Ein kurzes Bedenken noch; dann nahm er seine beste Kugelbüchse aus dem Gewehrschranke und lud sie sorgsam. Er hatte sie umgehangen und war schon aus der Tür getreten, als er noch einmal umkehrte. Auch die Jagdtasche nahm er noch vom Haken und hing sie behutsam über seine Schulter; vielleicht entsann er sich, daß vor dem Schlafengehen Annas Hände ihm das Frühstück für den angekündigten Morgengang bereitet und dahinein gesteckt hatten. Eine Weile noch stand er, die Finger um die Lehne eines Stuhles geklammert; dann ging er.
Er ging über die Wiesen an dem Wald entlang; der Nebel stand noch dicht über den Feldern und zwischen den Bäumen; von den Zweigen fielen schwere Tropfen auf ihn herab. Als er in den durch die Holzung führenden Fahrweg eingebogen und eine Strecke darauf fortgegangen war, hörte er Schritte sich entgegenkommen, und bald auch erkannte er aus dem Nebel einen Mann, welcher, den Kopf voraus und mit den Armen mächtig um sich fechtend, eifrig vor sich hin redete, als ob er ein wichtiges Erzählen vor sich habe.
Rudolf, der einen der Holzschläger erkannt hatte, wollte rasch vorübergehen; aber der andere hob jetzt den Kopf. »Ah so, der Herr Förster!« rief er, die Mütze herunterreißend. »Ich soll aufs Schloß zum Herrn Inspektor; ist wieder der Teufel los mit dem Klaus Peters; die andern kamen aber eben recht, daß wir ihn binden konnten!«
Rudolf blieb stehen und starrte den Sprecher an; Klaus Peters war der junge Arbeiter, der als Ehemann aus dem Irrenhaus zurückgekehrt war.
Der andere aber begann jetzt wieder sein Fechten mit den Armen. »Immer um die Kate herum, Herr Förster«, rief er, »und das, die Holzaxt in der Faust; und die Frau rannte vor ihm auf und schrie Zetermordio, daß wir's in unsern Betten hören konnten! Es wird nicht helfen, der Herr Graf mögen nur recht weit den Beutel auftun, denn zum andernmal kommt er wohl nicht zurück, wenn sie ihn erst wieder sicher in der Anstalt haben.«
Der alte Holzschläger, während er nach einem Endchen Rolltabak in seiner Tasche suchte, wartete vergebens auf eine Beifallsäußerung seines Vorgesetzten. »So, so?« sagte dieser endlich, ohne daß sich anderes als nur die Lippen an ihm zu regen schien; » ja, da muß zeitig Rat geschafft werden.«
Dann wandte er sich plötzlich und schritt auf einem Seitenwege in den Wald hinein, wo er den Blicken des verwundert Nachschauenden bald entschwunden war.
– – Kurz ehe dies im Walde geschah, hatte im Forsthause auch die junge Frau sich aus dem Schlaf erhoben; erschrocken, daß schon der graue Tag ins Fenster sah, warf sie rasch die Kleider über ; sie hatte ja noch an Bernhard schreiben wollen, ehe die Mama das Bett verließe. Als sie aber mit ihrem Schlüsselkörbchen auf den Flur hinaustrat, kam Frau von Schlitz ihr in fertigem Morgenanzug schon entgegen.
»Mama!« rief Anna überrascht; »willkommen bei uns! Aber so früh? Sie müssen schlecht geschlafen haben?« Frau von Schlitz hatte freilich schlecht geschlafen ; es war nicht nur die Mißstimmung über die Abwesenheit des Ehepaars bei ihrer Ankunft; aber aus den Briefen beider hatte sie leicht herausgefunden, daß ihre Erwartungen von dieser Ehe sich keineswegs erfüllt hatten. Doch äußerte sie nichts dergleichen, sondern sagte nur: »Ich bin keine Langschläferin, mein Kind!« Aber Anna wurde fast verlegen unter dem strengen Blick, von welchem dieses Wort begleitet wurde. »Und wo ist denn mein Sohn?« begann Frau von Schlitz wieder. »Ich suchte ihn schon vergebens in euerem Wohnzimmer.«
»Ich fürchte, Mama, er wird schon seinen Reviergang angetreten haben.«
»Heute? Er wußte doch von meiner Ankunft?«
»Gewiß; aber er hat wohl nicht gedacht, daß Mama so früh schon auf sein würden.«
»Laß uns nach seinem Zimmer gehen, Kleine!« sagte Frau von Schlitz und schritt sogleich den dahin führenden Gang hinab. Von Anna gefolgt, öffnete sie die Tür, aber es war niemand in dem Zimmer. »Zürnen Sie ihm nicht, Mama«, bat die junge Frau ; »er wird nun desto früher wieder da sein!«
Aber die Ältere, die mit raschen Blicken alles um sich her gemustert hatte, wies mit ausgestrecktem Finger nach dem kleinen Pult am Fenster: »Dort steckt ja noch der Schlüsselbund; das ist doch nicht die Ordnung, die ich meinem Sohn gelehrt hatte!«
Anna erschrak; das war auch jetzt nicht Rudolfs Weise. »So muß er noch nicht fort sein!« sagte sie beklommen und trat hinzu, um den Schlüssel abzuziehen. Aber als sie mit der Hand die Klappe faßte, gab diese ohne Widerstand dem Drucke nach; der Schlüssel war nicht einmal umgedreht.
In unbewußtem Antrieb hatte Anna sie jetzt völlig aufgehoben; doch nur ein paar Sekunden lang blickte sie hinein, dann schlug die Klappe zu, und wie ein Schrei brach der Name »Rudolf!« über ihre Lippen. Sie hatte nur die ersten Worte einer Schrift gelesen, welche obenauf im Pulte lag; jetzt hielt sie sie mit ihren beiden Händen. Sie stand hoch aufgerichtet; ihre Augen, starr wie Edelsteine, aber leuchtend, als ob sie ihren letzten Glanz versprühen sollten, flogen über die sichtbar am Morgen erst geschriebenen Zeilen.
Es war ein Abschiedsbrief, den Rudolf hinterlassen hatte, ein Bekenntnis, daß er wahnsinnig sei, daß er es längst gewesen, daß er sie betrogen habe; dann in dunklen Andeutungen daß ein besseres Geschick, das er, der rettungslos Verlorene mit seiner Leidenschaft gestört, sich noch an ihr erfüllen werde. Und dann nichts weiter; nur ein durchstrichenes Wort noch, nicht einmal der Name.
Mit steigender Unruhe hatte Frau von Schlitz dem Vorgange zugesehen; jetzt hatten ihre Augen auch das Blatt gestreift und Rudolfs Schrift darauf erkannt. Unwillkürlich streckte sie die Hand danach. »Was schreibt er?« frug sie, und ihre Stimme war nur wie ein Flüstern. »Gib! Ich muß es selber lesen!«
Und Anna fühlte kaum, wie ihr das Blatt entrissen wurde. Wie ein Wetterschlag war es auf sie herabgefahren; aber auch das Dunkel war einem scharfen Licht gewichen. Mit ausgestreckten Armen lag sie auf den Knien, ihre Lippen stammelten gebrochene Worte, aber schon war sie wieder aufgesprungen; wie ein Hellsehen war es über sie gekommen: ihm nach; sie hatte keine Zeit zum Beten!
Da, als sie fortwollte, fühlte sie ihre Füße von zitternden Armen aufgehalten ; kaum erkannte sie das Antlitz, das stumm, wie einer Sterbenden, zu ihr aufsah. »Mama!« rief sie. »Sind sie es denn, Mama?«
Nur ein Stöhnen kam aus dem zuckenden Munde, während die Arme sich noch fester um die Knie des jungen Weibes klammerten. Anna suchte sich vergebens loszumachen; sie neigte sich zu der Liegenden, sie flehte, sie schrie es fast zuletzt: »Lassen Sie mich, Mama; ich muß zu ihm, zu Rudolf! Sie wissen's ja, der Tod ist hinter ihm!«
Die stumpfen Augen in dem so plötzlich alt gewordenen Gesicht der Mutter flammten auf. »Mein Sohn!« schrie sie und sprang empor. »Ja, ja; wir müssen zu ihm!«
»Nein, Mutter; bleiben Sie, Sie können nicht – ich muß allein!«
Aber die starke Frau hatte sich an ihren Arm gehangen: »Hab Erbarmen, nimm mich mit zu meinem Sohn! Du haßt mich, Anna, du hast ein Recht dazu; aber – nimm mich mit; du warst nicht seine Mutter!«
Ratlos blickte Anna auf die Frau, die ihrer Sinne kaum noch mächtig war.
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