Es ist eben bei beiden nur das von Kirchenstücken und Romanen wunde Wehgefühl der Vergleichung zwischen dem männlichen Herbste der Wirklichkeit und dem kindlichen Frühlinge vor ihnen, in welchem noch dicht aus dem Stamme der Wirklichkeit die Blüten des Ideals ohne Umwege von Blättern und Ästen wachsen.

Bedurfte doch damals sogar der kindliche Honig und Wein der Freude des idealen Ätherzusatzes von dem Glauben an ein darreichendes Christkindchen. Denn sobald er zufällig sich mit Augen überzeugt hatte, daß nur Menschen, nicht Überirdische, die Freudenblüten und Früchte bringen und auf die Tafel legen: so war diesen der Edenduft und Edenglanz ausgegangen und abgewischt und das alltägliche Gartenbeet da. Indes unglaublich ists, wie er gleich allen Kindern, sich gegen die Himmelstürmer seines himmlischen Glaubens gewehrt und wie lange er seine übernatürliche Offenbarung festgehalten gegen alle Einsichten seiner Jahre, gegen alle Winke des Zufalls, bis er endlich sah und siegte weniger als besiegt wurde. So schwer läßt sich der Mensch in allen Religionen zu den Menschen herunterziehen, welche oben im Lufthimmel die gebenden Götter spielen.

– So weit gehen die Joditzer Idyllen, welche für Eltern und Kinder lange genug gedauert, nämlich so lange wie der trojanische Krieg. Die Schulden und die Ausgaben für vier Söhne wuchsen und diesen wurde die versprochene bessere Schule immer nötiger. Auch den Vater faßte zuweilen ein Unmut an, daß er schöne Jahre und schöne Kräfte in einer so engen Dorfkirche abmatte und verzehre. Endlich starb der Pfarrer Barnickel in Schwarzenbach an der Saale, einem kleinen Städtchen oder großen Marktflecken. Der Tod ist der eigentliche Schauspieldirektor und Maschinenmeister der Erde. Er nimmt einen Menschen wie eine Ziffer aus der Zahlenreihe vorn, mitten, oder hinten heraus und siehe, die ganze Reihe rückt in eine andere Geltung zusammen. Die Pfarrstelle, welche der Fürst von Reuß und die Frau von Bodenhausen wechselnd besetzten, bekam diesesmal die Gönnerin Richters in die Hand, welche sich lange und unverhohlen auf die Gelegenheit gefreuet, den guten uneigennützigen heitern und verarmenden Pfarrer zu erretten und zu belohnen.

Aber deshalb ging er jetzo nicht öfters nach Zedwitz, sondern seltener. Vollends eine Bittschrift um die Pfarrei, oder nur eine mündliche Bitte zu bringen, dies hätte ihn nach seiner altglaubigen Überzeugung, daß nur der heilige Geist zum heiligen Amte rufen müsse, als eine Simonie befleckt. So mußte denn die geburtstolze Gönnerin sich den festen amtstolzen ärmlichen Mann ohne Bitte und ohne Gesuch gefallen lassen. Ich teile Ihnen hier ein Geheimnis des Zedwitzer Hofes mit – das er selber längst vergessen –, wenn ich aus dem Munde des alten Pfarrer erzähle, wie es dort am Tage reiner Berufung zugegangen. Da er gewöhnlich zuerst bei dem alten Herren (von Plotho) vorgelassen wurde: so konnte dieser vor Liebe und Freude ihm die Nachricht seiner Beglückung nicht zurückhalten, sondern gab sie ihm geradezu, oder gar die Vokation selber, indes eigentlich erst dessen Gemahlin als die wahre Patronatherrin ihm das Schreiben hätte geben sollen. Natürlicherweise war nachher, als der neugeschaffne Pfarrer vor sie mit seinem Danke eintrat, einige Verstimmung der Freiin gegen ihren Gemahl dem Hofe nicht ganz zu entziehen. Übrigens hatten beide mit der eigenhändigen Übergabe der Vokation gleichgesinnt dem geldlosen Freunde allerlei Gratiale und Douceurs der Überbringer – fatale Worte für die eine Partei – ersparen wollen.

Da ich Ihre wohlwollenden Gesinnungen für Vater und Sohn so gut kenne, so wollt' ich wohl erraten, daß Sie jetzo innerlich im Jubel rufen: »Dies ist ja köstlich, daß der Mondwechsel der Pfarreien endlich ihm ein anderes schönes Wetter bringt; und wir sehen den jovialen Tonkünstler ordentlich früher als sonst von der Herrschaft (er unterhielte sie aus Dank gern länger) mit seiner Bullenbeißerin nach Hause laufen, bloß um nur so früh wie möglich seine Selberentzückung unter die Seinigen, besonders an die arme Gattin auszuteilen, welche durch das bisherige Ährenlesen ja Zehenden-Sammeln auf den elterlichen Feldern wahrlich genug geduldet hat.« –

Ich bemerke dagegen nichts als daß Sie sämtlich fehlschießen und mich wundert der Fehlgriff. Ernst und traurig brachte er die Freudenpost; aber nicht bloß weil auf dem Blumen- und Erntekranz des Glücks wie auf dem Brautkranz immer einige Tautropfen hangen, die wie Tränen aussehen, sondern auch weil in ihm schon der Abschied von der geliebt-liebenden Gemeinde zu weinen anfing, welche seit so vielen Jahren seine zweite Familie, nur im größern Familienbetsaal der Kirche gewesen, und zuletzt noch, weil nun das stille, rahige, unbegaffte, einfache Stilleben des Dorfes in der Zukunft nur als ein fernes Gemälde in seiner Erinnerung hangen sollte. Freilich ist das Landleben gleich dem Seeleben einfarbig, ohne Abwechsel kleiner, nur großer Gegenstände; aber es gibt eine Art einförmiger Freude, welche stärkt, so wie das einfarbige Meer [auf] Lungensüchtige freundlich wirkt, weil keine Staubwolken einzuatmen sind und keine Insekten quälen.

– Nun glaub' ich meine Pflicht als selbhistorischer Professor in Rücksicht auf das Erziehdörfchen Joditz so erfüllt zu haben, daß ich in der nächsten Vorlesung mit dem Helden und den Seinigen in Schwarzenbach an der Saale einziehen kann, wo freilich der Vorhang des Lebens um mehre Schuh hoch aufgeht und man vom Hauptspieler schon etwas mehr zu sehen bekommt als die bloßen Kinderschuhe, wie leider bisher. Denn in der Tat aus der heutigen Vorlesung schicken wir ihn in die nächste als einen mehr als zwölfjährigen Menschen mit zehnmal weniger Kenntnissen als [der dreijährige Christian Heinrich Heineken] hatte, da ihn nach dem Examen die Amme wieder an den Busen legte – so ohne alle Natur- und Länder- und Weltgeschichte ausgenommen das Teilchen davon, welches er selber war – so ohne alles Französische und Musikalische – im Lateinischen nur mit ein bißchen Lange und Speccius angetan – kurz als ein solches leeres durchsichtiges Skelett oder Geripplein ohne gelehrte Nahrung und Umleib, daß ich mit Ihnen allen kaum Zeit und Ort erwarten kann, wo er doch einmal anfangen muß, etwas zu wissen und das Gerippe zu beleiben in Schwarzenbach an der Saale.

Wir verlassen nun mit ihm das unbekannte Dörfchen; aber ob es sich gleich noch keinen Lorbeerkranz wie so manches anderes Dorf durch eine Schlacht aufgesetzt: so darf er, glaub' ich, es doch hoch in seinem Herzen halten und zu ihm, als wenn er heute schiede, sagen: »Liebes Dörflern! du bleibst mir teuer und wert! Zwei kleine Schwestern ließ ich in deinem Boden – Mein zufriedener Vater hat auf ihm seine schönsten Sonntage gefunden – und unter dem Morgenrote meines Lebens sah ich deine Fluren stehen und glänzen. Zwar sind deine [mir] bekannten Bewohner, denen ich danken will, längst fortgegangen wie mein Vater; aber ihren unbekannten Kindern und Enkeln geh' es wohl, wünscht mein Herz, und jede Schlacht ziehe weit vor ihnen vorbei.«

 

Fußnoten

 

1 Manchen Proseseelen sollte man ein bißchen Geisterfurcht als Religion und Poesie einimpfen oder lassen.

 

 

Dritte Vorlesung

 

[Schwarzenbach an der Saale]

Glauben Sie wohl, meine Zuhörer, daß Paul aus dem ganzen Aufpacken und Ausziehen und Fortziehen und Einziehen nichts im Gedächtnis behalten, keinen Abschied weder der Eltern noch der Kinder, keinen Gegenstand auf einem Wege von zwei Meilen, bloß den schon erwähnten Schneiders-Sohn ausgenommen, welchem er die Rußzeichnungen einiger Könige für seine Geliebte in die Tasche gesteckt? – Aber so ist Kind- und Knabenheit; sie behält Kleinstes, sie vergißt Größtes, man weiß bei beidem selten warum. Abschiede behält ohnehin die immer unten und oben und überall hinauswollende Kindheit weniger als Ankunft; denn ein Kind verläßt zehnmal leichter die langgewohnten Verhältnisse als die kurzgewohnten und erst im Manne erscheint gerade das Umgekehrte der Berechnung. Für Kinder gibt es kaum Abschiede; denn sie kennen keine Vergangenheit, sondern nur eine Gegenwart voll Zukunft.

Schwarzenbach an der Saale hatte freilich viel – einen Pfarrer und einen Kaplan – einen Rektor und einen Kantor – ein Pfarrhaus voll kleiner und zwei großer Stuben – diesem gegenüber zwei große Brücken mit der dazugehörigen Saale – und gleich daneben das Schulhaus so groß (wohl größer) wie das ganze Joditzer Pfarrhaus – und unter den Häusern noch ein Rathaus, nicht einmal gerechnet das lange leere Schloß.

Gerade mit dem Vater trat auch ein neuer Rektor an, Werner, aus dem Merseburgischen, ein schöner Mann mit breiter Stirne und Nase, voll Feuer und Gefühl, mit einer hinreißenden Naturberedsamkeit voll Fragen und Gleichnisse und Anreden wie Pater Abraham; übrigens aber ohne alle Tiefe weder in Sprachen noch in andern Wissenschaften. Indes half er der Armut auf dieser Kehrseite durch einen Kopf voll Freiheit-Rede und Eifer ab; seine feurige Zunge war der Hebel der kindlichen Gemüter. Sein Grundsatz war, aus der Grammatik die nur allernotwendigsten Sprachformen – worunter er bloß die Deklinationen und Konjugationen verstand – lernen zu lassen und dann ins Lesen eines Schriftstellers überzuspringen. Paul mußte sogleich den Sprung hoch über Langens Colloquia hinweg in den Cornelius tun; und es ging. Die Schulstube oder vielmehr die Schularche faßte Abc-Schützen, Buchstabierer, Lateiner, große und kleine Mädchen – welche wie an einem Treppengerüste eines Glashauses oder in einem alten römischen Theater, von Boden bis an die Wand hinaufsaßen – und Rektor und Kantor samt allem dazugehörigen Schreien, Summen, Lesen und Prügeln in sich. Die Lateiner machten gleichsam eine Schule in der Schule. Bald darauf wurde auch die griechische Grammatik mit dem Erlernen der Deklinationen und der nötigsten Zeitwörter angefangen und ohne weiteren Aufenthalt bei der Grammatik sofort ins Neue Testament zum Übersetzen übergesetzt. Werner, der oft im Feuer der Rede sich selber so lobte, daß er über seine eigne Größe erstaunte, hielt auch seine fehlerhafte Methode für eine originelle, ob sie gleich nur eine Basedowsche war; aber Pauls fliegendes Fortschreiten wurde ihm ein neuer Beweis. Etwan ein Jahr darauf wurden einige wenige Deklinationen und Zeitwörter aus Danzens lateinisch geschriebener hebräischen Grammatik zu einer Schiffbrücke zum ersten Buche Mosis geschlagen, dessen Anfang, gerade die Exponierschwelle junger Hebräer, den ungebildeten Juden zu lesen verboten war.

Ich werde mit Ihnen sogleich wieder mit dem Leben des Helden chronologisch fortschreiten, sobald ich nur einen Augenblick kursorisch über die Zeit hinaus weiter und vorausgegangen bin und Ihnen habe sehen lassen, wie viel er auf einmal zu tun gewußt und gehabt.