Engel behauptet zwar, daß die eigentlichen Wohllaute sich zwischen den tiefen und den hohen Tönen aufhalten; aber man könnte sagen, über beide hinaus liegt eben die poetische Musik. In der dunkeln Tiefe der niedrigsten Baßklänge woget langsam unten vergangne, abgelaufne Zeit; hingegen die schroffe Höhe der äußersten Diskanttöne schreien und schneiden in die Zukunft hinein, oder rufen sie heran, indem sie sie tönen, und sprechen das Scharfe und Enge aus. So klang mir bei der russischen Feldmusik das hohe scharfe Dareinpfeifen der kleinen Pfeifchen fast fürchterlich als eine zum Schlachten rufende Bootmanns-Pfeife, ja als ein grausames Früh-Tedeum für künftiges Blutlassen. – –

Ich fürchte, man wird in Deutschland und sonst darüber reden, daß ich den Herbst zur höchsten Joditzer Idylle aufgespart, ihn der eben zu nichts führen kann als in Schneewege. Aber ein phantastischer Mensch wie Paul genießt im Herbste außer diesen selber noch voraus den Winter mit seiner Häuslichkeit und den Frühling mit seinen poetischen Fernmalereien, indes der angekommene Frühling schon in den Sommer zerfließt, der Sommer aber gar ein Stille- und Mittelstand der Phantasie, zu verwandt dem Herbste und zu fern verwandt dem Frühling ist. Noch jetzo sieht er im Nachsommer durch die halbdurchsichtigen Bäume fern im andern Jahre Blütenschneegebirge stehen und begeht sie wie eine Biene honigtrunken, die in der Nähe unter den Händen zerrinnen, und die weitaussehendsten Plane der Lenzreisen und Lenzernten werden entworfen und durchgenossen und im Frühling selber ist die Hauptsache schon vorbei. Wenn die Landschaftmaler den Herbst vorziehen: so tut es der geistige, der Dichter, wenigstens im Alter.

Aber dem Herbste wandte sich unser Held noch mit einer besondern Kehrseite zu; und diese ist, daß er von jeher eine eigne Vorneigung zum Häuslichen, zum Stilleben, zum geistigen Nestmachen hatte. Er ist ein häusliches Schaltier, das sich recht behaglich in die engsten Windungen des Gehäuses zurückschiebt und verliebt, nur daß es jedesmal die Schneckenschale breit offen haben will, um dann die vier Fühlfäden nicht etwa so weit als vier Schmetterlingflügel in die Lüfte zu erheben, sondern noch zehnmal weiter bis an den Himmel hinauf [zu] strecken, wenigstens mit jedem Fühlfaden an einen der vier Trabanten Jupiters. Von diesem närrischen Bunde zwischen Fernsuchen und Nahesuchen – dem Fernglas ähnlich, das durch bloßes Umkehren entweder die Nähe verdoppelt, oder die Ferne – wird in unseren Vorlesungen mehr vorkommen als ich verlange oder der bloße Herbst zuliefert.

Dieser Haussinn zeigte sich in den Phantasien des Knaben; die jungen Schwalben pries er glücklich, weil sie in ihrem ummauerten Neste innen so heimlich sitzen konnten in der Nacht – Wenn er in den großen Taubenschlag auf dem Dache hineinstieg, so war er in diesem Zimmer voll Zimmerchen oder Taubenhöhlen ordentlich wie zu Hause und die Antlitzseite war ihm ein Louvre oder Eskurial im kleinen. Ich fürchte nur, man läßt es mir selber entgelten, wenn ich die kindische Kleinigkeit in meine Vorlesungen aufnehme, daß er ein vollständiges Fliegenhaus aus Ton, eigentlich einen Palast erbauete, so lang und so breit wie eine Männerfaust und um etwas höher; es war aber das ganze Speisehaus rot angestrichen und mit Dinte in Ziegelquader abgeteilt, innen mit zwei Stockwerken, vielen Treppen mit Geländern und Kammern, einem geräumigen Dachboden versehen, außen aber mit Erkern und Vorsprüngen und sogar mit einem Rauchfange versorgt, welchen ein Glas zudeckte, damit nicht statt des Rauchs die Fliegen hinauszögen. Nirgends waren Fenster gespart und das Schloß, durfte man behaupten, bestand weit mehr aus Fenster als aus Mauer. Wenn nun Paul so die unzähligen Fliegen in diesem weiten Lustschloß treppauf treppnieder in alle große Zimmer und dann gar in die niedlichen Erkerchen laufen sah: so macht' er sich eine Vorstellung von ihrer häuslichen Glückseligkeit und wünschte selber darin an den Fenstern mitzulaufen und er setzte sich an die Stelle der Hausbesitzer, welche aus den weitesten Zimmern sich in die niedlichsten engsten Kämmerchen und Erkerchen zurückziehen konnten. Wie unbedeutend und klein mußt' ihm dagegen das Pfarrhaus vorkommen!

Aber auch als Schriftsteller hat er später diesen Haus- und Winkelsinn fortgesetzt in Wutz und Fixlein und Fibel; und noch sieht der Mann gern jedes nette niedrige Schieferhäuschen von zwei Stockwerkchen mit Blumen vor den Fenstern und einem Hausgärtchen, das man bloß vom Fenster heraus begießt; und im zugemachten Kutschkasten kann der gute häusliche Narr ordentlich ganz vergnügt sitzen und an den Seitentaschen herumsehen und sagen: »Ein prächtiges stilles feuerfestes Stübchen! Und draußen fahren die größten Dörfer und Gärten vorbei!« – So viel ist darzutun, daß er in einem Rittersaale, in einer Peterskirche noch weniger schreiben als wohnen könnte – es wär' ihm ein Marktplatz mit einem Dache versehen –, indes er doch fähig wäre, auf dem Montblanc, oder auf dem Ätna, wäre alles gehörig dazu hergerichtet für ihn, in einem fort zu schreiben und zu wohnen; denn nur das enge Menschliche kann ihm nicht klein genug, aber die weite Natur nicht zu ausgedehnt sein; denn die Kleinheit der Menschenwerke verkleinert sich durch ihr Vergrößern.

Die Joditzer Herbstidylle ist durch voriges fast ausgemalt. Der Herbst führt nämlich die Menschen nach Hause und läßt ihnen sein Füllhorn da, für das Nest des Winters, das sie bauen, wie der Kreuzschnabel im Eismonate Nest und Junge hat. Von damals her muß kommen, daß Paul noch das erste Dreschen, die lauten Krähenzüge in die Wälder, der Zugvögel Schreien oder Blasen zum Aufbruche mit einem nachgebliebenen Vergnügen als die Vorboten der engen häuslichen Winter-Einnistung hört; und es tut mir seinetwegen leid, daß er auch die Gänse im Herbste, die dann in Herden gehen, mit ziemlicher Lust schreien hört als Vorsänger und Vorredner der Winterzeit. Aus diesem Stuben- und Wintersinn hab' ich mir von jeher erklärt, warum er mit so ungemeinem Behagen Reisebeschreibungen von Winterländern wie Spitzbergen und Grönland las; denn das Anschauen einer bloßen Not auf dem Druckpapier erklärt das Vergnügen dabei nicht, weil sonst das nämliche auch bei der Lesung der Glutnot der heißen Länder wieder dasein müßte. Hingegen die bekannte Freude des Mannes über jede Viertelstunde, um welche im Herbste die Tage abnehmen, würd' ich mehr seiner Vorliebe für Superlative – welche es auch seien – für unendliches Großes und unendliches Kleines, kurz für die Maxima und Minima zuschreiben, besonders da er ja ganz ebensosehr sich über das Wachsen der Tage erfreuet und nichts dabei wünscht als gar einen langen Schwedentag. Man sieht aber aus allem, mit welcher unschätzbaren Genügsamkeit und Geschicklichkeit Gott den Mann auf seinen Lebensweg, auf welchem nicht viel rechts und links zu finden war, zugerüstet und ausgestattet, so daß er, es mochte noch so schwarz um ihn sein, immer Weiß aus Schwarz machen konnte und mit einem beidlebigen Instinkte für Land und Meer weder ersaufen noch verdursten konnte.

Es sind dies lauter autobiographische Züge, meine Herren, die ein künftiger Lebenbeschreiber desselben recht bequem zu einer Lebenbeschreibung verarbeitet und für welche er mir vielleicht dankt.

Auch wüßt' ich nichts als jenen behaglichen Stuben- und Wintergeschmack, um mir begreiflich zu machen, warum Paul eine andere an sich so hagere Herbstlust mit solchem Wohlgeschmacke wiederkäuet. In den Herbstabenden (noch dazu an trüben) ging nämlich der Vater im Schlafrocke mit ihm und seinem Bruder auf ein über der Saale gelegenes Kartoffelfeld; der eine Junge trug eine Grabhaue, der andere ein Handkörbchen. Draußen wurden nun neue Kartoffeln, soviel für das Abendessen nötig waren, vom Vater ausgegraben; Paul warf sie aus dem Beete in den Korb, während Adam an dem Haselnußgebüsche die besten Nüsse erklettern durfte. Nach einiger Zeit mußte dieser von den Ästen herunter ins Beet und Paul stieg seinerseits hinauf. Und so zog man denn mit Kartoffeln und Nüssen zufrieden nach Hause; und die Freude, auf eine Viertelstunde weit und eine Stunde lang ins Freie gelaufen zu sein und zu Hause bei Lichte das Erntefest zu feiern, male sich jeder selber so stark wie der Empfänger.

Besonders frisch und grün aber sind noch zwei andere Herbstblumen der Freude in seinen Gehirnkammern erhalten und aufbewahrt, und beide sind Bäume. Der eine ist bloß ein dickzweigiger hoher Muskatellerbirnbaum im Pfarrhofe, an dessen herrlichen Fruchtgehängen die Kinder den ganzen Herbst hindurch künstliches Fallobst hervorzubringen versuchten, bis endlich an einem der wichtigsten Tage der Jahrzeit der Vater den verbotenen Baum selber auf der Leiter bestieg und das süße Paradies herunterholte für das ganze Haus und für den Bratofen. – Der andere immer grüne und noch herrlicher fortblühende Baum ist aber kleiner, nämlich die abgehauene Birke, welche jährlich an dem Andreasabend bei dem Stamme vom alten Holzhauer in die Stube geschleppt und dann in einen weiten Topf mit Wasser und Kalk gepflanzt wurde, damit sie gerade zur Weihnachtzeit, wenn die goldnen Früchte an sie gehangen wurden, schon die rechten grünen Blätter dazu trüge. Es hatte diese Birke, keine Trauer- sondern eine Jubelbirke, das Eigne an sich, daß sie den dunkeln Dezemberweg bis zum Christfest mit Freudenblumen bestreuete, nämlich mit ihren hervorgenötigten Blättchen, wovon jedes neue wie ein Uhrzeiger auf einen zurückgelegten Tag hinwies, und daß jedes Kind unter diesem Maienbaum des Winters sein Laubhüttenfest der Phantasien feiern konnte.

Pauls Weihnachtfest selber zu beschreiben, erlassen mir wohl gern alle die Zuhörer, welchen in Pauls Werken Gemälde davon, die ich am wenigsten übertreffen kann, zu Händen gekommen. Bloß zwei Zusätze dürften nachzuholen sein. Wenn Paul nämlich am Weihnachtmorgen vor dem Lichterbaum und Lichtertische stand und nun die neue Welt voll Gold und Glanz und Gaben aufgedeckt vor ihm lag und er Neues und Neues und Reiches fand und bekam: so war das erste, was in ihm aufstieg, nicht eine Träne – nämlich der Freude –, sondern ein Seufzer – nämlich über das Leben –; mit einem Worte schon dem Knaben bezeichnete der Übertritt oder Übersprung oder Überflug aus dem wogenden spielenden unabsehlichen Meere der Phantasie an die begrenzte und begrenzende feste Küste sich mit dem Seufzer nach einem größern schönern Lande. Aber ehe dieser Seufzer sich veratmete und ehe die glückliche Wirklichkeit ihre Kräfte zeigte: so fühlte Paul aus Dankbarkeit, daß er sich im höchsten Grade freudig zeigen müßte vor seiner Mutter; – und diesen Schein nahm er sofort an und auf kurze Zeit, weil sogleich darauf die angebrochnen Morgenstrahlen der Wirklichkeit das Mondlicht der Phantasie auslöschten und entfernten.

Hier mag auch einer väterlichen Eigenheit gedacht werden, welche in dieselbe Minute fiel: der Vater nämlich – immer so froh teilnehmend, jede Freude so bereitwillig gönnend und gebend – kam an dem Christmorgen wie mit einem Trauerflor bedeckt aus seiner Stube in die lustige leuchtende Wohn- und Gesindestube herab; die Mutter selber versicherte ihre Unwissenheit über diese jährliche Traurigkeit und niemand hatte Mut zur Frage. Auch überließ er der Mutter die ganze Mühe und Freude, die Tafeldeckerin der h. Christnacht zu sein, und hier blieb er vielleicht beträchtlich hinter Paul zurück, und holte den Sohn nicht ein, welcher immer bei der Weihnachtoper der Kinder seiner Frau viel half, wenn nicht gar sie bloß ihm; denn in der Tat hatte er – zumal früher, da sie dümmer waren – schon Monate vor der Aufführung dieser Zauberoper den Lügen-Zettel-Träger, den Theaterdichter und Szenenmaler auf dem Kanapee gespielt, und hatte endlich abends als vollständiger Operdirektor und Maschinenmeister alles auf den Tischen und Bäumchen so lichtervoll und verständig ausgebreitet und zusammengeordnet, daß das Ganze glänzte und sein Auge dazu.

Demungeachtet ist der Vater aus dem Sohne und die väterliche Trauer fast [zu] erklären und zwar daraus, daß [dieser] seit vielen Jahren selber eine ähnliche bei aller äußern Freudigkeit und Tätigkeit zu verhüllen hat.