Wohl tat er auch einige Federstriche auf die vom Saitenstege gespannten Saiten hinüber, aber viel Wohlklang wollte nicht dabei herauskommen.
Natürlich fallen Joditzer Sommeridyllen noch reicher aus, wenn man gar das ganze Dorf verläßt und in ein anderes geht oder in die Stadt. Gibt es an einem schönen Sommertag einen segenvollern Befehl nach dem Hersagen der Langischen Grammatik als der war: »Zieh dich an, du gehst nach dem Essen mit nach Köditz«? Nie schmeckte das Essen schlechter, Paul mußte dem starken Schritte des Vaters gleichlaufen. Nach einer Stunde hatt' er nun sein Pfarrherrlein, freie Spiele, dessen herrliche Mutter – deren Sprachton ihm noch wie ein Lautenzug und eine Harmonikaglocke des Herzens durch die Ferne nachklingt – und zuweilen einen oder den andern winzigen Lorbeerkranz, groß genug für sein Köpfchen. Der Vater nämlich, väterlich erfreuet über dessen Auffassen und Behalten seiner Predigten, von welchen er ihm Sonntag-Abends Hauptsatz und Teile und anderes flink wiederholte, befahl ihm, das nämliche wieder zu wiederholen vor den Pfarrleuten; – und der Kleine, darf ich sagen, bestand beständig. An einem Knaben, der in seinem Leben nichts Großes gesehen – keinen Grafen – keinen General – keinen Superintendenten – nur einen Edelmann höchstens zweimal im Jahre (den H. von Reitzenstein, weil er lange in Verhaft und darauf in der Flucht war) – an einem solchen Knaben zeigte es Mut, öffentlich in der Stube vor den Pfarrleuten zu sprechen. Aber von jeher fuhr, so scheu er im Schweigen dastand, Mut und Feuer in ihn, sobald er zum Sprechen gelangte. Ja, wagte er sich nicht einmal an etwas noch Kühneres? Nahm er nicht an einem Nachmittage, wo sein Vater nicht zu Hause war, ein Gesangbuch und ging damit zu einer steinalten Frau, die jahrelang gichtbrüchig darniederlag und stellte sich vor ihr Bette als sei er ein erwachsener Pfarrer und mache seinen Krankenbesuch und hob an, ihr aus den Liedern Sachdienliches vorzulesen? Aber [er] wurde bald unterbrochen von dem Weinen und Schluchzen, mit welchem nicht etwan die alte Frau das Gesangbuch anhörte – diese ließ sich kalt auf nichts ein – sondern er selber.
Einmal nahm der Vater den Helden sogar an den Hof mit nach Versailles, wie man wohl Zedwitz ohne Übertreiben nennen mag, da es die Residenz der Patronatherrschaft der Joditzer Pfarrer war. Jedesmal, wenn er bei Hofe gewesen, – im Sommer fast zweimal monatlich – setzte er abends Frau und Kind in das größte ländliche Erstaunen über hohe Personen und deren Hofzeremoniell und über die Hofspeisen und Eisgruben und Schweizerkühe, und wie er selber aus dem »Domestiken«-Zimmer sehr bald zu dem H. von Plotho, oder auch zum Fräulein, dem er auf dem Klavier einige Vor- und Nachübungen gab, und endlich zur Freiin von Bodenhausen und stets wegen seiner Munterkeit zur Tafel gezogen wurde, wenn auch daran (dies änderte nichts) die bedeutendsten Rittergutbesitzer Vogtlands saßen und aßen. Aber gleich einem alten lutherischen Hofprediger erkannte er die unabsehliche Größe des Standes wie das Erscheinen der Gespenster an, ohne vor beiden zu beben. Und doch sag' ich: wie glücklicher seid ihr jetzigen Kinder, die ihr aufgerichtet erzogen werdet, zu keinem Niederfallen vor dem Range gebeugt und von innen gegen den äußern Glanz gestärkt! – Das eine Stunde entfernte Anbeten der Joditzischen Pfarrsöhne vor dem Zedwitzer Thron wurde noch besonders jährlich durch eine prächtige Kutsche verstärkt, welche jeden grünen Donnerstag den Vater als Beichtvater zur Abendmahlfeier der Herrschaft abzuholen kam. Die Söhne können von der Kutsche sprechen, da sie jedesmal abends vor der Abfahrt selber darin ein wenig im Dorfe mit ihren Entzückungen herumgefahren wurden.
Jetzo haben Sie vielleicht eine Vorstellung von dem Unternehmen unsers Helden, als er mit dem Hofbeichtvater, der von ihm höhern Orts mit zu großem Loben und Lieben gesprochen, nach Zedwitz ging, um sich dem regierenden Hause vorstellen zu lassen. Die Freiin von Bodenhausen empfing ihn, nachdem er lange vor den Ahnenbildern unten im Schlosse herumgegangen, oben auf der Treppe, gleichsam das Präsenzgemach, wo Paul, der sogleich hinaufschoß, nach der Hofordnung ihr Kleid erschnappte und diesem den Zeremoniellkuß aufdrückte. – Und so war die ganze Audienz ohne besondere Hofdegen und Obristhofmarschälle glücklich abgetan, und der Junge konnte wieder herumlaufen.
Und dies tat er im prächtigen Garten. Schwerlich hat je ein anderer Gesandter als unser damals noch kleine Hildburghäuser Legationrat unmittelbar nach der abgemessenen regelrechten Audienz solche romantische Stunden durchgeatmet und eingesogen, wie die Laubengänge, die Springbrunnen, die Mistbeete, die Baumaltane einem mehr in als außer sich phantasierenden Dorfkinde geben mußten, das zum ersten Male und einsam in diesen Herrlichkeiten mit gepreßter und mit gefüllter Brust umherwankte. Was den aufgeschwungenen Paul wieder in die niedere Wirklichkeit trug, war ein hölzerner Vogel an einem Seile, den er mit dem Eisenschnabel geschickt in das Schwarze einer Scheibe schießen lassen konnte. Ein vom Schlosse herabgesandter Obstkuchen hielt die Mitte zwischen Flug und Stand und dessen köstlicher Nachgeschmack erhält sich unverwüstlich im Reliquiarium des Helden. O ihr schönen einsamen Stunden und Gänge für das darbende Dorfkind, dessen Herz so gern sich füllen, ja nur sehnen wollte an der Außenwelt! –
Unter den Sommeridyllen von weniger Hofglanz kommen nun die häufigen Gänge vor, welche Paul mit einem passenden Quersack auf dem Rücken nach der Stadt Hof zu den Großeltern machen mußte, um Fleisch und Kaffee und alles zu holen, was im Dorfe entweder gar nicht zu haben war, oder doch nicht um den äußerst geringen Stadtpreis. Denn die Mutter gab ihm nur einige wenige Geldstücke mit – es sollte nämlich nicht alles hergeschenkt erscheinen –, damit seine Großmutter, spendend gegen Tochter und Enkel und nur kargend gegen die übrige Welt, den Quersack mit allem füllte, was etwan auf dem jedesmaligen Küchenzettel stand. Der zweistündige Weg führte über gewöhnliche reizlose Gegenden, durch einen Wald, und darin über einen brausenden Fluß voll Felsstücke, bis endlich auf einer Felderhöhe die Stadt mit zwei Brüdertürmen und mit der Saale in der Talebene den begnügsamen kleinen Träger übermäßig überschüttete und ausfüllte. Vor einem Höhleneingange nahe an der Vorstadt, in welchem der Sage nach sich die Höfer im Dreißigjährigen Kriege geflüchtet hatten, ging er mit dem kindlichen Schauer vor alten Kriegen und Marterzeiten vorüber; und die nahe Tuch-Walkmühle machte mit ihren fortdauernden Donnerstößen und den unbändigen Maschinenbalken seine Dorfseele weit und groß genug, um die Stadt geräumiger darein aufzunehmen.
Hatte er nun dem sehr ernsten langen Großvater hinter seinem Webestuhle die Hand geküßt und der erfreueten kurzen Großmutter; und den offiziellen Mutterbrief überreicht – der Vater war zum Bitten zu stolz – [und] das wenige Geld öffentlich und hinter der Türe auf dem Gange die heimlichen Artikel von Bitten übergeben: so könnt' er nachmittags mit seinem vollen Tornister und mit den Zuckermandeln für seine Augustine, höchst erfreuet über den elterlichen Freitisch auf dem Rücken, wieder nach Hause traben.
Noch erinnert er sich eines Sommertages, wo ihn, da er auf der Rückkehr gegen zwei Uhr die sonnigen beglänzten Anhöhen und die ziehenden Wogen auf den Ährenfeldern und die Laufschatten der Wolken überblickte, ein noch unerlebtes gegenstandloses Sehnen überfiel, das fast aus lauter Pein und wenig Lust gemischt und ein Wünschen ohne Erinnern war. Ach es war der ganze Mensch, der sich nach den himmlischen Gütern des Lebens sehnte, die noch unbezeichnet und farbelos im tiefen weiten Dunkel des Herzens lagen und welche sich unter den einfallenden Sonnenstreifen flüchtig erleuchteten. Es gibt eine Zeit der Sehnsucht, wo ihr Gegenstand noch keinen Namen trägt und sie nur sich selber zu nennen vermag. Auch noch später hat weniger der Mondschein, dessen Silberseen das Herz nur sanft in sich zerlassen und so aufgelöset ins Unendliche treiben und führen, als auf einer weiten Gegend der Nachmittagschein der Sonne diese Macht einer peinlich sich ausdehnenden Sehnsucht behauptet; und in den Werken Pauls ist sie einige Male geschildert und mitgeteilt.
Auch im Schneewinter mußte Paul oft [als] ein Hof- oder Hollandgänger in Geldnöten ausreisen, wenn er sogar bei dem Großvater durch seinen Verstand Hülfgelder zu negotiieren hatte; so wie er im kältesten Wetter dem Vater in die nahen Gastpfarreien beifolgen durfte. Diesen wöchentlichen Turnläufen verdankt er manche spätere nachhaltende Kräfte und überhaupt das beste Gegengift seiner widersinnigen Körpererziehung, welche wie jede damalige mit Pelzmützen, Purgiermitteln und Luftsperren, mit Warmhalten und Festschrauben und Schonen einer feindlichen Zukunft nicht vorbauete, sondern vorarbeitete. Aber dies ist eben das schöne Glück der Dorf-und Armenkinder, daß der Sommer, mit seinem Lenz und Herbst links und rechts, glücklich das Unkraut des Winters ausrottet; indem die im winterlichen Gewächshause erbleichten Pflanzen nun auf einmal in Luft und Wetter und an Sprüngen und an kühler und ungekochter Kost barhaupt und barfuß sich erholen und ermannen können. Nur den guten Prinzessinnen darf kein Sommer beispringen. Das Volk indes glaubt nicht, daß der Sommer den Winter gut mache, sondern umgekehrt, daß diese häusliche Jahrzeit der Arzt der außerhäuslichen werde.
Ich gebe nun die letzte und größte nie wegbleibende Sommeridylle, welche stets am Montage nach Jakobi einfiel. Denn hier zum Höferjahrmarkt ließen die Großeltern die zarte Mutter Pauls jedesmal in einer Kutsche holen, in der er auch mit einsaß.
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