Gott weiß es, in ihrer Nähe war jene furchtbare Erinnerung spurlos in mir verschwunden, und erst heute nacht, da ich vor Übermaß des Glücks nicht schlafen konnte, brach es jäh, wie ein Entsetzen, auf mich nieder. Wie soll ich jetzt noch zu ihr sprechen, und wird sie mir glauben können, daß ich nicht absichtlich sie betrogen habe?«
Die Mutter schwieg noch eine Weile, während die Augen des Sohnes angstvoll auf ihrem Antlitz ruhten. »Du hast recht, Rudolf«, begann sie dann nach rascher Überlegung; »vielleicht würde deine Braut es dir nicht glauben; oder wenn auch deine Braut, so würden später bei deiner Frau doch Zweifel kommen. Und nicht nur das: wir wissen, daß es eine Krankheit war, die, wie andere, gekommen und gegangen ist; aber Frauenliebe sieht leicht Gespenster, die das teure Haupt bedrohen; sie könnten mit euch gehen in euerer jungen Ehe.«
Rudolf hatte sich plötzlich aufgerichtet, aber er war totenblaß geworden. »Es ist noch keine Ehe«, sagte er; »noch kann sie ihre Hand zurücknehmen, die sie so arglos in die meine legte.«
»Zurücknehmen, Rudolf?« Frau von Schlitz zögerte ein wenig, bevor sie fortfuhr: »Hast du nie von Frauen gehört, die nur einmal lieben können und dann nie wieder? Ich möchte glauben, deine Braut gehört zu diesen.«
Die Worte klangen süß in seine Ohren, und in seinen Augen leuchtete es wie von einem Strahl des Glückes, dann aber schüttelte er den Kopf, daß das braune Haar ihm wirr um Stirn und Augen flog: »O Mutter; aber es ist dennoch Unrecht!«
Er hatte die Worte so laut hervorgestoßen, daß sie rasch zum Fenster trat, an dem ein Gartensteig vorüberführte. »Kein Unrecht!« sagte sie, sich wieder zu ihm wendend; »das einzige Rechttun liegt in deinem Schweigen; und überdies: was hast du zu verschweigen?«
Unentschlossen, in schwerem Sinnen stand er vor der Mutter, während ihre Augen gespannt auf seinem Antlitz ruhten. Als er noch immer schwieg, streckte sie ihm die Hand entgegen: »Ich will dich nicht drängen, Rudolf; eines nur versprich mir: heute noch zu schweigen und – ohne Vorwissen deiner Mutter nicht daran zu rühren!«
Rudolf hatte noch nicht geantwortet, da pochte ein leichter Finger von außen an die Tür. Anna war halb verschämt hereingetreten und stutzte jetzt ein wenig, da sie so ernsthafte Gesichter vor sich sah; aber schon hatte Rudolfs Mutter das Wort an sie gerichtet: »Du suchst wohl deinen ungetreuen Bräutigam, mein liebes Kind; und recht hast du, er hätte lieber mit dir als mit der alten Mutter plaudern sollen!«
»Verzeihen Sie, Mama«, erwiderte das junge Mädchen lächelnd; »aber die Kinder lassen mir nicht Ruh, sie wollen alle ihren neuen Schwager sehen; Käthe ist mitgelaufen und lauert draußen, die andern stehen zu Hause vor der Tür; sie bettelten so lange, bis wir ihnen allen ihre besten Kleider angezogen hatten. – Du gehst doch mit mir, Rudolf?« setzte sie mit gedämpfter Stimme dann hinzu, indem sie den Kopf zu ihrem Liebsten wandte und ihn voll mit ihren lebensfrohen Augen ansah.
Die Mutter lächelte, denn wie vor einem Morgenhauche sah sie die Wolke von des Sohnes Stirn verschwinden. »Nun, Rudolf?« sagte sie und streckte jetzt noch einmal ihm die Hand entgegen.
Er hatte die leis betonte Frage wohl verstanden; aber, die Augen auf seiner jungen Braut und mit der einen Hand die ihre fassend, legte er die andere mit festem Druck in die der Mutter.
»So geht, ihr Glücklichen!« sagte diese.
Sie gingen, und Frau von Schlitz lehnte sich wie ermüdet auf ihren Stuhl zurück. »Hübsch ist sie; zum mindesten hier, so zwischen Wald und Wiesen!« Halb lächelnd hatte sie es vor sich hin gemurmelt; dann stand sie auf, um ihre Morgentoilette zu vollenden.
Der Nachmittag des letzten Sonntags war herangekommen ; auch Mutter und Sohn sollten sich am andern Tage trennen: erstere, um sich in der Residenz in ihren niedrigen Zimmern einzuwintern, Rudolf, um nach langer Frist in sein leeres Försterhaus zurückzukehren, das er bis zum Frühjahr noch allein bewohnen sollte; am folgenden Tage hatte er dann sich bei der Exzellenz zu melden, welche der Jagd wegen noch die letzten Herbstwochen auf dem Lande blieb.
Schweigend hatte er seinen Koffer gepackt, während die Mutter noch zwischen Päckchen und Schachteln umherhantierte. »Geh nur zu deiner Braut!« sagte sie zu dem ihr müßig Zuschauenden; »es sieht hier öde aus; was übrig ist, besorge ich schon allein!«
Rudolf küßte die Hand seiner Mutter und ging. Als er die Dorfstraße eine Strecke weit hinabgeschritten war, sah er aus der Fahrpforte des Pfarrhauses einen Reiter sich entgegenkommen, der, wie es schien, bei seinem Anblick das Pferd in rascheren Gang setzte und dann im Galopp an ihm vorüberritt. »Bernhard!« rief er; aber der Reiter hatte nur mit seinem Hut gegrüßt und war jetzt schon weit von ihm entfernt. Eine Weile blickte Rudolf ihm nach. ›So laß ihn reiten!‹ dachte er und ging langsam weiter. Als er an den Garten des Pastorats gekommen war, sah er ein helles Kleid zwischen den Boskettpartien schimmern, von welchen ein Steig zu einem Pförtchen nach der Dorfstraße hinausführte. Anna pflegte sonst um diese Stunde sich drinnen mit den kleinen Geschwistern zu beschäftigen; aber als er in den Garten getreten und den Steig hinabgegangen war, kam sie bei einer Biegung desselben ihm entgegen. »Du, Rudolf?« rief sie. »Ich hatte dich nicht kommen hören.«
Es war nicht der sonst so frohe Klang in ihrer Stimme ; auch sah sie ihn nicht an, da sie jetzt ihre Hand wie leblos in die seine legte.
Rudolf stutzte; die halben Worte seiner Mutter standen plötzlich vor ihm. »Was ist dir, Anna?« sagte er. »War Bernhard hier? Ich sah ihn fortreiten; er muß doch eben erst gekommen sein!«
»Ja«, entgegnete sie, ohne aufzublicken; »Bernhard wollte nicht bleiben.«
»Aber du hast ja rote Augen, Anna!« Und ein kaum merkliches Zittern klang aus seiner Stimme.
»Ja, Rudolf«, sagte sie und sah ihm voll ins Antlitz; »Bernhard hat mit mir gesprochen.«
»War das so traurig, was er mit dir zu sprechen hatte?«
Sie nickte: »Er bat – er wollte bei den Eltern um mich werben; er wußte ja noch nichts von unserer Verlobung.«
Rudolf war blaß geworden. »Nun, Anna?« frug er stockend.
»Ja, was denn weiter, Rudolf? Das konnte ich doch nicht erlauben.«
»Und darum weintest du?«
Er hatte diese Worte so laut hervorgestoßen, daß das Mädchen erschrocken um sich blickte; dann sagte sie ruhig: »Ja, darum weinte ich ; begreifst du das nicht, Rudolf?«
Er sah sie mit weit offenen Augen an. »Und darum hasse ich ihn!« rief er in ausbrechender Heftigkeit; »und jeden, der seine Hand nach deiner auszustrecken wagt!«
Nur einen Augenblick stand sie betroffen; gleich darauf hatte sie ihr Schnupftuch hervorgezogen und wischte sich recht derb damit die Augen. »Schilt mich, Rudolf«, sagte sie treuherzig, und ihre ganze süße Stimme klang in diesen Worten; »aber glaub nur, ich bin das nicht gewohnt, es hat mich sonst noch niemand haben wollen; er hätte doch auch sehen müssen, daß ich dir gehöre!«
Da riß er sie ungestüm an seine Brust: »Verzeih mir, habe Geduld! Auch ich muß erst lernen, so übermenschlich reich zu sein!«
Sie neigte nur das Haupt und ließ sich still umfangen; dann gingen sie miteinander in das Haus und waren zwischen Eltern und Geschwistern, bis auch dieser letzte Tag verging.
Während des Winters, der nun angebrochen war, wurde im Pfarrhause von unermüdlichen Händen an der Aussteuer der jungen Frau Försterin gearbeitet; die Mutter hätte gern wenigstens eins der neuen Sommerkleider mit grünem Band besetzt; aber Anna protestierte lachend und heftete das Band um ihren Sommerhut. Bisweilen kam auch der Pfarrer mit seiner Pfeife aus der Studierstube herüber, stand und nickte lächelnd seiner Anna zu, welche selbst die Schwester Käthe in deren Freistunden bei dieser heiteren Arbeit anzustellen wußte.
Weihnachten brachte den Besuch des Bräutigams und große Störung dieses fleißigen Treibens. Dann, nach der neuen Trennung, wurden den Brautleuten die Tage immer länger, zumal als noch einmal die Welt in Schnee begraben wurde und Anna von ihrer Arbeit, wie Rudolf aus dem Fenster seiner entlegenen Försterei, vergebens nach dem Briefboten aussah.
Endlich, unter den ersten Sonnenstrahlen des Aprils, der diesmal seinem Namen als »Eröffner« Ehre machte, legte der väterliche Priester die Hände des jungen Paares ineinander. Auch Bernhard als ein zwar ernster, aber wohlmeinender Gast war dessen Zeuge; er hatte einer verlorenen Hoffnung wegen nicht auch die Menschen selbst verlieren wollen. Noch vor dem Abschied hatten auf seine Bitte beide es ihm zugesagt, im Verlauf des Sommers auf seinem auch von ihrem neuen Wohnort nicht gar fernen Hofe einzukehren.
Dann unter dem Dache des inzwischen sauber hergerichteten Forsthauses kam der Beginn des jungen Ehelebens. Zwar hatten beide ihre volle Arbeit: Anna zu allem anderen mit einem aufgeschossenen Dorfkinde, das sie zum regelrechten Mägdedienst erziehen mußte, Rudolf die immer wiederkehrende Vertretung des kränkelnden Oberförsters ; aber die Arbeit selbst war jetzt ein Miteinanderleben.
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