»Zürnen Sie ihm nicht, Mama«, bat die junge Frau ; »er wird nun desto früher wieder da sein!«

Aber die Ältere, die mit raschen Blicken alles um sich her gemustert hatte, wies mit ausgestrecktem Finger nach dem kleinen Pult am Fenster: »Dort steckt ja noch der Schlüsselbund; das ist doch nicht die Ordnung, die ich meinem Sohn gelehrt hatte!«

Anna erschrak; das war auch jetzt nicht Rudolfs Weise. »So muß er noch nicht fort sein!« sagte sie beklommen und trat hinzu, um den Schlüssel abzuziehen. Aber als sie mit der Hand die Klappe faßte, gab diese ohne Widerstand dem Drucke nach; der Schlüssel war nicht einmal umgedreht.

In unbewußtem Antrieb hatte Anna sie jetzt völlig aufgehoben; doch nur ein paar Sekunden lang blickte sie hinein, dann schlug die Klappe zu, und wie ein Schrei brach der Name »Rudolf!« über ihre Lippen. Sie hatte nur die ersten Worte einer Schrift gelesen, welche obenauf im Pulte lag; jetzt hielt sie sie mit ihren beiden Händen. Sie stand hoch aufgerichtet; ihre Augen, starr wie Edelsteine, aber leuchtend, als ob sie ihren letzten Glanz versprühen sollten, flogen über die sichtbar am Morgen erst geschriebenen Zeilen.

Es war ein Abschiedsbrief, den Rudolf hinterlassen hatte, ein Bekenntnis, daß er wahnsinnig sei, daß er es längst gewesen, daß er sie betrogen habe; dann in dunklen Andeutungen daß ein besseres Geschick, das er, der rettungslos Verlorene mit seiner Leidenschaft gestört, sich noch an ihr erfüllen werde. Und dann nichts weiter; nur ein durchstrichenes Wort noch, nicht einmal der Name.

Mit steigender Unruhe hatte Frau von Schlitz dem Vorgange zugesehen; jetzt hatten ihre Augen auch das Blatt gestreift und Rudolfs Schrift darauf erkannt. Unwillkürlich streckte sie die Hand danach. »Was schreibt er?« frug sie, und ihre Stimme war nur wie ein Flüstern. »Gib! Ich muß es selber lesen!«

Und Anna fühlte kaum, wie ihr das Blatt entrissen wurde. Wie ein Wetterschlag war es auf sie herabgefahren; aber auch das Dunkel war einem scharfen Licht gewichen. Mit ausgestreckten Armen lag sie auf den Knien, ihre Lippen stammelten gebrochene Worte, aber schon war sie wieder aufgesprungen; wie ein Hellsehen war es über sie gekommen: ihm nach; sie hatte keine Zeit zum Beten!

Da, als sie fortwollte, fühlte sie ihre Füße von zitternden Armen aufgehalten ; kaum erkannte sie das Antlitz, das stumm, wie einer Sterbenden, zu ihr aufsah. »Mama!« rief sie. »Sind sie es denn, Mama?«

Nur ein Stöhnen kam aus dem zuckenden Munde, während die Arme sich noch fester um die Knie des jungen Weibes klammerten. Anna suchte sich vergebens loszumachen; sie neigte sich zu der Liegenden, sie flehte, sie schrie es fast zuletzt: »Lassen Sie mich, Mama; ich muß zu ihm, zu Rudolf! Sie wissen's ja, der Tod ist hinter ihm!«

Die stumpfen Augen in dem so plötzlich alt gewordenen Gesicht der Mutter flammten auf. »Mein Sohn!« schrie sie und sprang empor. »Ja, ja; wir müssen zu ihm!«

»Nein, Mutter; bleiben Sie, Sie können nicht – ich muß allein!«

Aber die starke Frau hatte sich an ihren Arm gehangen: »Hab Erbarmen, nimm mich mit zu meinem Sohn! Du haßt mich, Anna, du hast ein Recht dazu; aber – nimm mich mit; du warst nicht seine Mutter!«

Ratlos blickte Anna auf die Frau, die ihrer Sinne kaum noch mächtig war. »Nein!« rief sie; »o nein, kein Haß, Mama; Sie haben ja um ihn gelitten! Aber um seinetwillen, ich muß allein...«

Sie sprach nicht mehr; die Sekunde drängte, sie mußte fort, sie mußte fliegen, wenn es möglich war; und das junge Weib rang mit der Mutter, die sie nicht lassen wollte; auf beiden Seiten die Kraft und die Todesangst der Liebe.

Doch nur noch ein paar Augenblicke; dann sprang die Stubentür zurück, und gleich darauf wurde auch die Haustür aufgerissen. Drinnen im Zimmer lag die Mutter auf den Knien ; draußen über die Wiesen, entlang dem Waldesrande, lief, nein flog, wie mit dem Tode um die Wette, das junge Weib des Försters.

Aus einer engen Lichtung in jenem wild verwachsenen Teil des Waldes flatterten zwei Vögel auf, schwebten eine Weile darüber und hüpften, scheu hinabäugelnd, dann wieder von einem Zweig zum andern in die Tiefe, von der sie vorhin aufgeflogen waren. Es waren ein Paar Rotkehlchen, denen sich jetzt noch eine Meise zugesellte. Als sie bald danach aufs neue über den Wipfeln sichtbar wurden, jagten sie sich schreiend durch die Zweige, denn die Meise trug einen Brocken im Schnabel, von welchem die andern ihren Anteil haben wollten.

Unten in dieser Waldenge auf einem von Moos und Flechten übersponnenen Granitblock saß ein bleicher Mann; neben ihm lehnte eine Kugelbüchse; an seiner Brust, aus der halboffenen Joppe, ragte ein Strauß verdorrter Maililien, den er zuvor hart an dem Steine aufgesammelt hatte. Dem Anscheine nach mußte man ihn bei seinem Frühstück glauben, denn er hatte seine Jagdtasche, wie zur Tafel dienend, auf den Schoß gelegt; eine angebrochene Schwarzbrotschnitte hielt er in der Hand. Aber er selber hatte nichts davon genossen, wie in Andacht, als ob er ein Heiliges berühre, brach er das Brot in kleine Brocken und streute es vor sich hin in das Kraut. Als die Vögel jetzt zu ihm hinab- und gleich darauf wieder emporflogen, hob er den Kopf und blickte ihnen nach; die Meise, welche diesmal nichts erhascht hatte, saß noch drüben auf einem Buchenzweig und schaute mit bewegtem Köpfchen zu ihm hin; vielleicht erkannte sie den jungen Förster, der so oft durch ihr Revier geschritten war.

Kein Lufthauch ging durch die fast lautlose Einsamkeit, selbst der Vogel schien durch die düsteren Augen des Mannes wie auf seinen Zweig gebannt; nur von Zeit zu Zeit löste knisternd sich ein gelbes Blatt und sank zu Boden. Unhörbar streckte Rudolfs Hand sich nach der Kugelbüchse, und schon wollte er sie fassen, da, ganz aus der Ferne, kaum vernehmbar, drang ein Schall herüber. Und wieder nach kurzer Pause kam es, und dann stärker, wie vom aufgestörten Morgenhauch geschwellt; die Glocke der fernen Schloßuhr sandte ihren Ruf durch Wald und Felder. – Auch an Rudolfs Ohr war er gedrungen; seine Hand stockte; er zählte: sieben Uhr schon! Anna mußte jetzt seinen Abschiedsbrief gelesen haben; sie wußte alles. Und plötzlich stand ihm eines, nur dies eine vor der Seele: das Schweigen, das furchtbare Schweigen war ja nun zu Ende!

Er hatte sich so jäh emporgerichtet, daß ihm gegenüber der Vogel kreischend durch die Zweige fuhr. Was gab es nur? Was hatte er hier gewollt? – Ihm war, als sei er träumend einem Abgrund zugetaumelt.

Hoch über ihm, als hätte auch sie die Glocke wachgerufen, durchbrach jetzt die Sonne den grauen Dunst; sie streute Funken auf die feuchten Wipfel und warf auch einen Lichtstrahl in des Mannes Seele, der hier unten noch im Schatten stand; er wußte es plötzlich, er fühlte es hell durch alle Glieder rinnen: der Arzt hatte recht gehabt; er war gesund, er war es längst gewesen; es drängte ihn, sogleich die Probe mit sich anzustellen. Und mit unerbittlicher Genauigkeit rief er sich den Bericht des Holzschlägers ins Gedächtnis; er unterschlug sich nichts; er ließ den jungen Tollen mit der Axt sein Weib verfolgen, er zwang sich, ihr Geschrei zu hören; aber es blieb für ihn ein Fremdes, das sein eignes Leben nicht berührte.

Sein Leben – ja, jetzt konnte er es beginnen! – Die Waldesenge um ihn wich zurück, und jene Sonnenlandschaft, unter deren Bilde ihm das ersehnte Glück so oft erschienen war, breitete sich licht und weit zu seinen Füßen ; der Weg war offen, der zu ihr hinabführte.

Aber das Bild verschwand; er stand noch in demselben Waldesschatten. Nein, nein; nicht eine Krankheit, aber eine Schuld war es, die seine Kraft gelähmt und ihn vor Schatten hatte zittern lassen.