Und nun – vor allen andern Wegen mußte er den zurück, den er hierher gegangen war ; ein reuiger Verbrecher mußte er auf die Schwelle seines Hauses treten! Ihn schauderte, die Füße schienen ihm im Boden festzuwurzeln.

Da kam ein Rauschen aus dem wilden Dickicht, und wie ein Leuchten flog es über seine finsteren Züge. »Anna!« schrie er; »Anna!« und streckte beide Arme in die Leere. – Wo war sie? – Sie suchte ihn! Er wußte es, daß sie ihn suchte; er sah sie vor sich in ihrer Todesangst, die schlanken Glieder, wie sie durch Zweige brachen, die blauen Augen links und rechts hin irre Strahlen werfend. »Ich komme!« rief er. »Ja, ich komme!«

Ihm war, als ob aus leerer Luft ihm Kräfte wuchsen; vor seinem Weibe wollte er in Demut knien und dann auf seinen Armen sie durchs Leben tragen! Nur noch die Kugel, die im Rohre steckte, diese Kugel durfte nicht mit ihm zurück! Er sah empor; ein mächtiger Falke zog über den Waldeswipfeln seine Kreise. Doch – kein Blut! Frei durch den weiten Himmel, ein Gruß ins neue Leben, sollte diese Kugel fliegen! Und sich niederbeugend, faßte er mit raschem Griff den Schaft der Büchse.

Aber ihm im Rücken, am Rand der Lichtung, war eben eine zitternde Frauengestalt erschienen. Wie ohnmächtig hatte sie dagestanden; jetzt gellte ihr Schrei ihm in den Ohren, und während junge Arme sich um ihn warfen, fuhr mit dumpfem Krach die Kugel aus dem Rohr.

Sie schien es nicht zu merken; aber sie bog sich von ihm ab, sie stemmte ihre Hände gegen seine Schultern und sah ihn mit fast wilden Augen an.

Da schrie er auf: »Du blutest! Du bist getroffen, Anna!«

Ihre Hände wehrten schwach den seinen, die an ihrem Nacken suchten. »Nein, nur die Dornen – – ich fühle nichts – – aber du!« – es war, als hätten diese Worte eine Felsenlast zurückgestoßen – »du lebst!« schrie sie; »du lebst!« scholl es noch einmal aus der ganzen Fülle ihrer Brust; dann brach sie in seinen Armen zusammen.

Drei Tage waren seitdem verflossen; unter dem Dach des Försterhauses lag Anna in den weißen Linnen ihres Bettes. Keine Kugel hatte sie verletzt; auch nicht die Wunden, die die Dornen ihr gerissen – der jähe Strahl des schon verloren gegebenen Glückes war es gewesen, der sie hingeworfen hatte. Und auch nicht um dies kräftige Leben selber, vielmehr nur um ein zweites, das in seinem Schoß dem Licht entgegenkeimte, hatte die Natur ihr stilles Ringen zu bestehen. Aber schon blickten die Augen der jungen Mutter froh und siegreich um sich, während sie im Grund der Seele nur ein Erinnern jenes Morgens festhielt; nur wie die Arme ihres Mannes sie vom Boden hoben und wie dann, schon im Erlöschen ihrer Sinne, sich ihr Haupt an seiner Brust zur Ruhe legte.

In den Nächten, die dann folgten, hatte Rudolf in seltenem Wechsel mit der Mutter, die jetzt selbst der Ruhe bedurfte, neben ihr gewacht und ihren Schlaf behütet. Der Tag fand ihn im Forste, an den Sümpfen; dann wieder an seinem Arbeitstische oder Bericht erstattend und seine Pläne klar entwickelnd bei dem Grafen; noch niemals hatte er das Vollmaß seiner Kräfte so empfunden.

Jetzt kniete er in Demut an dem Bette seines Weibes, die seine beiden Hände in den ihren hielt; er hatte lange zu ihr gesprochen, und sie hatte schweigend zugehört.

Nun, als auch er schwieg, bewegte sie leis verneinend ihren Kopf. »Gesündigt? Du an mir gesündigt?« frug sie, seine letzten Worte wiederholend. Und als er sprechen wollte, entzog sie ihm die eine ihrer Hände und legte sie auf seinen Mund: »Ich weiß es besser, Rudolf: du hattest mich zu lieb, du hast mich nicht verlieren können! Nein, sage nur nichts anderes; du hast noch immer nicht gewußt, daß du mich nicht verlieren kannst!« Und da er widersprechen wollte, richtete sie sich auf, und seinen Mund mit ihren Küssen schließend, schlang sie die Arme um seinen Hals und flüsterte wie leidenschaftliches Geheimnis ihm ins Ohr: »Ich glaube, Rudolf, aber Gott wird es verhüten – ich könnte noch eine größere Sünde um dich tun!«

Dann, während er, berauscht und wie von Schuld befreit, dies Geständnis seines schönen Weibes noch in seiner Seele wog, hatte diese, von leichter Schwäche überkommen, sich zurückgelegt; nur ihr Antlitz wandte sich nach dem des Mannes, und eines alten Reims gedenkend und wie in seliger Stille ihre Augen in den seinen lassend, sprach sie leise und doch mit dem lichten Vollklang ihrer Stimme:

 

Was Liebe nur gefehlet,

Das bleibt wohl ungezählet;

Das ist uns nicht gefehlt.

 

Dann wurde es stille zwischen ihnen; es bedurfte keiner Worte mehr.

– – Als Rudolf bald darauf durch Geschäfte abgerufen wurde, trat statt seiner die Mutter in das Zimmer. Die Falte, welche der Schrecken jenes Morgens ihrem Antlitz eingegraben hatte, war nicht daraus verschwunden; aber sie schien nur einen früheren Zug der Härte hier verdrängt zu haben, der selbst den Sohn ihr nie völlig hatte nahekommen lassen. Mit aufmerksamen, ja fürsorglichen Blicken betrachtete sie die junge Frau, die in ruhigem Genügen, mit gefalteten Händen vor sich hin sah. Die Entschlossenheit derselben, welche selbst sich gegen sie zu wenden keine Scheu getragen hatte, mochte die Achtung der rücksichtslosen Frau gewonnen, zugleich aber der Umstand, daß die Starke nun selbst hülflos ihrer Hand bedurfte, den daneben aufgestiegenen Groll versöhnt haben.

Behutsam trat sie näher. »Du lächelst, Anna«, sagte sie, indem sie sich zu ihr neigte; »aber du bist sehr blaß! Rudolf ist zu lange bei dir gewesen.«

»Zu lange?« wiederholte Anna; und als ob sie nur die eigenen Gedanken weiterspinne, fuhr sie fort: »Nein, nicht mehr dazu war ich ihm noch nötig – – Sie irrten doch, Mama – er war schon ohne mich genesen! Aber jetzt – – vielleicht – jetzt bin ich doch sein Glück!« Ein Lächeln wie Sonnenwärme breitete sich auf ihrem Antlitz.

Frau von Schlitz nickte schweigend : was redete die da vor sich hin? – Ihr Sohn, ihr Kind, das sie mit ihrem Blut getränkt hatte! – Wie mit Schlangenbissen fiel ein eifersüchtiges Weh sie an. »Ich irrte, sagst du?« sprach sie strenge, während ihr eine dunkle Glut bis in die Augen flammte; »du brauchst mich nicht zu schonen, Anna; es war nie meine Art, mich zu belügen! – Aber dafür – dafür« – – ihre zitternden Lippen rangen vergebens noch nach Worten.

Mit Angst sah Anna in das stumme Antlitz, in dem nur noch die Augen Leben hatten. »Mama! O Mama, was ist dir?« rief sie.

Da gewann die harte Frau die Sprache wieder. »Dafür«, sagte sie langsam, indem das Haupt ihr auf die Brust herabsank, »hast du mich arm gemacht.«

Aber schon hatte, in plötzlichem Verständnis, die unschuldige Feindin ihre Hand ergriffen, und sich sanft darüber neigend, flüsterte sie: »Du mußt mich lieben, Mutter!«

»Muß ich?« – Ein finstrer Blick war auf die junge Frau gefallen; dann aber lag sie an der Brust der Mutter, überschüttet von durstiger, ungestümer Liebe: »Ja, ja, mein Kind ich sehe keine andere Rettung!«

Noch hingen die letzten Blätter an den Bäumen, als die still gewordenen Räume des Hauses durch die frisch erstandene junge Frau sich wieder neu belebten: ihr leichter Schritt, ihre frohe Stimme – wenn Rudolf sie in seinem Zimmer hörte, so konnte er nicht lassen, seine Tür zu öffnen; ihm war, als ob es dann in Kopf und Kammer heller würde. In fester Pflichterfüllung gingen Mann und Weib zusammen : der Winter nahte; aber vor beider Augen lag die Sonnenlandschaft.

Eines Morgens, als nach Ende des Monats Rudolf die Löhnungslisten zur Revision erhalten hatte, sah er darin auch den Namen jenes jungen Holzschlägers, außer der Lücke von ein paar Tagen, bis ans Ende aufgeführt.

»Klaus Peters?« frug er den alten Andrees, der ihm die Papiere eben von dem Inspektor überbracht hatte. »Ich dächte, der wäre wieder krank geworden?«

Der Waldwärter lachte: »Ein Schreckschuß, Herr Förster; der ist so gesund wie Sie und ich! Die beiden waren in Zank geraten, er und das dumme Weib; er schlug sich grad schon in der Frühe sein bißchen Winterholz, und wie sie nun in der Hitze ihm seine frühere Tollheit vorgerückt, da hat er freilich die Axt nicht fortgelegt, als er um die Kate hinter ihr die Jagd gemacht; nun aber gehen sie schon sonntags wieder Hand in Hand zur Kirche.«

Rudolf nickte zustimmend. »Schickt mir gelegentlich das Weib, Andrees«, sagte er; »ich muß doch einmal mit ihr reden!« Ihn freute dieser Ausgang um des jungen Menschen willen, weiter aber kümmerte auch dies ihn nicht.

Und gleichwohl, als Anna bald danach zu ihm hereintrat, hatte sich ein nachdenklicher Ernst auf seiner Stirn gesammelt: es lag noch eines vor ihm.

Als sie fragend zu ihm aufblickte, zog er sie sanft zu sich heran. »Ich reite heute nachmittag zu Bernhard«, sagte er; »du weißt ja alles, meine Anna; ich möchte warm und offen um des treuen Mannes Freundschaft werben.«

Ein stiller Winter war vergangen; nun wehten am Waldesrande schon die Primeldüfte, seit ein paar Wochen war auch der Graf schon wieder aus der Residenz zurück, um der weiteren Durchforstung seiner Wildnis beizuwohnen. An diesem Morgen aber schritt er neben seinem Schwiegervater, der tags vorher zum Genuß der ersten Frühlingsfrische angelangt war, auf jenem Steige, dem Runensteine vorüber, in den Wald hinein; beide, wie damals im verflossenen Herbste, in angelegentlichem Zwiesprach.

»Aber, mein Lieber«, sagte der alte Herr; »so ist denn der von Schlitz nun doch dein Oberförster; wenn mir recht ist, schien dir derzeit die Musik des jungen Herrn nicht völlig zu gefallen?«

»Ja, ja, derzeit«, erwiderte der Jüngere; »aber es wurde anders, ich war auch selbst wohl etwas ungestüm; er kann doch mehr, als Chopin spielen; du wirst dich wundern, wie weit wir schon mit unserer Wildnis sind!«

»So!« meinte der General, und ein leises Lächeln zuckte um seinen weißen Schnurrbart; »ei der Tausend, da hat dich also dein gerühmter Scharfblick doch einmal im Stich gelassen!«

»Spotte nur, Papa; aber es dürfte dir leicht ebenso ergangen sein!«

Der Alte lachte: »Mir? Das glaub ich; aber ich bin auch nicht mein Tochtermann! Nun aber, was hat es denn gegeben?«

Der Graf blieb stehen: »Du mußt dir schon an einem ›on dit‹ genügen lassen! Also: das Schießen zählt eben nicht zu den Künsten des Herrn Oberförsters gleichwohl, so wird gemunkelt – es war damals, um die Zeit deiner Abreise –, soll er doch sein junges Weib getroffen haben.«

»Der Tausend!« sagte wieder der alte Herr. »Und dann?«

»Dann? Ja, das schlägt in dein Fach, Papa! Es gibt ja Leute, die erst tapfer werden, wenn sie Blut gesehen haben; jedenfalls – von da ab an datiert die neue Ära. Mir ist nur bange«, setzte er hinzu, »der Staat wird mir den Mann nicht allzulange lassen.«

»Mein Lieber«, erwiderte der General, »ich nehme allen Spott zurück und will nur hoffen, daß die junge Frau – – –«

»Die Frau, oh, die ist schöner und heiterer als je; am Ende ist auch dieser Schuß nur so ein Stück moderner Sagenbildung. Übrigens glückliche Menschen das, Papa! Erst am vergangenen Montag habe ich mit dem Schwiegervater, dem trefflichen Pastor von da drüben, ihnen den ersten Jungen aus der Taufe gehoben. Selbst mit der alten Gnädigen von Schlitz verstehen sie zu leben, was meinem Schulgenossen, dem Walzerkomponisten, nicht so ganz gelungen sein soll; aber – die beiden Jungen sind auch bessere Musikanten.«

Der alte Herr nickte freundlich lächelnd mit seinem weißen Kopfe; dann gingen beide weiter.

 

– Niemand hatte dies Gespräch belauscht, wenn nicht doch der Buchfinke, der gleich danach über der Tür des Forsthauses in dem jungen Grün der Eiche seinen hellen Sang erhob.

 

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