»Lassen wir es!« sagte sie freundlich, »es wird noch mehr der schönen Tage geben, eh der Winter kommt.«

Er ergriff eine ihrer Hände, drückte sie heftig und ließ sie wieder: »Ja, Anna; später – später einmal; ich habe morgen auch den ganzen Tag besetzt.«

Sie hing sich an seinen Arm, und während sie aus dem Walde und an dessen Rand entlang nach Hause gingen, suchte sie den beklommenen Atem ihrer Brust zu meistern und über die kleinen Dinge ihres Tagewerks mit ihm zu plaudern.

Das Jahr rückte weiter: der erste Blätterfall begann schon hie und da den Wald zu lichten ; Schwärme von Vögeln, deren Stimmen man nur im Herbst zu hören pflegt, zogen hoch unter den Wolken dahin oder fielen rauschend in die Büsche und flogen weiter, wenn sie an den roten oder schwarzen Beeren sich gesättigt hatten ; auch an der Eiche, die das Dach des Försterhauses beschattete, begannen sich die Blätter bunt zu färben.

Auf dem herrschaftlichen Schlosse hatte inzwischen der Graf noch eine neue Arbeit für seinen jungen Förster ausgesonnen: die große Wildnis sollte endlich wieder in ordnungsmäßige Kultur genommen, ein daranstoßender Sumpf trockengelegt und dann bepflanzt werden; oberflächliche Vermessungen, so gut es hier und bei der treibenden Eile des Grafen geschehen konnte, waren bereits vorgenommen worden; nun galt es, Karten zu entwerfen und Kosten- und wer weiß was sonst für Anschläge auszuarbeiten und in kürzester Frist dem stets ungeduldigen Gebieter vorzulegen. Aber Rudolf konnte seinen Gedanken nicht mehr wehren, immer ihren eigenen dunkeln Wegen zuzustreben, und so rückte trotz seines Fleißes alles doch nur mühsam weiter. Schon ein paarmal war es darüber zwischen ihm und dem Grafen zur Erörterung gekommen, und in seinem Hirn begann ein Brüten, wie er alledem entrinnen möge. Sein geliebtes Klavier stand trotz Annas Bitten seit Monden unberührt; die Kunst, welche auch in ihren düstersten Abgründen nach dem Lichte ringt, durfte nichts von dem erfahren, was in ihm wie unter schwerem Stein begraben lag.

– – An einem Fußsteig, welcher in der Richtung vom Schlosse her durch den Wald führte, lag oder stand vielmehr zwischen zwei Erdaufwürfen eingeklemmt ein roher, aber mächtiger Granitblock; wie angenommen wurde, ein Grenzstein aus einem nicht allzu fernen Jahrhundert; denn nach der Seite des Steiges hin waren auf der bemoosten Oberfläche einige von den kürzeren Runenzeilen sichtbar, welche in heutiger Sprache heißen sollten : »Bis hieher ; niemals weiter.«

An diesem Orte, gegen die Rückseite des Steines gelehnt, saß eines Vormittags der junge Förster. Er hatte die von Anna ihm mitgegebenen Brotschnitte aus seiner Jagdtasche genommen; aber er aß nur einen kleinen Teil davon, das übrige brach er in kleine Brocken und streute es um sich her; die Vögel würden es schon finden.

Vor ihm breitete sich eine junge Birkenschonung aus; auf einer abgestorbenen Eiche, die ihm gegenüber hoch daraus hervorragte, saß ein alter Kolkrabe, der hüpfend und flügelspreizend an dem Halbteil eines jungen Hasen zehrte. Ohne Anteil, wie ohne Anreiz, sah Rudolf diesem Treiben zu; der Räuber hatte nichts von ihm zu fürchten. Plötzlich wandte er den Kopf; der Laut von Stimmen, die wie im Gespräche miteinander wechselten, war an sein Ohr gedrungen; und jetzt, in der Richtung vom Schlosse her, näherten sich auch Schritte auf dem Fußsteige, welcher durch den älteren Bestand des Waldes hier vorbeiführte. Rudolf hatte bereits die Stimme des Grafen erkannt; die andre mochte dessen Schwiegervater, dem alten General, gehören, der vor einigen Tagen zum Besuch gekommen war. Er wollte aufstehen und sich unbemerkt entfernen; aber ein Wort, das er deutlich genug vernahm, bannte ihn noch an seine Stelle. »Dein junger Förster«, sagte die ältere Stimme, »soll ja ein liebenswürdiger Mann sein; auch von passabler Familie, wie es heißt.«

Eine Antwort des Grafen vernahm Rudolf nicht; sie mochte nur in einer bezeichnenden Gebärde bestanden haben; denn nach einer Pause hörte er den andern wieder sagen: »Du scheinst nicht beizustimmen; nun, ich hörte auch nur so.«

»O doch«, kam jetzt des Grafen Stimme; »er schien sich anfangs auch gut anzulassen; aber seit ein paar Monaten weißt du, ich sehe jetzt, Papa: ein guter Mann, aber ein schlechter Musikant!«

Der alte Herr lachte behaglich: »Und ich dachte, daß gerade die Musik zu seinen Liebenswürdigkeiten zählte!«

»Ja, ja, das ist nun schon, Papa; er spielt Chopin und hat Jean Paul gelesen, aber das alles hilft nur nicht.«

Das übrige ging dem Lauschenden verloren, die Herren waren eben hinter den Erdhügel getreten, in dessen Mitte sich der Stein befand. Rudolf schloß die Augen ; er mußte ja gleich ein Weiteres vernehmen, sobald die beiden auf dem Steige fortgingen; aber es blieb noch immer still, nur das Klopfen seines Herzens wurde immer lauter, fast, dachte er, könne es ihn verraten. Dann wieder war ihm doch, als ob er sprechen höre; weshalb setzten denn die Herren ihren Weg nicht fort? Studierten sie die Runen auf dem Felsblock, oder waren sie nur in näherer Erörterung ihres Gesprächsstoffes stehengeblieben? Alle peinlichen Augenblicke seines kurzen Amtslebens tauchten in schroffen Umrissen vor ihm auf, und ihm war auf einmal, als höre er das alles von der überlegenen Stimme des Grafen punktweise auseinandersetzen.

Er schüttelte sich, er wußte ja, daß das nur Täuschung sei. Aber jetzt kamen die Schritte wirklich auf der andern Seite des Hügels hervor; der alte Herr schien zuletzt gesprochen zu haben, denn der Graf antwortete, und laut genug, daß der junge Förster jedes Wort verstehen konnte: »Sie haben recht, Papa, aber – passons là-dessus! Der Vater hatte auch so seine Talente, konnte Klavier spielen und Walzer komponieren, er war mein Schulkamerad, und Sie wissen, man sollte es nicht, aber – enfin, man trägt doch immer wieder der Vergangenheit Rechnung.«

Es trat eine Stille ein, und die Schritte der Herren entfernten sich, bis sie allmählich unhörbar wurden.

Der unglückliche Lauscher nickte düster vor sich hin: »Bis hieher, niemals weiter!« Der ihm bekannte Inhalt der Runenzeilen kam ihm immer wieder. Sollte der alte Stein auch noch den jetzt Lebenden die Grenze weisen? – Da fiel sein Auge auf die abgestorbene Eiche, wo noch immer, hüpfend und flügelspreizend, der Rabe an dem toten Hasen fraß und zupfte. Hastig, wie in gewaltsamer Befreiung, sprang er auf und griff nach seiner Büchse. Ein Druck noch, ein Knall »Niemals weiter!« schrie er, und der mächtige Vogel samt seiner Beute stürzte polternd durch die dürren Äste. Dann, ohne sich nach seinem Opfer umzusehen oder seine Büchse neu zu laden, wandte er sich ab und schritt seitwärts tiefer in den Wald hinein. – –

Lange hatte Anna auf ihn warten müssen; jetzt saß er wie abwesend neben ihr am Mittagstische, der frische Knall, womit er den Raben niederschoß, war längst verhallt; nur die Reden der beiden Herren vom Schlosse waren in voller Schärfe noch vor seinen Ohren. Das junge Weib beobachtete ihn verstohlen, und ein paarmal zuckten ihre Lippen, als ob sie reden wolle, aber sie fühlte wohl, sie durfte heute nur schweigend ihm zur Seite bleiben.

Gleich nach Mittag ließ er seinen Rappen satteln. »Willst du schon wieder fort?« rief Anna fast erschrocken und hing sich wie eine Last an seinen Arm.

Ja, er müsse fort; in der letzten Sturmesnacht, drüben bei den äußersten Parzellen, seien Windbrüche in den Eichenschlag gefallen.

»So reite morgen!« bat sie, »der Schaden wird ja drum nicht größer werden!«

»Morgen? Morgen ist wieder andres da.«

Er blickte sie nicht an; er stand wie ein Gefesselter, der ungeduldig auf Befreiung wartet, aber sie klammerte sich nur fester an ihn. »Ich bin wohl töricht«, sagte sie, »aber mir ist so bange deinetwegen! Rudolf, lieber Mann, bleib bei mir, laß mich nur heute nicht allein!« Und da er unbeweglich blieb, legte sie die Hand an seine Wange, daß er die Augen zu ihr wenden mußte. »Du siehst so finster aus, du hörst mich nicht!«

Wohl hörte er sie; aber was sollte ihm die schöne Lebensfülle, die aus dieser Stimme ihm entgegendrängte? Wie eine Todesangst vertrieb es ihn aus der geliebten Nähe.

Hastig bückte er sich und berührte mit seinen Lippen flüchtig ihre Wange: »Laß mich jetzt, ich komme ja zu Abend wieder!«

Er stand schon vor der Haustür, wo die Magd das Pferd am Zügel hielt, während Anna noch seine Hand gefaßt hatte. Plötzlich riß er sich los, nickte noch einmal nach ihr zurück und ritt davon.

Aber es war bald nur noch der Rappe, welcher sich die Wege suchte; ob sie zu den Windbrüchen in den Eichen führten, was kümmerte das den Reiter!

Von der Treppenstufe vor der Haustür hatte Anna ihm nachgeblickt, solange ihre Augen ihn erreichen konnten ; dann griff sie über sich und legte ihre Hand um einen Ast der Eiche, welche hier ihr dichtestes Gezweige wölbte. So blieb sie stehen, die Wange gegen den eigenen schlanken Arm gepreßt, ihre Augen füllten sich mit Tränen, ein Schluchzen drängte sich herauf, das sie nun nicht zurückhielt. Was sollte sie beginnen? – Sie hatte nicht den Mut verloren, sie wußte, sie durfte ihn nicht verlieren; nur nachts, wenn er in schwerem Schlummer stöhnte, hatte sie wohl in jähem Schreck sich über ihn geworfen; sonst, sie meinte doch, hatte sie tapfer ihre Angst hinabgeschluckt. – Was hatte es ihr geholfen?

Über ihr ging ein Lufthauch durch den Baum, und ein Regen gelber Blätter wirbelte zu Boden; da gedachte sie der Fahrt zu Bernhard, die sie Rudolf neulich vorgeschlagen hatte; die letzten schönen Tage schienen jetzt gekommen. Aber plötzlich, und sie schrak jäh in sich zusammen, kreuzte schon ein andres ihre grübelnden Gedanken. Sollte es Eifersucht auf Bernhard sein? – Unmöglich! – Aber dennoch; Rudolfs seltsames Gebaren war dann auf einmal zu erklären.

Noch einige Augenblicke blieb sie sinnend stehen; eine Hoffnung, ein mutiges Lächeln verklärte ihr junges Antlitz: sie meinte endlich dem unbekannten Feinde Aug in Aug zu schauen. Dazu, in nächster Zeit, erwarteten sie den Besuch von Rudolfs Mutter; war auch die Frau Forstjunker ihr selbst noch immer eine Fremde, sie liebte, sie kannte ihren Sohn seit seinem ersten Schrei: mit ihr im Bunde wollte Anna den Feind bekämpfen.

Ihre Hand ließ den Ast, den sie so lange umfaßt gehalten hatte, fahren; dann, ihr blondes Haar zurückschüttelnd, ging sie mit kräftigen Schritten in das Haus zurück. –

Der Nachmittag verging, das Forsthaus und die alte Eiche glühten im Abendschein; dann kam die Dämmerung; dann hinter dem Walde stieg der Mond empor und warf seinen bläulichen Schimmer auf den leeren Platz am Hause; aber Rudolf war noch nicht zurück.

Wieder, wie am Vormittage, saß Anna wartend im Wohnzimmer, nur brannte jetzt die Lampe, und es war noch stiller um sie her.