Aus der grönländischen Winterschwüle der vollen Schulstube erinnre ich mich noch vergnügt der langen ausgestopften Zapfen aus Leinwand, welche in kleinen durch die Holzwand gebohrten Luftlöchern steckten und die man nur herauszuziehen brauchte, um in den offnen Mund die herrlichsten Erfrischungen von Luft aus dem Froste draußen einzunehmen. Jeder neue Schreibbuchstabe vom Schulmeister erquickte mich wie andere ein Gemälde; und um das Aufsagen der Lektion beneidete ich andere, da ich gern wie die Seligkeit des Zusammensingens auch die des Zusammenbuchstabierens genossen hätte.

War es 12 Uhr und das Essen noch nicht fertig: so konnte mir und meinem verstorbnen Bruder Adam, ob ihm gleich jedes Vogelnest lieber war als ein ganzer Musensitz, nichts Erwünschteres begegnen; denn wir flogen mit unserem Hunger in die Schule, um keine Minute zu versäumen, sondern ihn erst nachher zu stillen. Man machte viel aus dieser lernbegierigen Aufopferung; aber ich weiß noch gut, daß an ihr die gewöhnliche Neigung der Kinder, von der täglichen Ordnung abzuweichen, den größern Anteil hatte; wir wollten gern um 3 Stunden später essen; gerade so wie wir deshalb uns auf das Spätessen des Fast- und Bußtags freueten. Geht alles im Hause recht durcheinander – z.B. durch Ausweißen der Zimmer, oder gar durch Ausziehen in ein fremdes Haus oder durch Ankunft vieler Gäste – so wissen sich die kleinen Menschnarren nichts Schöneres.

Leider schloß ich mir selber durch eine unzeitige Klage bei meinem Vater, daß ein langer Bauersohn (Zäh ist sein Name für die Nachwelt) mich mit einem Einlegmesser ein wenig auf die Fingerknöchel geschlagen, auf immer die Schulstube zu. Er, in seinem ehrgeizigen Zorne, gab nun mir und meinen Brüdern allein den Unterricht; und mir gegenüber mußt' ich jeden Winter die Schulkinder in einen Hafen einlaufen sehen, der mir versperrt war. Indes blieb mir doch die Nebenfreude, häufig dem Schulmeister die Bullen und Dekretalen seines Dorfpapstes zu überbringen und statt der römischen agnus dei oder geweihten Windeln und Rosen Christgeschenke, die Schlachtschüssel, oder sonst einen Teller mit Essen.

Vier Stunden vor- und drei nachmittags gab unser Vater uns Unterricht, welcher darin bestand, daß er uns bloß auswendig lernen ließ, Sprüche, Katechismus, lateinische Wörter und Langens Grammatik. Wir mußten die langen Geschlechtregeln jeder Deklination samt den Ausnahmen, nebst der beigefügten lateinischen Beispiel-Zeile lernen, ohne sie zu verstehen. Ging er an schönen Sommertagen über Land: so bekamen wir so verdammte Ausnahmen wie panis piscis zum Hersagen für den nächsten Morgen auf, von welchen mein Bruder Adam, dem der ganze lange Tag kaum zu seinem Herumrennen und Kindereien aller Art zulangte, gewöhnlich kein Achtel im Kopfe übrig hatte. Denn nur selten erlebte er das Glück, so köstliche Deklinationen wie scamnum oder gar wie cornu in der Einzahl, wovon er allerdings jedesmal wenigstens die lateinische Hälfte trefflich herzusagen wußte, aufgegeben zu bekommen. Übrigens glauben Sie mir, meine Herren und Frauen, wars gar nichts Leichtes, an einem blauen Juniustag, wo der Allherrscher Vater nicht zu Hause war, sich selber in einen Winkel festzusetzen und gefangen zu nehmen und zwei oder drei Seiten von Vokabeln desselben Buchstabens und ähnlichen Klanges auswendig zu lernen, an einem blauen langen Wonnetag, sag' ich, war es nichts Leichtes, sondern mehr an einem weißdunkeln kurzen Dezembertag und man muß sich nicht wundern, wenn mein Bruder Adam desfalls immer Schläge von solchen Tagen davontrug. Professor dieser eignen Geschichte darf aber den allgemeinen Satz aufstellen, daß er überhaupt niemal in seinem ganzen Schülerleben ausgeprügelt worden, weder gliederweise, geschweige vollends im ganzen; der Professor wußte immer das Seinige.

Nur werfe dieses bloße Auswendiglernenlassen kein falsches Licht auf meinen unverdroßnen und liebevollen Vater. Er, der den ganzen Tag dem Aufschreiben und Auswendiglernen der Predigten für seine Bauern opferte bloß aus überstrenger Amtgewissenhaftigkeit, da er die Kraft seiner improvisierenden Beredsamkeit mehrmal erfahren hatte, und er, der im wöchentlichen Besuche der Schulstube und im Verdoppeln öffentlicher Kinderlehren und überall die Pflichten mit Opfern überbot, und der mit einem weichen warmen Vaterherzen an mir am meisten hing und leicht über kleine Zeichen meiner Anlagen oder Fortschritte in frohes Weinen ausbrach, dieser Vater machte in seiner ganzen Erziehweise keine andern Fehler – so seltsame auch noch vorkommen mögen – als die des Kopfes, nicht des Willens.

Eigentlichen Schullehrern ist sogar diese Methode anzuempfehlen, weil bei keiner so viel Zeit und Mühe zu ersparen ist, als bei dieser wahrhaft bequemen, wo der Zögling am Buche den Vikarius oder Adjunktus des Lehrers oder dessen curator absentis bekommt und wie ein kräftiger Hellseher, sich selber magnetisiert. Ja dieses geistige Selberstillen der Kinder läßt eine solche Ausdehnung zu, daß ich mir getraue, durch die bloße Briefpost ganzen Schulen in Nordamerika vorzustehen oder in der alten Welt funfzig Tagreisen entfernten, indem ich meiner Schuljugend bloß schriebe, was sie täglich auswendig zu lernen hätte, und einen unbedeutenden Menschen hielte, dem sie es hersagte, und ich genösse das Bewußtsein ihrer schönen geistigen Fastensonntage reminiscere.

Im Speccius übersetzte ich auf Befehl viel vom Anfange ins Lateinische mit der Freude, womit ich jeden neuen Zweig des Lernens abbeerte; die letzte Hälfte desselben bracht' ich von selber ins Latein, aber ohne einen Korrektor der Fehler zu finden. Die Colloquia (Gespräche) in Langens Grammatik weissagt' ich mir deutsch aus Sehnsucht ihres Inhalts; aber mein Vater ließ mich in Joditz nichts übersetzen. In einer lateinisch geschriebnen Grammatik der griechischen Sprache studiert' ich durstig und hungrig das Alphabet und schrieb am Ende ziemlich griechisch, was nämlich die Handschrift anlangt. Wie gern hätt' ich mehr gelernt und wie leicht! Wenn nicht der Leib, doch der Geist einer Sprache fuhr leicht in mich hinein, wie die dritte Vorlesung unseres Winterhalbjahrs wohl der Welt am besten zeigen wird.

Nur einmal an einem Winter-Nachmittage – ich mochte etwa 8 oder 9 Jahre alt sein – als mein Vater ein kleines lateinisches Wörterbuch mit mir treiben wollte, d.h. es mich auswendig lernen lassen und ich ihm die erste Seite vorher abzulesen hatte: las ich lingua ungeachtet seiner Verbesserung nicht lingwa, sondern immer lin-gua; und wiederholte denselben Fehler allen Korrekturzeichen zum Trotze so oft, daß er wild wurde und in zorniger Ungeduld auf immer mir das Vokabelnbuch und dessen Erlernen entzog. Noch jetzo kann ich der Quelle dieser hartnäckigen Dummheit nicht auf den Grund kommen; mein Herz aber – dies sagt' es selber mir durch mein ganzes Leben hindurch – war mit keinem Mutwillen im Spiele, so wie überall nicht, so am wenigsten hier gegen den Vater, der mir ja durch ein neues Lernbuch eine neue Knabenlust anbot. Es wird aber absichtlich dieser historische Zug in unserem Hörsaale erzählt, damit die Unparteilichkeit des Geschichtforschers und Geschichtprofessors sich durch die Mängel erweise, auf die er sogar geradezu an einem Helden anerkennend hinweiset, den er sonst gern überall, wo nur Wahrheit es verstattet, im glänzendsten Licht vorführt. – Übrigens aber wie oft sagen unverstanden und mißverstanden die armen unschuldigen Menschen im Leben lin-gua anstatt des so richtigen ling-wa, und noch dazu mit der Zunge (lingua), die zugleich auch Sprache bedeutet! –

Geschichte übrigens – sowohl alte als neue –, Naturgeschichte, ferner das Wichtigste aus der Erdbeschreibung, desgleichen Arithmetik und Astronomie so wie Rechtschreibung, alle diese Wissenschaften lernt' ich zwar hinlänglich kennen, aber nicht in Joditz – wo ich recht gut ohne ein Wort von ihnen zwölf Jahre alt wurde – sondern mehre Jahre später schriftlich und brockenweise aus der Allgemeinen Bibliothek. Desto lechzender war mein Durst nach Büchern in dieser geistigen Saharawüste. Ein jedes Buch war mir ein frisches grünes Quellenplätzchen, besonders der orbis pictus und die Gespräche im Reiche der Toten; nur war die Bibliothek meines Vaters, wie manche öffentliche, selten offen, ausgenommen wenn er nicht darin und daheim war. Wenigstens lag ich doch oft auf dem platten Dache eines hölzernen Gitterbettes (ähnlich einem vergrößerten Tierkäfig) und kroch wie der große Jurist Baldus auf Büchern, um eines für mich zu haben. Man erwäge nur, in einem volkleeren Dorfe, in einem einsamen Pfarrhause mußten für eine so hörbegierige Seele Bücher sprechende Menschen, die reichsten ausländischen Gäste, Mäzene, durchreisende Fürsten und erste Amerikaner oder Neuweltlinge für einen Europäer sein.

Ich verstand zwar die Quartbände der Gespräche im Reiche der Toten als ein historischer Abcschütz nicht im geringsten; aber ich las sie so gut wie die Zeitungen als ein geographischer, und konnte aus beiden viel berichten. So wie ich meinem Vater aus jenen erzählte – einmal abends ohne seine Mißbilligung die während seiner Abwesenheit gelesene Liebegeschichte der Roxelane mit dem türkischen Kaiser – so trieb ich es ebensoweit mit Zeitungen-Extrakten bei einer alten Edelfrau. Er bekam nämlich von seiner Patronatherrin Plotho in Zedwitz die Baireuther Zeitung geschenkt; monatlich, oder vierteljährig – sooft er eben nach Zedwitz ging – brachte er einen Monat- oder Vierteljahrgang auf einmal nach Hause und ich und er lasen sie mit Nutzen, eben weil wir sie mehr band- als blattweise bekamen. Eine politische Zeitung gewährt, nicht blatt- sondern heft- und bandweise gelesen, wahrhafte Berichte, weil sie erst im Spielraume eines ganzen Heftes Blätter genug zum Widerruf ihrer andern Blätter gewinnt, und sie kann gleich dem Winde ihre wahre Farbe nicht in einzelnen Stößen und Stücken zeigen, sondern nur in ihrem großen Umfang, wie eben gedachte Luft erst in Masse ihre himmelblaue Farbe. Gewöhnlich am Morgen trug ich meinen Neuigkeiten-Atlas in das Schloß zur alten Frau von Reizenstein und weissagte ihr am Kaffeetischchen eines und das andere von dem, was ich ihr gebracht, und ließ mich loben. Noch erinnere ich mich einer damals oft vorkommenden Mehrzahl »Konföderierte«.