– Von jeher war in Wonsiedel, der sechsten Stadt in den sogenannten Sechsämtern, wenigstens für Patriotismus und für Vereine zu Hülfe und zu Recht, ein sechster Schöpfungstag und deutsche Treue und Liebe und Kraft hielten sich da auf. – Ich bin gern in dir geboren, Städtchen am langen hohen Gebirge, dessen Gipfel wie Adlerhäupter zu uns niedersehen! – Deinen Bergthron hast du verschönert durch die Thronstufen zu ihm; und deine Heilquelle gibt die Kraft – nicht dir, sondern – dem Kranken, hinaufzusteigen zum Thronhimmel über sich und zum Beherrschen der weiten Dörfer- und Länderebene. – Ich bin gern in dir geboren, kleine, aber gute lichte Stadt! –

Es ist eine bekannte Beobachtung, daß die Erstgebornen gewöhnlich weiblichen Geschlechts sind. Von dieser Beobachtung macht der Gegenstand dieser Geschichte keine Ausnahme ungeachtet seines Rechts der Erstgeburt; denn da die Eltern im Oktober 1761 getrauet und er 1763 im März geboren worden: so ging ihm (wie er gehört) ein Wesen – für die Erde nur ein Schatten – voraus; und fing vielleicht, ohne das Licht der Welt erblickt zu haben, im Lichte einer andern das Dasein an.

Tief hinunterreichende Erinnerungen aus den Kindjahren erfreuen, ja erheben den bodenlosen Menschen, der sich in diesem Wellendasein überall festklammern will, unbeschreiblich und weit mehr als das Gedächtnis seiner spätern Schwungzeiten; vielleicht aus den zwei Gründen, daß er durch dieses Rückentsinnen sich näher an die von Nächten und Geistern bewachten Pforten seines Lebens zurückzudrängen meint und daß er zweitens in der geistigen Kraft eines frühen Bewußtseins gleichsam eine Unabhängigkeit vom verächtlichen kleinen Menschkörperchen zu finden glaubt. Ich bin zu meiner Freude imstande, aus meinem zwölf-, wenigstens vierzehnmonatlichen Alter eine bleiche kleine Erinnerung, gleichsam das erste geistige Schneeglöckchen aus dem dunkeln Erdboden der Kindheit noch aufzuheben. Ich erinnere mich nämlich noch, daß ein armer Schüler mich sehr liebgehabt und ich ihn und daß er mich immer auf den Armen – was angenehmer ist als oft später auf den Händen – getragen und daß er mir in einer großen schwarzen Stube der Alumnen Milch zu essen gegeben. Sein fernes nachdunkelndes Bild und sein Lieben schwebte mir über spätere Jahre herein; leider weiß ich seinen Namen längst nicht mehr; aber da es doch möglich wäre, daß er noch lebte hoch in den Sechzigern und als vielseitiger Gelehrter diese Vorlesungen in Druck vorbekäme und sich dann eines kleinen Professors erinnerte, den er getragen und geküßt – – ach Gott, wenn dies wäre und er schriebe oder der ältere Mann zum alten käme! – Dieses Morgensternchen frühester Erinnerung stand in den Knabenjahren noch ziemlich hell in seinem niedrigen Himmel, erblaßte aber immer mehr, je höher das Taglicht des Lebens stieg; – und eigentlich erinnere ich mich jetzo nur dies klar, daß ich mich früher von allem heller erinnert. –

Da mein Vater schon im Jahre 1765 als Pfarrer nach Joditz berufen worden: so kann ich mein Wonsiedler Kindheitreliquiarium desto reiner von den ersten frühen Joditzer Reliquien und Erinnerungen abscheiden.

Das Pfarrdorf ist nun der zweite Aufzug dieses kleinen historischen Monodramas, wo Sie, hochgeehrteste Herren und Frauen, den Helden des Stücks schon in ganz andern Entwicklungen antreffen werden in der zweiten Vorlesung. Denn jede Vorlesung spielt an einem andern Wohnorte. Es ist überhaupt die ganze Geschichte dieser Vorlesungen – oder die Vorlesungen dieser Geschichte – so kunstmäßig und glücklich durch alles geordnet, daß von den gewöhnlichen drei Einheiten eines historischen Stücks nur nach der ersten des Orts – da ich ja in den verschiedenen Orten meines Aufenthaltes vorkommen und auftreten muß – keine weiter als die Einheit der Zeit verletzt wird, weil der Held vom Antritt seines Lebens bis zum Antritt seiner Professur ja immer aus einer Zeit in die andere gehen muß, noch abgerechnet, daß er unter dem Darstellen und Spielen des Stücks ja selber durch Älterwerden die Einheit der Zeit beleidigt. Dafür [entschädigt] aber die durchgängige Einheit des Interesse, die schwerlich größer zu denken ist. Schon hebt aber das Steigen unseres Helden an und wir haben die Freude, die historische Person, die wir als bloßen Tertiussohn in der ersten Vorlesung verlassen, schon nach zwei Jahren als Pfarrsohn in der zweiten anzutreffen; denn 1765 wurde mein Vater nach Joditz voziert von der Freifrau von Plotho in Zedwitz, eine geborne Bodenhausen, die Gemahlin desselben Plotho, der unter Friedrich dem Einzigen im Reichstag einen österreichischen Gesandten geradezu aus Gründen die Treppe herabgeworfen.

 

Zweite Vorlesung

 

(welche den Zeitraum von 1765 bis 177[5] umfaßt)
Joditz – Dorfidyllen

Verehrteste Herren und Frauen!

 

Sie finden jetzo den Professor der Selbergeschichte im Pfarrdorfe Joditz, wo er in einer Weiberhaube und einem Mädchenröckchen mit seinen Eltern eingezogen; die Saale, gleich mir am Fichtelgebirge entsprungen, war mir bis dahin nachgelaufen, so wie sie, als ich später in Hof wohnte, vorher vor dieser Stadt unterwegs vorbeiging. Der Fluß ist das Schönste, wenigstens das Längste von Joditz, und läuft um dasselbe an einer Berghöhe vorüber, das Örtchen selber aber durchschneidet ein kleiner Bach mit seinem Stege kreuzweise. Ein gewöhnliches Schloß und Pfarrhaus möchten das Bedeutendste von Gebäuden da sein. Die Umgegend ist nicht über zweimal größer als [das] Dörfchen, wenn man nicht steigt. – Und doch ist das Dorf für einen Professor der eignen Geschichte noch wichtiger als die Stadt der Geburt, weil er in ihm das Wichtigste, nämlich die Knabenolympiaden verlebte.

Niemals konnt' ich den 19 Städten, die sich (nach Suidas) um die Ehre homerische Geburtörter zu sein, zankten, meine Stimme geben, ebensowenig als den verschiednen holländischen Ortschaften, die (nach Bayle) sämtlich den Erasmus geboren haben wollten; denn sogar am Orte des Grabes konnten Einwohner mehr Anteil des Verdienstes – vielleicht auch Tadels – haben als an dem Orte der Wiege. Obgleich im ganzen gar so viele Fürsten in Residenzstädten geboren werden: so rühmem sich doch London, Paris, Berlin und Wien nicht damit; sonst müßten sich im umgekehrten Verhältnisse alle die Städte und Dörfer schämen, wo große Spitzbuben geboren worden. Höchstens Geburtländer möchten die Ehre der Geburtörter sich anmaßen dürfen, wenn in ihnen durch die Mehrheit guter Geburten etwas für ihren Himmelstrich und die Bewohner desselben entschieden wird; aber ein Pindar in Bäotien macht aus diesem noch keinen Schwalbensommer.

Aber die eigentliche Geburtstadt und zwar die geistige ist der erste und längste Erziehort; sogar schon für die weltberühmten Männer, welche Erziehung selten brauchen und selten gebrauchen; wieviel mehr aber für dorf- und stadtberühmte Mittel-Männer, wie mein Held ist, der so viel durch Erziehen und Verziehen gewonnen und der durch beides in Verbindung mit Lektüre (nur eine größere Er- und Verziehanstalt) wirklich das geworden, was er eben ist, ein Hildburghäuser Gesandtschaftrat, ein Heidelberger Doktor der Philosophie und nachher ein dreifaches Mitglied verschiedener Gesellschaften und gegenwärtiger unwürdiger Besitzer dieses selberhistorischen Professorats.

Lasse sich doch kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und erziehen, sondern womöglich in einem Dorfe, höchstens in einem Städtchen. Die Überfülle und die Überreize einer großen Stadt sind für die erregbare schwache Kindseele ein Essen an einem Nachtisch und Trinken gebrannter Wasser und Baden in Glühwein. Das Leben erschöpft sich an ihm in der Knabenzeit und er hat nun nach dem Größten nichts mehr zu wünschen als höchstens das Kleinere, die Dorfschaften. Man gewinnt und errät aber nicht so viel, wenn man aus der Stadt ins Dorf kommt als umgekehrt aus Joditz nach Hof. Denk' ich vollends an das Wichtigste für den Dichter, an das Lieben: so muß er in der Stadt um den warmen Erdgürtel seiner elterlichen Freunde und Bekanntschaften die größern kalten Wende- und Eis-Zonen der ungeliebten Menschen ziehen, welche ihm unbekannt begegnen und für die er sich so wenig liebend entflammen oder erwärmen kann als ein Schiffvolk, das vor einem andern fremden Schiffvolk begegnend vorübersegelt. Aber im Dorfe liebt man das ganze Dorf und kein Säugling wird da begraben, ohne daß jeder dessen Namen und Krankheit und Trauer weiß; Joditzer haben sich alle ineinander hineingewohnt und hineingewöhnt; – und dieses herrliche Teilnehmen an jedem, der ein Mensch, welches daher sogar auf den Fremden und den Bettler überzieht, brütet eine verdichtete Menschenliebe aus und die rechte Schlagkraft des Herzens. – Und dann, wenn der Dichter aus seinem Dorfe wandert, bringt er jedem, der ihm begegnet, ein Stückchen Herz mit und er muß weit reisen, eh er endlich damit auf den Straßen und Gassen das ganze Herz ausgegeben hat. –

Allerdings gibt es noch ein größeres Unglück als das, in einer Hauptstadt erzogen zu sein – nämlich das, unterwegs erzogen zu werden als ein vornehmes Kind, das nun jahrelang durch fremde Städte und Menschen fährt und kein Haus kennt als den Kutschenkasten.

Wir nähern uns wieder mehr unserem Pfarrsohne, dessen Leben in Joditz ich am besten darzustellen glaube, wenn ich dasselbe später als einen ganzen Idyllenjahrgang vorüberziehen lasse. Aber wie Nebelwetter gehe das voraus, was nicht zu den hellen Tagen gehört; und dies ist mein Unterricht; obwohl freilich am Ende – erst nach 10 Jahren – dieser Nebel fiel. Alles Lernen war mir Leben und ich hätte mit Freuden, wie ein Prinz, von einem Halbdutzend Lehrern auf einmal mich unterweisen lassen, aber ich hatte kaum einen rechten. Noch erinnere ich mich der Winterabendlust, als ich aus der Stadt endlich das mit einem Griffel als Zeilenweiser versehene Abcbuch in die Hand bekam, auf dessen Deckel schon mit wahren goldnen Buchstaben (und nicht ohne Recht) der Inhalt der ersten Seite geschrieben war, der aus wechselnden roten und schwarzen bestand; ein Spieler gewinnt bei Gold und rouge et noir weniger an Entzücken als ich bei dem Buche, dessen Griffel ich [nicht] einmal anschlage. Damit bezog ich nun – nachdem ich bei meinem Innern Privatissima genug genommen und die tiefern Schulklassen durchgemacht – in einer grüntaftnen Haube, aber schon in Höschen (die Schulmeisterin ersetzte öffentlich dabei meine schwachen Händchen) die hohe Schule, nämlich die der Pfarrwohnung gegenübergelegene Schulmeisterwohnung und sagte gleich jedem auf mit dem Griffel. Wie gewöhnlich gewann ich alles Lebende in der Stube lieb, und den lungensüchtigen magern, aber aufgeweckten Schulmeister zuerst, mit welchem ich alle Wartangst teilte, wenn er hinter seinen zum Fenster hinausgehaltenen Finkenkloben auf einen anfliegenden Stieglitz lauerte, oder wenn er das Zuggarn über die Emmerlinge auf dem Vogelherde draußen im Schnee herüberzuschlagen vorhatte.