins Ohr: »Ich glaube, Rudolf, aber Gott wird es verhüten – ich könnte noch eine größere Sünde um dich tun!«

Dann, während er, berauscht und wie von Schuld befreit, dies Geständnis seines schönen Weibes noch in seiner Seele wog, hatte diese, von leichter Schwäche überkommen, sich zurückgelegt; nur ihr Antlitz wandte sich nach dem des Mannes, und eines alten Reims gedenkend und wie in seliger Stille ihre Augen in den seinen lassend, sprach sie leise und doch mit dem lichten Vollklang ihrer Stimme:

 

Was Liebe nur gefehlet,

Das bleibt wohl ungezählet;

Das ist uns nicht gefehlt.

 

Dann wurde es stille zwischen ihnen; es bedurfte keiner Worte mehr.

– – Als Rudolf bald darauf durch Geschäfte abgerufen wurde, trat statt seiner die Mutter in das Zimmer. Die Falte, welche der Schrecken jenes Morgens ihrem Antlitz eingegraben hatte, war nicht daraus verschwunden; aber sie schien nur einen früheren Zug der Härte hier verdrängt zu haben, der selbst den Sohn ihr nie völlig hatte nahekommen lassen. Mit aufmerksamen, ja fürsorglichen Blicken betrachtete sie die junge Frau, die in ruhigem Genügen, mit gefalteten Händen vor sich hin sah.