»Ich habe dir wohl schon davon gesprochen«, sagte er, »daß ich meinen Vater plötzlich durch einen frühen Tod verlor; es war ein Herzleiden; einem und dem andern unserer Vorfahren ist es ebenso ergangen; allerlei Symptome waren vorausgegangen – – ich war noch ein Kind; aber später hat meine Mutter mir es erzählt, in den letzten Monden hab ich ganz dasselbe auch bei mir bemerkt; es geht mir nach, ich könnte auch plötzlich so hinweggenommen werden.«
Bernhard ergriff seine Hand, deren herzlichen Druck er nicht zu erwidern wagte: »Aber weshalb ziehst du nicht einen Arzt zu Rate, einen Spezialisten?«
»Ich tat es ; neulich bei Gelegenheit meiner Geschäftsreise.«
»Und er hat dir keinen Trost gegeben?«
»Doch, was so die Ärzte schwatzen, aber ich weiß es besser.«
Noch einmal empfand er Bernhards Händedruck, in welchem alle Versicherung eines treuen Herzens lag.
– – Ein paar Stunden später befanden die Förstersleute sich wieder auf der Rückfahrt. Anna saß an ihres Mannes Seite das Haupt geneigt, wie in Gedanken eingesponnen: Rudolf und Bernhard – ihr war es immer wieder, als sähe sie die beiden in der sinkenden Dämmerung an dem Moore entlanggehen ; sie meinte die erregte Stimme ihres Mannes, die beschwichtigende ihres Jugendfreundes zu vernehmen; nur die Worte selbst – ja, wenn sie nur die Worte hätte hören können! Sie war ja jung, sie fürchtete sich nicht; nur wissen mußte sie, wo sie das Unheil fassen könne. Aber – auch Bernhard mußte ja von allem wissen; hatte doch auch er, der noch am Nachmittage wie in früherer Zeit mit ihr geplaudert hatte, beim Abendessen kaum ein Wort oder doch nur wie gezwungen zum Gespräche beigetragen! Einen Augenblick war's, als ständen ihr die Gedanken still, dann aber richtete sie sich mit einem tiefen Atemzuge auf; gleich morgen – sie wußte keinen andern Ausweg- wollte sie an Bernhard schreiben. »Wo sind wir, Rudolf?« frug sie und sah mit klaren Augen um sich.
Rudolf schrak empor, als würde er aus schwerem Traum geweckt, und wieder, wie auf dem Hinwege, fuhr das Pferd in der Deichsel auf. Ein paar Schläge mit der Peitsche, dann wies er schweigend nach den Wäldern, die sich einige Büchsenschüsse weit zu ihrer Rechten gleich einem düsteren Wall entlangzogen. Darüber stand der volle Mond, der in der weichen Herbstnacht ein fast goldenes Licht über die schlafenden Fluren ausgoß. »Wie schön!« sagte Anna. »Ist das da drüben euere Wildnis? Armer Rudolf, die wird dir wohl noch viel zu schaffen machen!«
Er hatte den Kopf zu ihr gewandt; und er sah sie an, als ob er keine Antwort darauf habe. Sie bemerkte es nicht; das Tuch um ihre Schultern war herabgeglitten, und sie mühte sich, es wieder festzustecken. Als sein Blick auf ihre unverhüllte Hand fiel, deren schöne Form das milde Nachtgestirn mit seinem Licht verklärte, zuckte es um des Mannes Lippen, und seine Augen wurden wie vor Schmerz gerötet.
Der Weg zog sich dichter an die Wälder, und bald rollte der Wagen in ihrem Schatten; das Mondlicht fiel jetzt über sie hin auf die weiter seitwärts liegenden Wiesen; eine weidende Kuh brüllte ein paarmal von dort herüber. »Zu Hause!« sagte Anna, ihre Reisehüllen von sich streifend, »wir sind gleich zu Hause!«
Als bald darauf der Wagen anhielt, trat von der Haustreppe die Magd in augenscheinlicher Hast heran: die Frau Forstjunkerin seien abends angekommen, aber vor einer Stunde schon zur Ruh gegangen ; Frau Försterin möge sich nur ganz beruhigen, Sie hätten ihr, der Magd, den Speisekammerschlüssel ja gelassen, es habe der gnädigen Frau an nichts gefehlt.
Rudolf, der schon neben dem Wagen stand, war totenbleich geworden; wäre der Schatten des Hauses nicht gewesen, so hätte Anna es gewahren müssen. »Jetzt schon!« kam es kaum hörbar über seine Lippen; dann hob er das junge Weib herab und sagte laut: »So muß ich morgen früh heraus!«
»Morgen, Rudolf? Aber du bist dann zeitig doch zurück?«
Er war schon in das Haus getreten, und Anna folgte mit der Magd, den Kopf jetzt voll Gedanken an die Gegenwart der Mutter, deren Beistand sie nicht mehr in Rechnung nahm.
Es war noch dunkel, als vor Anbruch des Morgens neben dem Bette der schlummernden jungen Frau sich ein schweres, überwachtes Haupt aus den Kissen hob. Bald darauf – ein dichter Nebel draußen machte die erste Dämmerung noch fast zur Nacht – trat Rudolf leisen Schrittes in sein Zimmer; tastend, mit unsicherer Hand, zündete er die auf dem Tische stehende Lampe an, bei deren Scheine jetzt sein blasses Antlitz mit den brennenden Augen aus dem Dunkel trat.
Nachdem er die Klappe des am Fenster stehenden kleinen Pultes aufgeschlossen und eine Lage Papier herausgenommen hatte, setzte er sich daneben an den Tisch und begann zu schreiben. Eine amtliche Arbeit schien es nicht zu sein, denn er hatte weder Pläne noch Rechnungen dabei zugezogen. Mitunter stützte er den Kopf, und ein tiefes Stöhnen übertönte das einförmige Geräusch der rastlos fortschreibenden Feder; dann fuhr er wohl empor und blickte hastig um sich und wandte das Ohr nach der Richtung des vorhin verlassenen Schlafgemaches; aber nichts rührte sich in dem stillen Hause: Anna mußte von der gestrigen Reise sehr ermüdet sein, sogar die Magd schien sich heute zu verschlafen; und schon begann ein graues Morgendämmern vor den unverhangenen Fenstern.
Endlich stand er auf, hob wiederum die Klappe des Pultes und legte das Geschriebene hinein. Aber es war ihm das nicht gleich gelungen, denn seine Hand zitterte jetzt so stark, daß er sie an dem eisernen Überfall des Schlosses blutig gestoßen hatte. Ein kurzes Bedenken noch; dann nahm er seine beste Kugelbüchse aus dem Gewehrschranke und lud sie sorgsam. Er hatte sie umgehangen und war schon aus der Tür getreten, als er noch einmal umkehrte. Auch die Jagdtasche nahm er noch vom Haken und hing sie behutsam über seine Schulter; vielleicht entsann er sich, daß vor dem Schlafengehen Annas Hände ihm das Frühstück für den angekündigten Morgengang bereitet und dahinein gesteckt hatten. Eine Weile noch stand er, die Finger um die Lehne eines Stuhles geklammert; dann ging er.
Er ging über die Wiesen an dem Wald entlang; der Nebel stand noch dicht über den Feldern und zwischen den Bäumen; von den Zweigen fielen schwere Tropfen auf ihn herab. Als er in den durch die Holzung führenden Fahrweg eingebogen und eine Strecke darauf fortgegangen war, hörte er Schritte sich entgegenkommen, und bald auch erkannte er aus dem Nebel einen Mann, welcher, den Kopf voraus und mit den Armen mächtig um sich fechtend, eifrig vor sich hin redete, als ob er ein wichtiges Erzählen vor sich habe.
Rudolf, der einen der Holzschläger erkannt hatte, wollte rasch vorübergehen; aber der andere hob jetzt den Kopf. »Ah so, der Herr Förster!« rief er, die Mütze herunterreißend. »Ich soll aufs Schloß zum Herrn Inspektor; ist wieder der Teufel los mit dem Klaus Peters; die andern kamen aber eben recht, daß wir ihn binden konnten!«
Rudolf blieb stehen und starrte den Sprecher an; Klaus Peters war der junge Arbeiter, der als Ehemann aus dem Irrenhaus zurückgekehrt war.
Der andere aber begann jetzt wieder sein Fechten mit den Armen. »Immer um die Kate herum, Herr Förster«, rief er, »und das, die Holzaxt in der Faust; und die Frau rannte vor ihm auf und schrie Zetermordio, daß wir's in unsern Betten hören konnten! Es wird nicht helfen, der Herr Graf mögen nur recht weit den Beutel auftun, denn zum andernmal kommt er wohl nicht zurück, wenn sie ihn erst wieder sicher in der Anstalt haben.«
Der alte Holzschläger, während er nach einem Endchen Rolltabak in seiner Tasche suchte, wartete vergebens auf eine Beifallsäußerung seines Vorgesetzten. »So, so?« sagte dieser endlich, ohne daß sich anderes als nur die Lippen an ihm zu regen schien; » ja, da muß zeitig Rat geschafft werden.«
Dann wandte er sich plötzlich und schritt auf einem Seitenwege in den Wald hinein, wo er den Blicken des verwundert Nachschauenden bald entschwunden war.
– – Kurz ehe dies im Walde geschah, hatte im Forsthause auch die junge Frau sich aus dem Schlaf erhoben; erschrocken, daß schon der graue Tag ins Fenster sah, warf sie rasch die Kleider über ; sie hatte ja noch an Bernhard schreiben wollen, ehe die Mama das Bett verließe. Als sie aber mit ihrem Schlüsselkörbchen auf den Flur hinaustrat, kam Frau von Schlitz ihr in fertigem Morgenanzug schon entgegen.
»Mama!« rief Anna überrascht; »willkommen bei uns! Aber so früh? Sie müssen schlecht geschlafen haben?« Frau von Schlitz hatte freilich schlecht geschlafen ; es war nicht nur die Mißstimmung über die Abwesenheit des Ehepaars bei ihrer Ankunft; aber aus den Briefen beider hatte sie leicht herausgefunden, daß ihre Erwartungen von dieser Ehe sich keineswegs erfüllt hatten. Doch äußerte sie nichts dergleichen, sondern sagte nur: »Ich bin keine Langschläferin, mein Kind!« Aber Anna wurde fast verlegen unter dem strengen Blick, von welchem dieses Wort begleitet wurde. »Und wo ist denn mein Sohn?« begann Frau von Schlitz wieder. »Ich suchte ihn schon vergebens in euerem Wohnzimmer.«
»Ich fürchte, Mama, er wird schon seinen Reviergang angetreten haben.«
»Heute? Er wußte doch von meiner Ankunft?«
»Gewiß; aber er hat wohl nicht gedacht, daß Mama so früh schon auf sein würden.«
»Laß uns nach seinem Zimmer gehen, Kleine!« sagte Frau von Schlitz und schritt sogleich den dahin führenden Gang hinab. Von Anna gefolgt, öffnete sie die Tür, aber es war niemand in dem Zimmer.
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