Nur ein Händedruck wurde gewechselt; dann nahm er schweigend die Tasse, welche sie ihm reichte, und Anna, die ihr Frühmahl schon beendet hatte, zog ihren Stuhl zu ihm heran und strickte weiter an einem Unterjäckchen, das noch vor der rauhen Jahreszeit zu dem gebrechlichen Brüderlein ins elterliche Pfarrhaus wandern sollte. Ihrer Augen bedurfte diese Arbeit nicht; die ruhten auf ihres Mannes Antlitz: er sah viel besser aus, als da er fortgegangen war; auf seiner Stirn und über den Augenlidern, die sich mitunter hoben und dann sinnend wieder senkten, lag etwas wie eine frohe Zuversicht; gewiß, während er so schweigend neben ihr sein Mahl verzehrte, überdachte er die gute Botschaft, die er noch am selben Vormittag dem Grafen überbringen mußte.

Aber Frau Anna irrte; das Schweigen ihres Mannes galt ihr selber: es war das Bekenntnis seiner Schuld, wofür sein Herz die Worte suchte, und was von seiner Stirne leuchtete, das war der Abglanz jener wolkenlosen Landschaft, in die er heute noch mit ihr hinabzuschreiten dachte.

Da, bevor zwischen beiden noch ein Wort gesprochen worden, pochte es an die Stubentür, und Rudolf fuhr aus seinem Sinnen auf. Es war nur der alte Waldwärter Andrees, der ins Zimmer trat, um über dies und jenes zu berichten; aber mit ihm war etwas anderes unsichtbar hereingekommen, was wir Zufall zu nennen pflegen, was auf den Gassen der Wind vor unsere Füße oder durchs offene Fenster in das Innere unseres Hauses weht.

Rudolf hatte die verschiedenen kleinen Mitteilungen entgegengenommen und hie und da ein zustimmendes oder anweisendes Wort dazu gegeben. »Ist sonst noch etwas, Andrees?« frug er, als dieser mit seinem Bericht zu Ende schien.

– »Sonst nichts, Herr Förster; nur daß der Holzschläger Peters aus der Anstalt wieder da ist.«

»Woher? Welcher Peters?« frug Rudolf hastig.

»Es war vor des Herrn Försters Zeit«, erwiderte Andrees. »Er hatte sich eingebildet, als einziger Sohn von den Soldaten freizukommen und dann drunten mit des reichen Seebauern Tochter Hochzeit zu machen; als aber auf beidem eine Eule gesessen hatte, da wurde er wirrig und mußte in die Anstalt.«

Anna hatte zu stricken aufgehört; einen losen Sticken an die Lippen drückend, horchte sie aufmerksam dieser Erzählung. »Der arme Mensch«, sagte sie mitleidig »ist er denn jetzt wieder ganz gesund?«

»Muß doch wohl, Frau Förstern«, meinte Andrees »sogar 'ne Frau hat er sich mitgebracht; freilich, keine reiche: es ist eine Wärterin aus der Anstalt, die sich in den jungen Kerl verliebt hatte.«

Ein Ton wie ein Schreckenslaut entfuhr den Lippen der jungen Frau: »Mein Gott, welch ein Wagstück! Wenn es wiederkäme!«

»Soll wohl sein können«, erwiderte Andrees; »aber das Weibsbild hat sich dann doch selber nur betrogen; sie muß ja wissen, wen sie sich gekauft hat.«

Anna starrte schweigend vor sich hin, als ob ihre Phantasie die schreckensvolle Möglichkeit verfolge; sie achtete kaum darauf, als Rudolf, der während dieses Gespräches keinen Laut von sich gegeben hatte, jetzt mit abgewandtem Antlitz fast schwankend sich erhob und, das Beben seiner Stimme mühsam nur beherrschend, zu dem Waldwärter sagte: »Kommen Sie nach meinem Zimmer, Andrees; es sind noch Postsachen für Sie mitzunehmen.« Als sie aber dahin gekommen waren, meinte Rudolf, er müsse bis zum Abend warten, es komme doch noch einiges dazu.

Wer nach dem Fortgange des Waldwärters hier unbemerkt hätte hineinblicken können, der hätte den jungen Förster in der Mitte des Zimmers gleich einem düsteren Bilde stehen sehn; mit untergeschlagenen Armen, das auf die Brust gesunkene Haupt von den schweren Atemzügen kaum bewegt. Nur einzelne karge Worte: »Schweigen!« und wieder »Schweigen-um jeden Preis und bis ans Ende!« wurden dann und wann von seinen Lippen laut.

Endlich, als dann die Wanduhr über seinem Schreibtisch mit lautem Schlage aushob, fuhr durch diesen einzigen Gedanken ihm ein anderer: er schüttelte sich, und nachdem er mit schweren Schritten ein paarmal auf und ab gegangen war, nahm er einige Papiere aus einem Schubfach; es war hohe Zeit, er mußte ja zum Grafen und den glücklichen Bericht erstatten.

– – Es ging schon gegen Mittag, als die junge Frau aus dem Küchenfenster, hinter welchem sie beschäftigt war, ihren Mann auf dem hier vorüberführenden Wege heimkehren sah und bald danach ihn auf dem Hausflur und nach seinem Zimmer gehen hörte. Unwillkürlich ruhten ihre emsigen Hände: Rudolf pflegte sonst nach solchem Gange »zur Herzerfrischung«, wie er sagte, sie für eine Weile aufzusuchen, sich ein paar Worte oder auch nur einen Händedruck von ihr zu holen; und jetzt kam es ihr plötzlich, daß er auch vorhin so jäh und ohne beides von ihr fortgegangen sei. Noch einige Minuten stand sie horchend, ob nicht die eben geschlossene Tür sich wieder öffnen möge; dann legte sie die Geschirre, die sie in der Hand hielt, fort und ging nach Rudolfs Zimmer.

Es schien völlig still da drinnen; als sie die Tür öffnete, fand sie ihn mit aufgestütztem Kopf an seinem Schreibtisch sitzen. Sie setzte sich an seine Seite und nahm seine Hand, die er ihr schweigend überließ; erst als sie den Druck derselben in der ihren fühlte, sprach sie leise: »Was war's denn, Rudolf? Warum gingst du mir vorüber? Brauchst du heute keine Herzerfrischung, oder mißtrauest du schon meiner armen Allmacht?«

Dem Drängen dieser liebevollen Stimme widerstand er nicht; ihm war ja auch nichts Übles widerfahren; im Gegenteil, sein Bericht hatte den Grafen in die wohlwollendste Laune versetzt; er hatte von dem notwendigen Abgange des altersschwachen Oberförsters gesprochen: schon jetzt werde Rudolf die Geschäfte und, sobald die Pensionsverhältnisse des Abgehenden geordnet wären, auch dessen höhere Stelle endgültig übernehmen müssen.

Ein Laut freudiger Überraschung entfuhr bei dieser Mitteilung dem Munde der jungen Frau. »Wie schön!« rief sie, stolz zu ihrem Mann emporblickend; »und dies Vertrauen, das du dir so bald erworben hast!«

Rudolf drückte den blonden Kopf seines Weibes gegen seine Brust, nur damit die glücklichen Augen nicht in seinem Antlitz forschten ; denn – wie sollte er nun das Weitere sagen? Schon seine bisherigen Pflichten lagen seit dieser Morgenstunde wie eine Angst ihm auf dem Herzen; bei dem Vorschlage des Grafen hatte es wie ein unübersteiglicher Berg sich vor ihm aufgetürmt; und statt eines freudigen Dankes hatte er nur zu einem Versuch bescheidenen Abwehrens sich ermannen können. Aber dieser Versuch war vergeblich gewesen; der Graf hatte nur gelächelt: »Mein junger Freund, nicht nur l'appétit vient en mangeant; es geht auch in andern Dingen so; ich selber habe nicht gewußt, was ich zu leisten vermochte, bis ich gezwungen wurde, es zu wissen.« Auf seine verwirrte Erwiderung: »Exzellenz ehren mich zu sehr mit einem solchen Vergleiche«, war ihm dann nur geantwortet: »Nun, nun, Herr Förster, ein jeder in seinem Kreise! Ich werde Sie denn doch vor solche Probe stellen müssen.«

Während dieser Vorgang sich ihm peinlich in der Erinnerung wiederholte, hatte Anna sich aus seinen Armen losgewunden. »Du!« rief sie, »wie lange willst du mich gefangenhalten!« Dann stand sie aufgerichtet vor ihm: »Aber du bist nicht froh, Rudolf; noch immer nicht! Und ich dachte schon an einen Jubelbrief nach Hause.«

Eine demütigende Scham überkam ihn, aber zugleich ein Drang, vor diesen klaren Augen zu bestehen. »Schreibe nur deinen Brief«, sagte er aufstehend; »es wird zwar aller meiner Kraft bedürfen; aber – ja, Anna, Dank, daß du gekommen bist.«

Kurz darauf waren aus der Oberförsterei ein großer Aktenschrank und ganze Karren von Aktenbündeln angelangt und in Rudolfs Zimmer untergebracht; auch eine Kammer für einen Schreibgehülfen hatte Anna einrichten müssen. Rudolf selber saß jetzt meistens in die Nacht hinein bei seiner Arbeit; selbst am Sonntage, zum Kirchgang, riß er sich erst im letzten Augenblicke los; ja, wenn Anna während des Gottesdienstes zu ihm aufblickte, glaubte sie eher arbeitende Gedanken als Andacht auf seinem Gesicht zu lesen. Im Hause über Tag sah sie ihn fast nur bei den Mahlzeiten, die er möglichst rasch beendete, und sosehr er oftmals einer Herzerfrischung zu bedürfen schien, er kam immer seltener, sie bei ihr zu suchen.

So mußte sich die junge Frau denn wohl gestehen: was ihres Mannes Stirn umwölkte, war etwas andres, als was der wechselnde Tag zusammentreibt und wieder auseinanderweht. Aber aus welchen ihr unbekannten Abgründen war das aufgestiegen? War es noch rückgebliebener Schatten jener Krankheit, die er bei dem Besuch im Elternhause kaum erst überstanden hatte, oder war dies sein eigenstes Wesen, das sich jetzt ihr offenbarte? Zwar, die Last der Arbeit dauerte fort; aber an der ausreichenden Kraft des geliebten Mannes auch nur entfernt zu zweifeln konnte ihr nicht einfallen; tat das doch auch der Graf, der scharfblickende Menschenkenner, nicht.

Sie konnte sich keine Antwort geben; Rudolf selbst aber, wenn sie offen ihn befragte, schob alles auf die überkommene doppelte, ja dreifache Arbeit und vertröstete sie auf die Zeit, wenn erst die von dem kranken Vorgänger angehäuften Reste abgearbeitet sein würden. Ließ sie ungläubig dennoch nicht mit Bitten nach, dann sah sie Qual und Zärtlichkeit so bitterlich auf seinem Antlitz kämpfen, daß sie jäh verstummen mußte. So schwieg sie denn auch ferner und suchte nur, wo sie es immer konnte, ihm zu bringen, was er nicht mehr von ihr zu holen kam. Das Nachtarbeiten war allmählich zur Regel geworden; aber Frau Anna ließ ihn nicht allein; auch für sie gab es ja, wenn sie wollte, Arbeit genug. »Bei unseren neuen Amtsgeschäften« – so hatte sie der Mutter nach Haus geschrieben – »haben wir hier einen langen Tag; schickt mir nur alle euere Winterwolle, denn alle kleinen Beine werde ich bestricken können.«

Immer mehr fühlte Rudolf sich in einem dunklen Kreis gefangen. Auf einem Reviergange ließ er sich von dem alten Andrees den als Ehemann aus der Anstalt zurückgekehrten jungen Holzschläger zeigen: es war ein gesund ausschauender robuster Bursche; nur in seinen Augen war noch etwas wie ein stumpfes Überhinsehen. Rudolf beobachtete ihn lange, wie er unter den andern die Axt mit seinen starken Armen schwang dann ging er fort, ohne ein Wort an ihn zu richten. Aber schon am folgenden Tage stand er, er wußte selbst nicht wie, an demselben Platze unter den Holzschlägern ; der Mensch hatte eine unheimliche Anziehungskraft für ihn gewonnen.

Plötzlich wandte er sich ab; es trieb ihn mit Gewalt nach Hause, er mußte und wenn auch nur einen Blick in die klaren Augen seines Weibes tun. Aber er brauchte nicht so weit zu gehen; als er in den Fahrweg einbog, der durch den Wald führte, kam sie ihm entgegen. »Anna!« rief er und schloß sie in seine Arme.

»Ja, da bin ich, Rudolf; so auf gut Glück bin ich dir nachgelaufen.« Und langsam erhob sie ihre Augen zu den seinen; es war, als ob sie recht tief in ihnen lesen wollte.

»Was hast du, Liebste?« frug er.

»Dich!« erwiderte sie zärtlich.

»Sonst nichts?«

»Doch; noch einen Einfall!« Und sie nickte lächelnd zu ihm auf.

»Laß hören!« sagte er zerstreut; er war in ihren liebevollen Augen ganz verloren.

»Ja, weißt du, Rudolf – aber du darfst mich nicht so ansehen, sonst hörst du doch nicht –, ich war im Schuppen, wo das Kabriolett steht; es ist ja morgen Sonntag; wollen wir nicht zu Bernhard fahren? Auf unserer Hochzeit haben wir es ihm so fest versprochen! Du mußt einmal hinaus, und auch ich möchte gern die kleine Julie wiedersehen; ich glaube«, fügte sie lächelnd bei, »sie hat dich damals mir wohl nur so kaum gegönnt.«

Rudolf blickte noch immer auf seine Frau, aber seine Augen schienen ohne Sehkraft. Zu Bernhard – jetzt zu Bernhard! Warum überfiel es ihn plötzlich, als habe er kein Recht auf dieses Weib, das doch sein eigen war, deren jugendlichen Leib er jetzt, in diesem Augenblick, in seinen Armen hielt? Die Worte seiner Mutter klangen ihm wieder vor den Ohren: wenn Bernhard auch nur um eine Stunde ihm zuvorgekommen wäre!

»Rudolf, lieber Mann«, sagte Anna leise. Aber er schloß nur seine Arme fester um sie; seine Gedanken ließen ihn nicht los. Was würde werden, wenn ihn ein Unfall, wenn der Tod ihn fortnähme? – Er richtete sich straff empor, als müsse er das Bild, das seine Augen sahen, überwachsen ; aber es wurde nicht anders, und er sagte es sich dennoch: über seinem Grabe würde jener um sie werben, und Anna – würde Anna widerstehen?

Eine nie empfundene Leidenschaft für sein schönes Weib ergriff ihn; es drängte ihn, sich vor sie hinzuwerfen, es ihr zu entreißen, daß seine Gedanken ein Frevel an ihrer Liebe seien, daß das niemals, nie geschehen könne. Aber es war etwas, das seinen Mund verschloß; etwas, das er verschuldet hatte, das nicht wiedergutzumachen war.

Demütig löste er die Arme von ihrem jungen Leibe; sie aber zog sein Haupt zu sich herab und küßte ihn.