Leider trieb ers in manchen Sommern nicht dreimal soweit, sondern er mußte meistens alles Gute, besonders den Gram dazu, in sich fressen. Waren jedoch seine Mandeln einmal nicht auf einen steinigen Acker gefallen, sondern in das Eden seines Auges: so erwuchs freilich aus ihnen ein ganzer blühender, im Kopfe hängender Garten voll Duft und er ging darin wochenlang spazieren. Denn die reine Liebe will nur geben und nur durch Beglücken glücklich werden; und gäb' es eine Ewigkeit fortsteigernder Beglückung, wer wäre seliger als die Liebe? –

Die Kuhglockenspiele blieben ihm lange Zeit die Kuhreigen der hohen fernen Kindheitalpen; und noch würde sein altes Herzblut wogen und wallen, wenn diese Klänge ihm wieder begegneten; »es sind Töne,« würd' er sagen, »von Windharfen hergespielt aus weiter weiter schöner Ferne und ich möchte dabei fast weinen vor Lust.« Denn man gebe der Liebe auch nur den kleinsten Ton, und wäre die Kuh die Glöcknerin: so verdoppelt er seine orphische Zauber- und Baukraft und seine unsichtbaren Wogen wiegen und ziehen das Herz ins Ewige hin und es weiß nicht, ist es zu Hause oder in der Ferne, und der Mensch weint froh zugleich über Haben und Entbehren.

Und in dieser Brennweite der Liebe blieb Augustine gegen Paul; und er erlebte in Jahren nie eine Zeit, ihr nur die Hand zu drücken. An einen Kuß wollen wir gar nicht denken. Zuweilen flog er einem gewöhnlichen Dienstmädchen seiner Eltern, das er nicht einmal liebte, verschämt und heftig an den Mund und schon in dem Kusse brauseten Seele und Körper unbewußt und schuldlos miteinander auf; aber vollends der Mund einer Geliebten, welche gerade in der Sonnenferne auf die geistigste innigste Liebe am wärmsten herabschien, hätte ihn in heißen Himmeln eingetaucht und ihn in einen glühenden Äther zerlassen und verflüchtigt. Und doch wollte ich, er wäre schon in Joditz ein oder ein paar Male verflüchtigt geworden. – Als er oder vielmehr sein Auge in seinem dreizehnten Jahre zwei Meilen weit von der Geliebten vertrieben war, da sein Vater eine reichere Pfarrei bekommen: so packte er einem jungen Schneider aus Joditz, den der Vater aus Liebe gegen sein liebes geräumtes Dörfchen mitgenommen [und] mehre Wochen im neuen großen Pfarrhaus behalten, mehre artige Potentaten auf, die er mit Fett und Ruß nach ihrem gemalten Leben gezeichnet und mit dem Farbenkästchen täuschend illuminiert hatte, und ließ den Schneider Augustinen sie mit dem Auftrage überbringen, die Reiter und Fürsten wären von ihm und er schenk' ihr sie zum ewigen Angedenken.

Einen andern Liebehandel aus derselben Zeit, der nicht länger dauerte als das Mittagessen, spann er seines Orts – die junge Frau wußte kein Wort davon – ganz im stillen und tief im Busen an, als er einst in Köditz an einer vornehmen Tafel voll Erwachsener eben der gedachten jungen Frau gegenübersaß und solche anblickte in einem fort. Da entquoll in ihm für sie ein Lieben (nicht eine Liebe) unaussprechlich an Süßigkeit, unerschöpflich dem Anschauen, ein Herzens-Auseinanderwallen, ein himmlisches Vernichten und Auflösen des ganzen Menschen bloß in sein Auge. Weder sie sagte dem verzauberten Pfarrknaben ein Wort, noch weniger er ihr; hätte sie sich aber gebückt und den armen Jungen etwa geküßt, er wäre vor lauter Himmel gen Himmel gefahren. Dennoch blieb ihm mehr das Gefühl als ihr Gesicht, von welchem er nichts behalten als die Narben. Da nun diese Schönheit schon die zweite blatternarbige ist – in spätern Vorlesungen kommen noch einige nach – so hält es der Professor für Pflicht, allen vaccinierten Zuhörerinnen zu erklären, daß er sie allerdings so gut und so hoch zu schätzen weiß wie einer, daß nur aber damals eine andere Gesichtermode gewesen. Paul hat überhaupt dies an sich, – und er macht sich heute in dieser schönen Versammlung anheischig – daß er jedes weibliche Gesicht, dessen sogenannte Häßlichkeit nur keine moralische sein darf, ohne alle kosmetische Kunstgriffe, ohne Schmink- und Salbbüchsen, ohne März- und Seifenwasser, und ohne Nachtlarven im höchsten Grade reizend und bezaubernd zu machen vermag, wenn man ihm dazu nur einige Abende, Gesänge, Herzworte einräumt, daß wohl niemand schöner erscheint als eben die gedachte Person – aber natürlich nur in seinen eignen Augen; denn wer spricht von andern?

Sehr bestätigt dies eben die erwähnte Frau; denn als er sie zwanzig Jahre darauf in Hof wiedersah, ihm gegenüber wohnhaft, fand er bloß noch die Narben, sonst nichts; sie selber unscheinbar und gebückt und ich nenne sie nicht.

Die reine Liebe hat so unendliche Kräfte zu erschaffen und zu erheben – so wie die gemeine zu zertrümmern und hinabzudrücken – daß sie uns im Darstellen noch stärker ergreifen würde, wäre sie nicht so oft geschildert worden; aber eben darum konnte nur sie die vielen tausend Bände vertragen, welche sie malen. Man nehme einem Menschen, der in der Zeit der Liebe die Landschaften – die Sterne – die Blüten und Berge – die Töne – die Lieder – die Gemälde und Gedichte – ja die Menschen und das Sterben mit dichterischem Genießen anschauet; man nehme diesem die Liebe: so hat er die zehnte Muse oder vielmehr die Musenmutter verloren; und jeder fühlt in spätern Jahren, wo dieser heilige Rausch sich selber verbietet, daß zu allen Musen ihm noch die zehnte fehle.

Wir kommen zu den Sonntagen unsers Pauls, an denen die Idylle ansehnlich zunimmt. Sonntage scheinen ordentlich für Pfarrer und Pfarrkinder erschaffen; besonders ergötzte unsern Paul eine recht große Menge Trinitatis, oder die größte von 27, obgleich durch alle 27 nicht ein Sommersonntag mehr in die Welt und Kirche kam als an andern Jahren. In Städten sind etwa fürstliche oder amtliche Geburttage, Meßzeiten die wahren Trinitatis. Paul fing an glänzenden Sonntagmorgen sein Genießen dadurch an, daß er noch vor der Kirche durch das Dorf mit einem Bund Schlüssel ging – er läutete unterwegs damit, um sich dem Dorfe zu zeigen – und den Pfarrgarten mit einem davon aufsperrte, um daraus einige Rosen für das Kanzelpult des Vaters zu holen. – In der Kirche selber ging es schon darum heiter zu, weil die langen Fenster den kalten Boden und die Weiberstühle mit breiten Lichtstreifen durchschnitten und weil das Sonnenlicht an der Zauberhirtin Augustina herunterfloß. Auch ist es nicht zu verachten, daß er (samt seinen Amtbrüdern) nach der Kirche und vor dem Essen zu den Fronbauern der Woche das gesetzmäßige Halbpfund Brot samt Geld austragen durfte, erstlich weil der Vater das Brot lieber zu groß und also den Bauern eine Freude schickte, zweitens weil Kinder gern eine ins Haus tragen, am meisten Paul. Zuweilen hatt' er auch dem Fronbauer Römer den Ausschnitt-Brotlaib zuzutragen; und er sah sich um nach seiner Kirchen-und Herzenheiligen – aber immer vergeblich; denn in seiner Prospektmalerei von liebe machten doch zehn Schritte mehr oder weniger etwas; und gesetzt, er hätte etwan durch eine besondere Glückgöttin nur einen halben Schritt weit vor ihr gestanden! – Aber ich gebe – denn er hätte dann vollends auch hörbar gesprochen – nicht einmal einen Wink von solcher ausgebliebenen Seligkeit.

Ich behaupte, kein Insasse auf Richter-, Fürsten-, Lehr-, heiligem oder sonstigem Stuhle macht sich einen Begriff davon, wie Pfarrkindern eine Sonntag-Vesper schmeckt, (sondern nur einer auf dem Predigtstuhle selber) wenn die beiden Kirchenandachten vorüber sind, weil sie gleichsam mit dem Vater die späte Sabbatruhe nach den Kirchenlasten und sein Umwechseln des Priesterrocks in den leichten Schlafrock feiern – zumal im Dorfe, wo am Sonntagabend der ganze Ort sich selber mit den Augen genießt und gastiert.

Man würde mir vielleicht Unvollständigkeit vorwerfen, wenn ich eine andere Trinitatisfreude, bloß weil sie eine seltenere war, aufzuführen vergessen; dafür war sie eine desto größere, daß nämlich die Pfarrleute Hagen von Köditz, um den Vater zu hören und zu besuchen, unter der Predigt erschienen und Pauls Spielkamerad, das kleine Pfarrherrlein, sich vor der Kirchtüre sehen ließ. Wenn nun Paul samt Bruder ihn aus seinem nicht weit entfernten vergitterten Chorstuhle erblickte: so hob auf beiden Seiten das Zappeln und Trippeln, das Herztanzen und Grußwinken an, und an Predigthören war – und hätten Propaganda, zehn erste Hofprediger und pastores primarii sich hintereinander auf der Kanzel gereihet und ausgesprochen – nicht mehr zu denken. Bloß der gegenwärtige Vorsabbat, das Vorgebirge der schönsten Hoffnungen, das Gabelfrühstück des Tags mußte hauptsächlich in der Ferne und Kirche genossen werden. Wer aber nun nach dem ersten doch so freudigen Sturm kindlicher und elterlicher Vorbereitungen noch die seligen Zephyre und Windstillen des Abends beschrieben verlangt: der vergißt, daß ich nicht alles vermag. Höchstens möchte noch beizumalen sein, daß spät abends das Joditzer Pfarrhaus das Köditzer weit über das Dorf hinaus begleitete, und daß folglich dieses von Eltern und vom Pfarrherrlein erhöhete weite Hinausspringen über das Dorf ins Weite vollends so spät Seligkeiten erteilen und nachlassen mußte, wovon im künftigen Leben ein mehres.

Wir steigen nun zu solchen Joditzer Idyllen auf, meine teuern Zuhörer und Hörerinnen, welche von Paul mehr außerhalb Joditz genossen werden und die man wohl am bequemsten einteilt in die, wo er selber nicht zu Hause ist und die, wo sein Vater nicht zu Hause ist. Ich fange mit den letzten an, weil ich es unter die unerkannten Kindheitfreuden rechne, wenn die Väter verreisen. Denn gerade in diesen Zeiten erteilen die Mütter die herrlichen akademischen Zensur-und Handelfreiheiten der Kinder. Paul und seine Brüder konnten unter den Augen der in Geschäfte verstrickten Mutter über die Hofklingeltüre hinaus nach einigem Grenzwildpret des Dorfs jagen, z.B. nach Schmetterlingen, Grundeln und Birkensaft und Weidenrinden zu Pfeifen, oder einen neuen Spielkameraden, den Schulmeisters-Fritz hereinlassen, oder mittags läuten helfen, bloß um von dem Seil bei dem Ausschwingen der Glocke in die Höhe gezogen zu werden. Eine an sich bedeutende Lustbarkeit innerhalb des Hofes war auch groß genug – nur konnte Paul dabei sich leicht das Genick brechen und mir so meine ganze Professur im voraus abnehmen – und bestand darin, daß er in der Scheune auf einer Leiter einen freiliegenden Balken bestieg und von ihm auf das zwei Stockwerk tief gelegte Heu hinuntersprang, um unterwegs das Fliegen zu genießen. Zuweilen setzte er das Klavier im obern Stock ans offne Fenster und spielte auf ihm über alle Maßen in das Dorf hinab und suchte gehört zu werden von Vorübergehenden. Das Hinabklingen verstärkt' er noch gewaltig durch eine Feder, die er stark über die Saiten, welche die Linke vermittelst der Tasten spannte, mit der Rechten führte.