Noch besser als alle Aufgaben sind vielleicht gar keine; der Jüngling dürfe selber sich jedesmal die Materie wie eine Geliebte auslesen, für welche er warm und voll ist und mit der allein er das Lebendige zu erzeugen vermag. Lasset doch den jungen Geist nur auf einige Stunden und Bogen lang frei – wie ja sogar der ältere es braucht –, damit er von eueren Händen ungestört austöne; sonst ist er eine Glocke, die auf dem Boden aufsteht und nicht eher ertönen [kann] als bis sie unberührt im Freien hangt.

Aber so sind die Menschen durch alle Ämter hinauf; sie haben keine Lust, knechtische Maschinen zu freien Geistern zu machen und dadurch ihre Schöpf-, Herrsch- und Schaffkraft zu zeigen, sondern sie glauben diese umgekehrt zu erweisen, wenn sie an ihre nächste oder Obermaschine aus Geist wieder eine Zwischenmaschine und an die Zwischenmaschinen endlich die letzte anzuschienen und einzuhäkeln vermögen, so daß zulezt eine Mutter Marionette erscheint, welche eine Marionettentochter führt, die wieder ihrerseits imstande ist, ein Hündchen in die Höhe zu heben – – Alles nur eine Zusammenhäkelung desselben Maschinenmeisters. Gott, der Reinfreie, will nur Freie erziehen; der Teufel, der Reinunfreie, will nur seinesgleichen.

Meine wöchentlichen Ausarbeitungen gäbe ich jetzo für keine jetzigen hin, sie mögen auch die Welt noch so sehr bilden; denn jene bildeten noch weit mehr mich selber, besonders da ihre Gegenstände meinem Triebe zum Philosophieren die Schranken auftaten und ihn sich auslaufen ließen; ein Trieb, der schon vorher sich in meinem engen Kopfe ausrennen wollte in einem schmalen Oktavbüchlein, worin ich das Sehen und Hören logisch zu ergründen suchte und dachte und woraus ich meinem Vater etwas erzählte, der mich so wenig tadelte und verstand als ich. Kann man denn es den Jugendlehrern zu oft sagen – oft genug hab' ichs wohl indessen schon gesagt – daß alles Hören und Lesen den Geist nicht halb so kräftigt und regt und reizt als Schreiben und Sprechen, weil jenes dem weiblichen Empfangen ähnlich nur die Kräfte der Aufnahme bewegt, dieses aber dem männlichen Erzeugen ähnlich die Kraft des Schaffens in Anspruch nimmt und in Bewegung setzt? – Schreiben nicht lebenlange Übersetzer der geistreichsten und sprachkürzesten Schriftsteller, z.B. Ebert als der von Young, ihre Vorreden, Noten und Gedichte mit der angebornen Wässerigkeit fort, indes doch einige Verbesserung zu erwarten gewesen wäre, da unter allem Lesen das Übersetzen das aufmerksamste ist, so wie das scharf- und feinsichtigste, daher auch jeder Übersetzer eines genialen Werks dieses besser durchgenießt und auskernt als jeder Leser? ... Lesen heißt in die Schulklasse oder den Armensäckel einsammeln, Schreiben heißt eine Münzstätte anlegen; aber der Prägstock macht reicher als der Klingelbeutel. Schreiben verhält sich als eine sokratische Hebammenkunst, die man an sich selber übt, zum Lesen, wie Sprechen zum Hören. In England und bei Hof- und Weltleuten bildet das Sprechen aus und hilft dem seltenern Lesen nach.

Diese Stunden des Kaplans setzt' ich endlich auf ein Schachspiel und sie wurden verspielt, weil – nicht gespielt wurde. Zuweilen nämlich beschloß der Kaplan den geographischen Unterricht mit einem im Schach; mein liebstes Spiel bis noch jetzt, ob ich gleich darin wie in jedem andern der Anfänger geblieben, als der ich gleich anfangs aufgetreten. Da ich nun einmal die Stunde ungeachtet der Kopfschmerzen besuchte, weil mir ein Schach versprochen war; und da dasselbe aus Vergessen nicht kam: so kam ich auch niemals mehr wieder. Ich begreife viel schwerer den einen Umstand, daß mir der Vater ein solches von keinem Worte motivierte Wegbleiben schweigend erlaubte, als den andern natürlichen, daß ich ein Narr war und den Kaplan zur nämlichen Zeit fortfloh, als ich ihn fortliebte. Zwar war ich mit Freuden zwischen ihm und dem Vater die kleine Fußbotenpost; und mit Liebeblicken und Freudenpulsen sah ich ihn fast nach jeder Kindtaufe (die Taufglocke läutete meinem Ohre deshalb eine Frohmesse ein) bei meinem Vater einspringen und – ich las oder schrieb unweit ihres Sprechtisches – den halben oder ganzen Abend da verplaudern; aber ich hatte mir wie gesagt, das Schachbrett in den Kopf gesetzt und blieb aus. Himmel! wer mag in meiner und in so mancher poetischen und weiblichen Natur in die besten Honigzellen einen solchen Sauerhonig (wenn nicht Honigessig) des Liebens und Grollens eintragen, eine solche widerstreitende Mixtur, die oft die schönsten Tage, ja vielleicht die schönsten Herzen vergiftete und wundfraß? – Wahrlich, wäre oft der heißesten Liebe nur noch eine halbe Unze Lichtäther oder Verstand beizumischen: ich wüßte nichts darüber, über die wärmste Liebe; so aber gerinnt sie zu ihrem sauern Boden- und Gegensatz.

 

Scherz mit dem Rektor

Da die Schraubgenossenschaft wußte, daß er in der Schule die Zeitung las und in seine Schulstubenpredigten jede lebendige Gegenwart aufnahm: so schickte sie ihm von der Erlanger Realzeitung, die er mithielt, ein altes Blatt aus den 70ger Jahren, das die schreckliche Hungernot in Italien, besonders in Neapel, grausend abschilderte. Die Jahrzahl der Zeitung hatten sie mit einem daraufgeflößten Dintenklecks gut genug versiegelt. Sie hörten es nun alle in ihre Stuben gleichsam hinein, wie er vom Fidibus-Blatt entzündet (er kann kaum den Abzug des Kantors erwarten) mit dem Erklären losbrechen und mit welchen Feuerfarben er jetzo – der Erlanger gab nur die Wasserfarben dazu – das hungrige Betteln, Schreien, Niederfallen, Verschlucken auf allen Gassen so nahe vor die Schwarzenbacher Schuljugend rücken werde, daß es unentschieden sein werde, ob sie mit heißeren Tränen heimkommen werden oder mit heißerem Hunger. Und in der Tat in solchen Fällen der Schilderungen glaubt der Mensch kaum mehr, daß es noch etwas zu essen gibt in der Welt. Unter welche Ehrenpforten (oder auf welchen Ehrenbetten) noch abends der gute Herold des Hungers von der Spaßgenossenschaft für sein Rühren und Mahnen gebracht worden, als die Schützengesellschaft die Kinder besehen und vernommen, kann sich jeder denken, ich aber nicht berichten, weil ich erst dunkel und spät etwas erfahren habe. Alter gutmeinender Rektor! schäme oder ärgere dich indes nicht besonders über das Spaß- oder Stoßgevögel, das auf deine Kanzel-Tauben niederfahren will! Die heilige Taube hatte doch mit warmen Flügeln über unsern Herzen geschwebt und sie angebrütet. Für die angewärmte Seele ists einerlei ob sie für eine alte oder für eine junge Hungerzeit mit den Schlägen des Wohlwollens gezittert.

 

Kuß

Wie früher dem Kirchenstuhl gegenüber, so konnt' ich nicht anders als zur erhöhten Schulbank hinauf – denn sie saß ganz oben, die Katharina Bärin – mich verlieben, in ihr niedliches rundes rotes blatternarbiges Gesichtchen mit blitzenden Augen und in ihre artige Hastigkeit, womit sie sprach und davonlief. Am Schulkarneval, das den ganzen Fastnachtvormittag einnahm [und] in Tänzen und Spielen bestand, hatt' ich die Freude, mit ihr den unregelmäßigen Hopstanz zu machen und so dem regelrechten gleichsam vorzuarbeiten und vorzutanzen. Ja bei dem Spiele »wie gefällt dir dein Nachbar« – wo man auf das Bejahen des Gefallens zu küssen befehligt wird und auf das Verneinen einem Hergerufnen unter einigen Ritterschlägen des Klumpsackes laufend Platz zu machen hat – trug ich letzte häufig neben ihr davon; eine Goldschlägerei, durch die meine Liebe wie das edelste Metall größer wurde, und ein unterhaltendes Abwechseln wie sie mir immer den Hof verbot und ich sie immer an den Hof rief, waltete ob.

Alle diese böslichen Verlassungen (desertio malitiosa) konnten mir die Seligkeit nicht abschneiden, ihr täglich zu begegnen, wenn sie mit ihrem schneeweißen Schürzchen und Häubchen über die lange Brücke dem Pfarrhause entgegenlief, aus dessen Fenster ich schauete. Sie freilich zu erwischen, um ihr etwas Süßes nicht sowohl zu sagen, als zu geben, z.B. einen Mundvoll Obst – dies war ich, so schnell ich auch durch den Pfarrhof eine kleine Treppe hinablief, um die Vorbeilaufende unten im Fluge zu empfangen, meines Wissens nie imstande. Aber ich genoß genug, daß ich sie vom Fenster aus auf der Brücke lieben konnte, was, hoff' ich, für mich nahe genug war, da ich gewöhnlich immer hinter langen Seh- und Hörröhren mit meinem Herzen und Munde stand. Ferne schadet der rechten Liebe weniger als Nähe. Wäre mir auf der Venus eine Venus zu Gesicht gekommen: ich hätte das himmlische Wesen mit seinen in solcher Ferne so sehr bezaubernden Reizen warm geliebt und es ohne Umstände zu meinem Morgen- und Abendstern erwählt zum Verehren.

Inzwischen hab' ich das Vergnügen, alle, welche in Schwarzenbach bloß ein wiederholtes Joditz der Liebe erwarten, aus ihrem Irrtum zu ziehen und ihnen zu melden, daß ich es zu etwas brachte. An einem Winterabende, wo ich meine Prinzessinsteuer von Süßigkeiten schon vorrätig hatte, der gewöhnlich nur die Einnehmerin fehlte, beredete der Pfarrsohn, der unter allen meinen Schulkameraden der schlechteste war, mich zum verbotenen Wagstücke, während ein Besuch des Kaplans meinen Vater beschäftigte, im Finstern das Pfarrhaus zu verlassen, die Brücke zu passieren und geradezu (was ich noch nie gewagt) in das Haus, wo die Geliebte mit ihrer armen Mutter oben in einem Eckzimmerchen wohnte, zu marschieren und unten in eine Art von Schenkstube einzudringen. Ob Katharina aber zufällig da war und wieder hinaufging, oder ob sie der Schelm mit seiner Bedientenanlage unter einem Vorwande herunterlockte, auf die Mitte der Treppe; oder kurz wie es dahinkam, daß ich sie auf der Mitte fand: dies ist mir alles nur zu einer träumerischen Erinnerung auseinandergeronnen; denn eine plötzlich aufblitzende Gegenwart verdunkelt dem Erinnern alles was hinter ihr ging. So stürmisch wie ein Räuber war ich zuerst der Geber meiner Eßgeschenke, und dann drückt' ich – der ich in Joditz nie in den Himmel des ersten Kusses kommen konnte, und der nie die geliebte Hand berühren durfte – zum ersten Male ein lange geliebtes Wesen an Brust und Mund. Weiter wüßt' ich auch nichts zu sagen, es war eine Einzigperle von Minute, etwas, das nie da war, nie wiederkam; eine ganze sehnsüchtige Vergangenheit und Zukunft-Traum war in einen Augenblick zusammen eingepreßt; – und im Finstern hinter den geschloßnen Augen entfaltete sich das Feuerwerk des Lebens für einen Blick und war dahin.