»Was ist das?« rief sie. »Was hast du da gemacht? Ein Totenkopf!«
Seine Lippen zitterten, als ob sie mit noch ungesprochenen Worten kämpften. »Nein, nein«, sagte er; »das nicht, so war es nicht gemeint.«
Anna sah ihn ängstlich an: »Weshalb nimmst du deinen Arm fort, Rudolf? Du hältst mich jetzt so selten nur in deinem Arm!«
Er riß sie heftig an sich, und noch einmal sank ihr Kopf an seine Schulter; wie in Angst, als ob sie ihm entschwinden könnte, umschloß er sie mit beiden Armen. So saßen sie lange; nur die Atemzüge des einen waren dem andern hörbar. »Anna!« kam es zuerst dann über seine Lippen.
»Ja, Rudolf?«
»Was meinst du, Anna« – aber es war, als würde er nur mühsam seiner Worte Herr –, »ich dächte, wir könnten morgen wohl zu Bernhard fahren?«
»Zu Bernhard?« Sie hatte sich losgewunden, das Kartenhaus, das sie sich mit soviel Sorge aufgebaut hatte, drohte einzustürzen: Rudolf war nicht eifersüchtig! Oder – als ob sie alles um sich her vergesse, stand sie vor ihm – sollte es mit dieser Reise eine Liebesprobe gelten?
Wie auf sich selber scheltend, schüttelte sie zugleich das Haupt; aber sie mühte sich umsonst, ein andres zu ergrübeln; der Ton seiner Stimme war nicht gewesen, als ob er sie zu einer Lustreise hätte auffordern wollen.
Und jetzt hörte sie dieselbe Stimme wieder: »Du antwortest mir nicht, Anna!«
Sie warf sich vor ihm nieder: »Rudolf, geliebter Mann! Wann und wohin du willst!« Ein leuchtender Strom brach aus den blauen Augen, und die jungen Arme streckten sich ihm entgegen.
Aber nur eine kalte Hand legte sich auf ihr Haupt, das flehend zu ihm aufsah: »So laß uns versuchen, ob wir schlafen können.«
Am andern Morgen saß Rudolf schon wieder früh am Schreibtisch, seine Feder flog, die halbfertigen Arbeiten wurden rasch vollendet, ebenso rasch mußte der Schreiber sie kopieren. Inzwischen ordnete er selbst, was an Schriften und Karten sich auf Tisch und Stühlen in den letzten Tagen angehäuft hatte; oftmals warf er einen Blick auf die Wanduhr, um dann wieder in stummem düsterem Vorwärtsdrängen seine Arbeit fortzusetzen.
Als es acht geschlagen hatte, nahm er die von dem Schreiber fertiggestellten Schriften und machte sich auf den Weg zum Schlosse. Im Zimmer des Grafen, der in anderen Arbeiten saß, gab er auf die hastig hingeworfenen Fragen rasch und knappe Auskunft; es schien ihm wenig daran gelegen, ob seine Meinung Beifall finde.
Der Graf sah seinem Förster in das blasse Gesicht, und als dieser nach einem längeren geschäftlichen Gespräche fortgegangen war, blickte er noch eine Weile gegen die Tür, bevor er sich wieder zu der vorhin verlassenen Arbeit wandte.
– – Nachdem das junge Ehepaar zeitig sein Mittagsmahl eingenommen hatte, wurde der Einspänner aus dem Schuppen gezogen und der Rappe in die Deichsel gespannt. Wohl eine Stunde lang fuhren sie am Rande der gräflichen Waldungen; wieder, wie tags vorher, stand die goldene Septembersonne am Himmel, und der stärkende Duft des herbstlichen Blätterfalles erfüllte die Luft um sie her.
Nach einer weiteren Stunde sahen sie den Gutshof liegen; als sie in eine kurze Allee von Silberpappeln einbogen, lag am Ende derselben, durch einen sonnenhellen Raum davon getrennt, das Wohnhaus vor ihnen.
»Da ist schon Bernhard!« sagte Anna und wies auf eine kräftige Gestalt, welche neben der Haustür stand und, die Augen mit der Hand beschattend, dem ankommenden Gefährt entgegensah.
Rudolf nickte nur, und Anna sah es nicht, daß seine Hände sich wie in verbissenem Schmerz zusammenballten; nur das Pferd, das er am Zügel hielt, empfand es und bäumte sich in seiner Deichsel.
Als der Wagen vor dem Hause anfuhr, war das verschwunden. »Da sind wir endlich!« sagte er, Bernhard die Hand entgegenstreckend.
Bernhard sah ein wenig überrascht, fast verlegen aus; aber auch das verlor sich gleich. »Seid willkommen, du und Anna!« sagte er herzlich. »Ich erkannte euch erst, als ihr hier in den Sonnenschein hinausfuhrt.«
Nun kam auch Julie aus dem Hause, und die Begrüßung wurde lebhafter; und als man erst drinnen um den blinkenden Kaffeetisch der jungen Wirtin saß, geriet auch ohne die Männer sogleich die Unterhaltung, denn das Geschwisterpaar war kürzlich in Annas Elternhause auf Besuch gewesen, und diese hatte fast noch mehr zu fragen, als jene zu berichten. Nach beendetem Kaffee drang Rudolf auf einen Spaziergang durch die Gutsflur, die zwar seiner Frau, aber ihm noch nicht bekannt sei. Anna wollte eben ihren Arm in den der Freundin legen, als sie Rudolf sagen hörte: »Du, Bernhard, nimmst dich meiner Frau wohl an; Fräulein Julie wird mit mir sich plagen müssen; übrigens« – und er wandte sich zu dieser –, »ich verspreche, heute nicht zu zanken.«
»Sie haben auch heute keine Ursache mehr«, entgegnete Julie leise und warf, plötzlich ernst geworden, einen liebevollen Blick auf ihren Bruder.
Dem jungen Förster war weder dieser Blick noch dessen Bedeutung entgangen; aber er nickte düster vor sich hin, als sei ihm das so recht, dann folgte er mit Bernhards Schwester den Vorausgehenden. Nachdem Haus und Garten und pflichtgemäß dann auch noch Keller und Scheune besichtigt waren, ging man ins Freie, zunächst über abgeheimste Weizenfelder, wo nur noch Scharen von Sperlingen oder mitunter ein Häuflein barfüßiger Kinder ihre Nachlese hielten. Anna mit ihrem zum Zerspringen vollen Herzen rief eins der kleinen Mädchen zu sich, und als es, nach einem ermunternden Worte Bernhards, langsam herangekommen war, zog sie ein blaues Seidentüchlein aus ihrer Tasche und band es, auf den Boden hinkniend, ihm sorgsam um sein Hälschen. Sie küßte das Kind und drückte es heftig an sich. »Behalt das von der fremden Frau!« sagte sie; »doch halt!«, und sie sammelte ein Häuflein kleiner Münzen und drückte die Finger des Kinderfäustleins darum zusammen; dann, während der kleine Flachskopf ihnen stumm mit großen Augen nachsah, ging die Gesellschaft weiter.
Sie gingen wiederum gepaart wie damals auf Annas Heimatsflur, nur daß diese jetzt wiederholt den Kopf zurückwandte und erst, wenn sie einen Blick von Rudolf aufgefangen hatte, das Gespräch mit Bernhard fortsetzte, das ohnehin nicht recht in Fluß geraten wollte. Rudolf freilich beobachtete auch heute unablässig die Vorangehenden und wog bei sich den Ton in Bernhards und in seines Weibes Stimme; aber es war kein unruhiges Verlangen, nur ein leidvolles Entsagen sah aus seinen dunklen Augen.
»Sie wollten nicht zanken, Herr von Schlitz«, sagte neben ihm die Stimme seiner Partnerin ; »aber Sie sind völlig stumm geworden.«
Er wollte eben ein höfliches Wort erwidern, als sie aus der Enge eines mit Hagebuchenhecken eingezäunten Weges heraustraten und nun vor einer weiten Moorfläche standen, auf der hie und da eingestürzte Torfhaufen zwischen blinkenden Wassertümpeln lagen. »Das haben die Gewitterregen uns verwaschen«, sagte Bernhard; »aber wir müssen umkehren, der Weg, der hier am Moor entlangführt, ist nicht für Damenschuhe eingerichtet.«
Rudolf war ein paar Schritte auf dem bezeichneten Wege fortgegangen. »Für uns Männer wird's schon taugen«, sagte er, sich zu Bernhard wendend; »die Damen werden uns entschuldigen; nicht deinen Torf, aber von deinen Jagdgründen möchte ich hierherum noch etwas sehen.«
»Wenn du willst«, meinte Bernhard; »aber es ist nicht viel damit.«
»Nun, so reden wir ein Stück mitsammen!«
Anna blickte ihn an: Was wollte Rudolf? Mit Bernhard allein sein? – Auf seinem Angesicht war nichts zu lesen; nur der beklommene Ton, den sie in seiner Stimme bemerkt zu haben glaubte, schien zu dem einfachen Inhalt seiner Worte nicht zu passen. Aber – es war ja Bernhard; was konnte zwischen ihm und Bernhard Übles denn geschehen! Wie ein Morgenschein leuchtete das Vertrauen zu ihrem Jugendfreunde auf ihrem schönen Antlitz; lächelnd nickte sie den beiden Männern nach, dann nahm sie Juliens Arm, um mit ihr den Rückweg anzutreten.
»Das ist die Rache«, sagte sie scherzend; »vor einem Jahre waren wir es, die sie im Stiche ließen.«
Aber Rudolf und Bernhard redeten nicht miteinander, und die Jagdgründe wurden weder besichtigt noch aufgesucht. Schon lange waren sie schweigend auf dem durch tiefe Wagenspuren zerrissenen Wege fortgegangen, beide die Augen nach der untergehenden Sonne gerichtet, die mit ihren letzten Strahlen das braune Heidekraut vergoldete. Eine Nachtschwalbe mit ihrem lautlosen Fluge huschte vor ihnen auf und duckte sich eine Strecke weiter von ihnen auf den Weg, bis sie wiederum auch hier vertrieben wurde. »Weshalb«, begann endlich Bernhard, wie nur um überhaupt ein Wort zu sagen, »seid ihr nicht im Sommer zu uns gekommen, als die Heide blühte und das Korn geschnitten wurde? Deine Frau schrieb einmal darüber meiner Schwester; aber ihr kamt doch nicht.«
Rudolf, der neben ihm ging, blieb einen Schritt zurück. »Du weißt«, sagte er, »es war von beiden Seiten etwas zu verwinden.«
Der andre zuckte, und seine Hand zitterte, mit der er sich den starken Bart zur Seite strich : »Also Anna hat es dir mitgeteilt, daß ich so beschämt vor ihr gestanden?«
»Du meinst, sie sollte ein Geheimnis mit dir teilen!«
»Nicht das, Rudolf«, sagte Bernhard ruhig; »aber was nützte es dir, zu wissen, daß ich soviel ärmer bin als du?«
Rudolfs letzte Worte waren jäh herausgefahren; jetzt trat er wieder an Bernhards Seite. »Du kamst zu spät«, sagte er; »dasselbe hätte mir geschehen können; und – wenn es so gekommen wäre, ihr wäre dann wohl ein glücklicheres Los gefallen.«
Die lang bedachten Worte waren ausgesprochen; aber seine Stimme wankte, und seine Augen, mit denen er, jetzt stehenbleibend, den andern anstarrte, waren wie versteint.
Bernhard sah ihn fast entsetzt an. »Mensch«, schrie er, »wie kannst du, der Glückliche, so etwas zu mir sprechen?«
Rudolf beantwortete diese Frage nicht. »Bernhard«, sagte er leise, »du liebst sie noch; gesteh es, daß du sie noch liebst!« Ein feindseliges Feuer brannte in seinen Augen, aber er drängte es mit Gewalt zurück.
Bernhard hatte nichts davon gemerkt; er sagte düster: »Du solltest doch der letzte sein, der daran rührte.«
»Nein, nein, Bernhard, du irrst! Sich nicht auf mein Gesicht; aber glaub es mir: es tut mir wohl, daß du sie liebst«; und er ergriff Bernhards beide Hände und drückte sie heftig; »nun weiß ich, du wirst sie nicht verlassen.«
Der andere erhob langsam das Haupt: »Was willst du, Rudolf? Weshalb bist du heute zu mir gekommen? – Gewiß, wenn Anna jemals meiner bedürfte; wenn deine Hand nicht mehr da wäre, ich würde Anna nicht verlassen, nicht – solang ich lebe.«
Rudolf hatte beide Hände vors Gesicht gedrückt. »Ich danke dir«, sagte er leise; »wollen wir jetzt zurückgehen?«
Es geschah so; und die grauen Schleier der Dämmerung breiteten sich immer dichter über Moor und Feld. Rudolf hatte seinen Zweck erreicht: was er bisher nur geglaubt hatte, war ihm jetzt Gewißheit; das übrige, er sagte es sich mit Schaudern, würde sich von selbst ergeben.
Auch Bernhard war in tiefem Sinnen neben ihm geschritten.
»Aber«, begann er jetzt, nachdem sie vom Moore wieder zwischen die Felder hinausgelangt waren, »wie sind wir doch in ein solches Gespräch geraten? Du lebst und bist gesund; weshalb sollte Anna anderer Hülfe bedürfen?«
Rudolf hatte diese Frage erwartet, ja, er hatte sich künstlich darauf vorbereitet; jetzt, da sie wirklich an ihn herantrat, machte es ihn stutzen; ein Gefühl wie bei unredlichem Beginnen überkam ihn, es war schon recht, daß die zunehmende Dunkelheit sein Angesicht verdeckte.
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