Oft auch – denn die Kunst der Wirtschaft war ihr angeboren, so daß sie immer noch ein Maß von Zeit für ihren Liebsten übrig hatte – begleitete Anna diesen auf seinen Berufswegen durch den Wald, sei es zu den Föhren, wo an den mächtigen Stämmen jetzt die Axt erklang, oder in einen der Buchenschläge, wo die gefürchtete Nonnenraupe mit Verwüstung drohte.
Inmitten dieser herrschaftlichen Wälder, auf den alten Karten zu über vierzig Tonnen Landes angezeichnet, lag ein Bezirk, in dem die königlichsten aller Bäume stehen sollten; aber, man wußte nicht, ob aus Liebhaberei oder infolge nachlässiger Bewirtschaftung der Vorbesitzer, seit wohl hundert Jahren hatte ihn keine Axt berührt, ja, wie es hieß, kaum eines Menschen Fuß betreten.
Der Graf freilich, in Begleitung Rudolfs und eines begeisterten Landschaftsmalers, war einmal mit Messer und Säbel eine Strecke weit in seinen »Urwald« vorgedrungen, und ein paar der wildesten Partien, welche der Maler auf die Leinwand gebracht hatte, zierten jetzt in der Residenz sein Arbeitszimmer.
Aber auch Anna, als Rudolf ihr davon erzählte, war im Übermut des Glückes und der Jugend ein Gelüsten nach dem Abenteuer angekommen: zwar hatte jener anfänglich neckend abgewehrt, dann aber eines Sonntagmorgens, in Freuden über sein schönes reisiges Weib, ihr selber kunstgerecht das Kleid gegürtet; und so waren sie, auch im übrigen wohlgerüstet, zum Besuch des Urwaldes ausgezogen. Manchmal im wildesten Gestrüppe hatte sie atmend an seiner Brust geruht, aber auf seine Frage, ob es denn nun genug sei, immer lächelnd noch den Kopf geschüttelt, bis er dann aufs neue vor und über ihr das Zweiggewirr durchbrochen und sie sich endlich zu einer Lichtung durchgekämpft hatten, wo ein bemooster Granitblock zum Ruhen einzuladen schien. Gegenüber, hinter einem schmalen Sumpfe, der vom Röhricht ganz durchwachsen war, stieg wiederum, anscheinend undurchdringlich, das Gewirr des Waldes auf.
Aber nur Rudolf hatte sich gesetzt; Anna kniete zwischen einem Flor von Maililien, welche einen Teil der Lichtung überdeckten, und pflückte eifrig einen Strauß zusammen. Als sich ihre Hand allmählich füllte, wandte sie den Kopf: »So hilf doch, Rudolf! Ich für deine, du für meine Stube!«
Er schien es nicht zu hören. »Sieh nur«, sagte er, indem er mit ausgestrecktem Finger gegenüber nach dem Dickicht zeigte; »wer sich nicht wollte finden lassen, müßte dort schwer zu suchen sein!«
Anna war aufgesprungen und sah ihn fast erschrocken an; aber schon hatte sie die Blumen fortgeworfen, und in Übermütiger Zärtlichkeit mit beiden Händen ihn umhalsend, rief sie heiter: »Versuch es nur, ich will dich dennoch finden!«
Ohne Blumen, in der Fülle ihres Glückes, waren sie dann heimgegangen.
– – Bald danach war Annas Vater im Forsthause eingekehrt und mit Jubel von dem jungen Paar empfangen worden. Nur auf wenige Tage hatte sein Amt ihn freigelassen, aber er verstand es, die Stunden auszunutzen. Auch im Schlosse war man zum Abendtee gewesen; der Graf und der Pfarrer schienen sich gegenseitig zu gefallen. Während Rudolf die Frauen am Klavier um sich versammelte, standen jene im Gespräch in einer Fensternische. »Ohne Zweifel«, sagte der Graf, »ich halte ihn für recht befähigt, nur etwas zaghaft noch; aber man muß der Jugend etwas zutrauen, und so hab ich's denn auch mit ihm im Sinne.« Der Pastor nickte: »Exzellenz wollen nachträglich die Männererziehung noch dazutun!« – »Ich denke, wir verstehen uns, Herr Pastor!« Und sie lauschten nun auch dem meisterhaften Spiel des jungen Försters.
Am andern Abend saß der Pastor wieder im Familienzimmer seines Pfarrhauses, und wenn die gute Frau Pastorin in seiner Erzählung auch vergebens auf den romantischen Zauber des Jägerlebens wartete, so ließ er selber sich doch behaglich von der jetzt Ältesten, seiner Käthe, den brennenden Fidibus für seine Pfeife bringen.
– – Es war im Juli an einem Sonntagnachmittage, als die jungen Eheleute in der warmen Sommerluft vor ihrem Hause saßen, wohlgeborgen unter der alten, weithin schattenden Eiche, deren Laub jetzt im sattesten Grün erglänzte. Die Kaffeestunde ging zu Ende, und Anna erhob sich und nahm das Geschirr von dem selbstgezimmerten Säulentische, um es ins Haus zurückzutragen. Nur sollte ihr das nicht ohne Hindernis gelingen; als sie an Rudolfs Sitz vorbei wollte, umschloß er sie mit beiden Armen, und so stand sie gefangen und wagte mit ihrer zerbrechlichen Bürde sich nicht zu rühren. Lächelnd blickte sie zu ihm nieder; das Schweigen des Glückes lag auf beider Antlitz.
Über der Haustür auf dem alten Geweih des Sechzehnenders, das sich bis in die grünen Zweige hinaufstreckte, zwitscherte eine Schwalbe und flog dann über ihren Köpfen wieder in den Sonnenschein hinaus; nur von der seitwärts am Waldesrande sich entlangziehenden Wiese tönte nach wie vor das Summen der Millionen schwebenden Geziefers; mitunter erhob es sich wie übermütig, als wollten sie den Menschen ihre kurze Sommerherrschaft fühlen lassen; dann sank es wieder wie zu leisem Harfenton.
Unwillkürlich hatten beide hingehorcht. »So hör ich's gern«, sagte Anna; »nur sollen sie mir nicht ins Zimmer kommen.«
Rudolf bejahte nachdenklich: »Aber sie kommen ungefragt; horch nur, es klingt ganz zornig, und sie dürsten auch nach unsrem Blute.«
»Laß sie«, versetzte heiter die junge Frau; »das Tröpfchen wollen wir ihnen gönnen.«
Über Rudolfs Augen flog es wie ein Schatten, und er schloß die Arme fester um die schlanken Hüften seiner Frau. »Meinst du?« sagte er gedehnt. »Es gibt eine schwarze Fliege, diese Sommerglut brütet sie aus, und sie kommt mit all den andern zu uns, in dein Haus, in deine Kammer, unhörbar ist sie da, du fühlst es nicht, wenn schon der häßliche Rüssel sich an deine Schläfe setzt. Schon mancher hat sie um sich gaukeln sehen und ihrer nicht geachtet, denn die wenigsten erkennen sie; aber wenn er von einem jähen Stiche auffuhr und sich, mehr lachend noch als unwillig, ein Tröpflein Blutes von der Stirn wischte, dann war er bereits ein dem Tod verfallener Mann.«
Anna hatte mit verhaltenem Atem zugehört; nun fuhr sie mit der freien Hand ihm über Stirn und Haare: »Du könntest einem bange machen, Rudolf; aber ich will diese schwarze Fliege fortjagen, denn sie kommt aus deinem Hirn und soll mir nicht dahin zurück; ich habe nie von diesem Spuk gehört.«
Er ließ sie gewähren; nur seine Augen suchten in zärtlicher Angst die ihren festzuhalten. »Aller Spuk ist selten«, sagte er leise; »aber die schwarzen Fliegen sind doch wirklich da!«
»Nein!« rief sie, indem sie sich zu ihm neigte und, das Brett mit Kannen und Tassen emporhebend, es anmutig fertigbrachte, ihm den Mund zum Kuß zu reichen; »nein, Rudolf, nun sind sie alle fort! – Und nun laß mich!« setzte sie hinzu, da eben die Magd die neueste Zeitung auf den Tisch legte, welche, wie gewöhnlich um diese Zeit, des Oberförsters Knecht ihr ins Küchenfenster hineingereicht hatte. »Nun studier deine Zeitung und sieh zu, ob auch etwas für deine Frau darin ist!«
Er hatte sie freigelassen und sah ihr nach, da sie in das Haus ging; dann nahm er die Zeitung und begann zu lesen. Aber er las nur obenhin und ließ oft die Hand, welche das Blatt hielt, sinken; erst als er auch die letzten Spalten überflog, wurde seine Aufmerksamkeit gefesselt, jedenfalls schienen seine Augen über eine Notiz von wenig Zeilen nicht hinauszukommen. Es mochte nichts Heiteres sein, denn schwere Stirnfalten drückten seine Augenlider, während er noch immer darauf hinstarrte; oder hatte Frau Anna doch die schwarzen Fliegen nicht verjagen können? Plötzlich erhob er sich und legte die Zeitung auf den Tisch, indem er zugleich nach seinem Hute langte, den er über sich an einem Zweige aufgehangen hatte.
Aus dem offenen Hausflur rief die Stimme seiner Frau: »Was willst du, Rudolf? Gehst du fort?«
»Nur zum Andrees!« rief er zurück; »er soll den Köder in den Fuchseisen noch erneuern!«
»So wart doch wenigstens, bis die ärgste Glut vorüber ist!«
Aber er winkte nur noch mit der Hand und war bald auf dem Wege, der an des Forstwärters Haus vorbei zum Walde führte, hinter dem Gebüsch verschwunden.
Was Rudolf in der Zeitung gelesen hatte, lautete wörtlich wie folgt:
»Am letzten Dienstage, so wird von glaubhafter Seite uns berichtet, saß der erst kürzlich verheiratete Hufschmied Br... zu Wallendorf nach Feierabend mit seiner Frau im Wohnzimmer. Das Gespräch zwischen den Eheleuten war eine Weile stumm gewesen, als der Mann wieder anhub: ›Heute sind es gerade dreizehn Jahre, daß ich von einem tollen Hund gebissen wurde! Man sagte mir damals, ich solle mich nicht verheiraten; aber es hat mir bis jetzt doch nichts darum geschadet.‹ Die Frau, welche erst in diesem Augenblick von jenem Vorgang hörte, erschrak heftig; noch mehr aber, als sie jetzt in das plötzlich verzerrte Antlitz ihres Mannes blickte. Und kaum waren einige Minuten verflossen, als die Nachbaren auf ihr Geschrei herbeieilten und den Unglücklichen, bei dem schon alle Zeichen von Tollwut ausgebrochen waren, an Händen und Füßen fesseln mußten.«
Das war es, was Rudolf gelesen und was so ganz von ihm Besitz genommen hatte, daß es allem übrigen sein Ohr verschloß. Und jetzt auf dem einsamen Wege kamen ihm die Worte, die einzelnen Sätze in ihrer Reihenfolge immer wieder; er suchte anderes zu denken: an seine Mutter, an Anna, sogar an des Herrn Grafen Exzellenz; aber es half nichts, es waren immer nur die schwarzen Buchstaben in ihrem kleinen Zeitungsdruck, die unabweisbar an ihm vorüberzogen.
In der Hütte des Waldwärters traf er diesen nicht daheim; er ging wieder hinaus, ohne auch nur der anwesenden Frau den einfachen Auftrag mitzuteilen. Erst nach einer Weile bemerkte er, daß er nicht den Rückweg nach seinem Hause eingeschlagen hatte, sondern mitten im Walde auf einem Wege schritt, der zwischen hohen finsteren Tannen ausgehauen war. Endlich begann er seiner Gedanken Herr zu werden: was wollte jene furchtbare Geschichte denn von ihm? Ihn hatte niemals weder ein toller noch ein anderer Hund gebissen, und im übrigen – wer konnte aller Menschen Leid mitfühlen wollen? Wog es nicht vielleicht noch schwerer als der Menschheit Sünden, die doch nur Gottes Sohn auf sich genommen hatte?
Grübelnd blieb er stehen; aber es war ja auch kein Mitleid, das er fühlte, er hatte sich ja selber nur belügen wollen! Nein, nein, kein toller Hund; aber – jenes andere, was er nicht zu denken wagte, was er hinter sich in Nacht begraben wähnte! Wenn es wiederkäme – nach zehn, nach zwanzig Jahren? Oder – wer könnte wissen – vielleicht schon jetzt, noch eh der Herbst die Blätter von den Wäldern fegte!
Er fuhr mit beiden Händen vor sich hin, als wolle er ein Schreckbild von sich stoßen; aber er sah es doch, er hörte den Schrei seines Weibes, er sah die Nachbaren – – nein, sie hatten ja keine Nachbaren! Niemand konnte kommen! Plötzlich, als müsse er nun selber ihr zu Hülfe eilen, wandte er sich zur Heimkehr ; rasch und rascher, daß es bald einem Laufen gleich war, eilte er zurück. Aber die Gedanken liefen immer mit: jener Hufschmied, war er auch so feig gewesen? Hatte auch er von selbstsüchtiger Mutterliebe sich den Mund verschließen lassen, eh er das junge Weib in seine Kammer brachte?
Ein Donner rollte über den Wald hin und verhallte dröhnend. Die Glut des Tages hatte sich gelöst: zu beiden Seiten rauschte es durch die Tannen, und kühlend fielen die ersten großen Tropfen auf die heiße Erde. Auch Rudolf atmete auf in dem belebenden Dufte, der sich jetzt erhob, auch ihm floß es wie erquickliche Kühle durch die Adern: was war es denn gewesen, das ihn so erschreckt hatte? Hier ging er ja gesund und kräftig wie nur jemals! Und daheim? Verlockend, wie noch nie, stand seines Weibes schlanke jugendliche Gestalt vor seinen Sinnen. Immer rascher schritt er durch den gewaltig niederrauschenden Regen, bis er das Gebell seiner beiden braunen Hunde hörte, die mit ausgelassenen Sprüngen ihm entgegentobten, und bis er endlich dann mit leuchtendem Angesicht vor seinem blonden Weibe stand.
Freilich, von Kuß und Umarmung des triefenden Geliebten wollte sie für jetzt nichts wissen; lachend, mit vorgestreckten Händen, drängte sie ihn in die Kammer: »Hier, Rudolf, ist der Schlüssel zu deinem Kleiderschrank.
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