Abschiede behält ohnehin die immer unten und oben und überall hinauswollende Kindheit weniger als Ankunft; denn ein Kind verläßt zehnmal leichter die langgewohnten Verhältnisse als die kurzgewohnten und erst im Manne erscheint gerade das Umgekehrte der Berechnung. Für Kinder gibt es kaum Abschiede; denn sie kennen keine Vergangenheit, sondern nur eine Gegenwart voll Zukunft.

Schwarzenbach an der Saale hatte freilich viel – einen Pfarrer und einen Kaplan – einen Rektor und einen Kantor – ein Pfarrhaus voll kleiner und zwei großer Stuben – diesem gegenüber zwei große Brücken mit der dazugehörigen Saale – und gleich daneben das Schulhaus so groß (wohl größer) wie das ganze Joditzer Pfarrhaus – und unter den Häusern noch ein Rathaus, nicht einmal gerechnet das lange leere Schloß.

Gerade mit dem Vater trat auch ein neuer Rektor an, Werner, aus dem Merseburgischen, ein schöner Mann mit breiter Stirne und Nase, voll Feuer und Gefühl, mit einer hinreißenden Naturberedsamkeit voll Fragen und Gleichnisse und Anreden wie Pater Abraham; übrigens aber ohne alle Tiefe weder in Sprachen noch in andern Wissenschaften. Indes half er der Armut auf dieser Kehrseite durch einen Kopf voll Freiheit-Rede und Eifer ab; seine feurige Zunge war der Hebel der kindlichen Gemüter. Sein Grundsatz war, aus der Grammatik die nur allernotwendigsten Sprachformen – worunter er bloß die Deklinationen und Konjugationen verstand – lernen zu lassen und dann ins Lesen eines Schriftstellers überzuspringen. Paul mußte sogleich den Sprung hoch über Langens Colloquia hinweg in den Cornelius tun; und es ging. Die Schulstube oder vielmehr die Schularche faßte Abc-Schützen, Buchstabierer, Lateiner, große und kleine Mädchen – welche wie an einem Treppengerüste eines Glashauses oder in einem alten römischen Theater, von Boden bis an die Wand hinaufsaßen – und Rektor und Kantor samt allem dazugehörigen Schreien, Summen, Lesen und Prügeln in sich. Die Lateiner machten gleichsam eine Schule in der Schule. Bald darauf wurde auch die griechische Grammatik mit dem Erlernen der Deklinationen und der nötigsten Zeitwörter angefangen und ohne weiteren Aufenthalt bei der Grammatik sofort ins Neue Testament zum Übersetzen übergesetzt. Werner, der oft im Feuer der Rede sich selber so lobte, daß er über seine eigne Größe erstaunte, hielt auch seine fehlerhafte Methode für eine originelle, ob sie gleich nur eine Basedowsche war; aber Pauls fliegendes Fortschreiten wurde ihm ein neuer Beweis. Etwan ein Jahr darauf wurden einige wenige Deklinationen und Zeitwörter aus Danzens lateinisch geschriebener hebräischen Grammatik zu einer Schiffbrücke zum ersten Buche Mosis geschlagen, dessen Anfang, gerade die Exponierschwelle junger Hebräer, den ungebildeten Juden zu lesen verboten war.

Ich werde mit Ihnen sogleich wieder mit dem Leben des Helden chronologisch fortschreiten, sobald ich nur einen Augenblick kursorisch über die Zeit hinaus weiter und vorausgegangen bin und Ihnen habe sehen lassen, wie viel er auf einmal zu tun gewußt und gehabt. Sogleich darauf werd' ich wieder statarisch.

Das griechische Testament mußt' er und das hebräische mündlich übersetzen in ein lateinisches wie ein Vulgata-Macher. Der Rektor hatte unter Pauls Übersetzung (er war der einzige Hebräer in der Schule) eine gedruckte neben sich liegen. War der Held mit dem Analysieren mancher Wörter nicht zurechte gekommen: so schlug wohl zuweilen das zweite Unglück dazu, daß es dem Lehrer ebenso ging.

Der jetzige Romanschreiber verliebte sich ordentlich in das hebräische Sprach- und Analysier-Gerümpel und Kleinwesen – eigentlich auch ein heimlicher Zug seiner Liebhaberei für Häuslichkeit – und borgte aus allen schwarzenbachischen Winkeln hebräische Sprachlehren zusammen, um über die diakritischen Punkte, die Vokalen, die Akzente und dergleichen alles aufgehäuft zu besitzen, was bei jedem einzelnen Worte analysierend aufzutischen ist. Darauf nähte er sich ein Quartbuch und Eng darin bei dem erste Buche Mosis an und gab über das erste Wort, über seine sechs Buchstaben und seine Selbstlauter und das erste Dagesch und Schwa so reichliche Belehrungen aus allen entlehnten Grammatiken mehre Seiten hindurch, daß er bei dem ersten Worte »anfangs« (er wollte so von Kapitel zu Kapitel fortschreiten) auch ein Ende machte, wenn es nicht bei dem zweiten war. Was noch von des Quintus Fixlein Treibjagd in einer hebräischen Foliobibel nach größern, kleinern, umgekehrten Buchstaben (im ersten Zettelkasten) geschrieben steht, ist wörtlich mit allen Umständen auf Pauls eignes Leben anzuwenden.

Ebenso närrisch verfuhr Paul mit dem jetzo veralteten Hofmann, der mit seinen deutschen Übersetz-Sätzen oder Beispielen für lateinische Regeln ein Großkreuz-Speccius für Schüler war, und wand sich durch Schraubengänge, da der Mann zu immer mehrer Syntaxis ornata überging, so sehr in lauter schwere Partizipial-Verengungen ein, daß der gute Rektor mehr darauf sinnen mußte, ihn zu verstehen als zu verbessern.

Sogleich nach der Ankunft in Schwarzenbach – noch immer steh' ich im Kursorischen – bekam er vom Kantor Gressel Unterricht auf dem Klaviere; – und auch hier, nachdem er nur einige Tanzstücke und später das Gemeinste des Chorals erlernte – Gott gebe doch dem armen Knaben einmal einen gründlichen Lehrer, wünsch' ich, sowenig auch überall dazu sich Aussicht zeigt – geriet er bald in seine Selberfreilassung vom Unterrichte, nämlich in Phantasieren auf dem Klaviere und in Aufsammeln und Abspielen aller Klavierstücke, die nur im Orte aufzutreiben waren. Die musikalische Grammatik, den Generalbaß, erlernte er so durch viel Phantasieren und Notenspielen etwa so wie wir die deutsche durch Sprechen.

Zu gleicher Zeit legte er sich lesend auf die schöne Literatur der Deutschen; da aber in Schwarzenbach keine andere zu haben war als die romantische und von dieser nur die schlechten Romane aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts: so trug er sich von diesen Quadern einen kleinen babylonischen Turm zusammen, ob er gleich jedesmal aus ihm nur einen Quader herausziehen konnte zum Lesen. Aber unter allen Geschichten auf Bücherbrettern – denn Schillers Armenier wiederholt später nur die halbe Wirkung – goß keine ein solches Freudenöl und Nektaröl durch alle Adern seines Wesens – bis sogar zu körperlichem Verzücken – als der alte Robinson Crusoe –; er weiß noch Stunde und Platz, wo die Entzückungen vorfielen; es war abends an dem Fenster gegen die Brücke zu; und nur später ein zweiter Roman, Veit Rosenstock von Otto, – vom Vater gelesen und verboten – wiederholte die Hälfte jener Begeisterung. Nur als Plagiar und Bücherdieb genoß er ihn aus der väterlichen Studierstube so lange bis der Vater wiederkam – einmal las er ihn unter einer Wochenpredigt des Vaters in einer unbesuchten Empor auf dem Bauche liegend. Jetzige Kinder beneid' ich wenig, welchen der erste Eindruck des kindlichen und kindischen Robinson entzogen und vergütet wird durch die neuern Umarbeiter des Mannes, welche die stille Insel in einen Hörsaal oder in ein abgedrucktes Schnepfental verwandeln und den schiffbrüchigen Robinson überall mit einem Lehrbuche in der Hand und eignen dictatis im Maule herumschicken, damit er jeden Winkel zu einer Winkelschule stifte, obgleich der Mann mit sich selber so viel zu tun hat, damit er sich nur notdürftig beim Leben erhält.

Zu gleicher Zeit, nämlich kurz darauf bat der junge Kaplan Völkel sich vom Vater den Jungen auf tägliche zwei Stunden nach dem Essen aus, um allerlei aus Philosophie und Geographie mir beizubringen. Wodurch ich ihm, den kein besonderes Erziehtalent anfeuerte, bei meiner dörfischen Unbehülflichkeit so wert bis zum Aufopfern seiner Ruhezeit geworden, weiß ich nicht.

In der Philosophie las er oder eigentlich ich ihm vor die Weltweisheit von Gottsched, welche mich bei aller Trockenheit und Leerheit doch wie frisches Wasser erquickte durch die Neuheit. Darauf zeigte er mir auf einer Landkarte – ich glaube von Deutschland – viele Städte und Grenzen; was ich aber davon behalten, weiß ich nicht und such' es bis heute vergeblich in meinem Gedächtnis. Ich getraue mir zu beweisen, daß ich unter allen jetzt lebenden Schriftstellern vielleicht der bin – was freilich stark klingt – welcher von Landkarten – das wenigste versteht. Ein Atlas von Landkarten trüge statt des Himmels des mythologischen für mich eine Hölle, wenn ich sie in meinen Kopf überzutragen hätte. Was in diesem von Erdbeschreibung an Städten und Ländern etwan hangen geblieben, ist das wenige, was mir unterwegs angeflogen auf dem geographischen Lehrcursus, welchen teils die Postwagen statarisch, teils die Hauderer kursorisch mit mir nahmen, um mich in gutem Gymnasiumdeutsch auszudrücken.

Desto mehr dank' ich dem guten Kaplane für seine Anleitung zum deutschen Stil, welche in nichts bestand als in einer Anleitung zur sogenannten [natürlichen] Theologie. Er gab mir nämlich den Beweis ohne Bibel zu führen auf, z.B. daß ein Gott sei oder eine Vorsehung u.s.w. Dazu erhielt ich ein Oktavblättchen, worauf nur mit unausgeschriebnen Sätzen, ja mit einzelnen Worten durch Gedankenstriche auseinandergehalten die Beweise und Andeutungen aus Nösselt und Jerusalem oder andern standen. Diese verzifferten Andeutungen wurden mir erklärt; und aus diesem Blatt entfalteten sich, wie nach Goethens botanischen Glauben, meine Blätter. Mit Wärme fing ich jeden Aufsatz an, mit Lohe hört' ich auf; denn immer kamen in das Ende das Ende der Welt, des Lebens, die Freuden des Himmels und all das Übermaß, das der jungen Rebe in ihrem warmen Frühling entquillt und das erst im Herbst zu etwas Geistigen zeitigt. Wenn nun diese Schreibstunden nicht Arbeit-, sondern Freuden- und Freistunden waren: wem gehört das Lob und Verdienst als dem Wahlherrn des rechten blüte- und fruchttragenden Thema? – Denn man bedenke und halte diese anfüllenden und anregenden Aufgaben doch nur gegen die gewöhnlichen der Schullehrer, welche so geräumig und unbestimmt, dem Herzen der Jugend so fremdartig, oder über den jugendlichen Lebenkreis so weit hinausragend, wie ich zum Scherze in einer Note1 tausend erfinden wollte, daß ich lieber im Ernste wünschte, ein freier jugendkennender Mann setzte sich hin und schriebe ungeachtet der besten Gedanken und Ausarbeitungen, die er sonst liefern könnte, vor der Hand weiter nichts als nach der Maßgabe der unzähligen Dispositionen über die Sonntagtexte, ein Bändchen voll bloßer Preisaufgaben für Lehrer, welche diese bloß dadurch zu lösen hätten, daß sie unter ihnen erwählten, um sie den Schülern aufzugeben.