Da nun diese Schönheit schon die zweite blatternarbige ist – in spätern Vorlesungen kommen noch einige nach – so hält es der Professor für Pflicht, allen vaccinierten Zuhörerinnen zu erklären, daß er sie allerdings so gut und so hoch zu schätzen weiß wie einer, daß nur aber damals eine andere Gesichtermode gewesen. Paul hat überhaupt dies an sich, – und er macht sich heute in dieser schönen Versammlung anheischig – daß er jedes weibliche Gesicht, dessen sogenannte Häßlichkeit nur keine moralische sein darf, ohne alle kosmetische Kunstgriffe, ohne Schmink- und Salbbüchsen, ohne März- und Seifenwasser, und ohne Nachtlarven im höchsten Grade reizend und bezaubernd zu machen vermag, wenn man ihm dazu nur einige Abende, Gesänge, Herzworte einräumt, daß wohl niemand schöner erscheint als eben die gedachte Person – aber natürlich nur in seinen eignen Augen; denn wer spricht von andern?

Sehr bestätigt dies eben die erwähnte Frau; denn als er sie zwanzig Jahre darauf in Hof wiedersah, ihm gegenüber wohnhaft, fand er bloß noch die Narben, sonst nichts; sie selber unscheinbar und gebückt und ich nenne sie nicht.

Die reine Liebe hat so unendliche Kräfte zu erschaffen und zu erheben – so wie die gemeine zu zertrümmern und hinabzudrücken – daß sie uns im Darstellen noch stärker ergreifen würde, wäre sie nicht so oft geschildert worden; aber eben darum konnte nur sie die vielen tausend Bände vertragen, welche sie malen. Man nehme einem Menschen, der in der Zeit der Liebe die Landschaften – die Sterne – die Blüten und Berge – die Töne – die Lieder – die Gemälde und Gedichte – ja die Menschen und das Sterben mit dichterischem Genießen anschauet; man nehme diesem die Liebe: so hat er die zehnte Muse oder vielmehr die Musenmutter verloren; und jeder fühlt in spätern Jahren, wo dieser heilige Rausch sich selber verbietet, daß zu allen Musen ihm noch die zehnte fehle.

Wir kommen zu den Sonntagen unsers Pauls, an denen die Idylle ansehnlich zunimmt. Sonntage scheinen ordentlich für Pfarrer und Pfarrkinder erschaffen; besonders ergötzte unsern Paul eine recht große Menge Trinitatis, oder die größte von 27, obgleich durch alle 27 nicht ein Sommersonntag mehr in die Welt und Kirche kam als an andern Jahren. In Städten sind etwa fürstliche oder amtliche Geburttage, Meßzeiten die wahren Trinitatis. Paul fing an glänzenden Sonntagmorgen sein Genießen dadurch an, daß er noch vor der Kirche durch das Dorf mit einem Bund Schlüssel ging – er läutete unterwegs damit, um sich dem Dorfe zu zeigen – und den Pfarrgarten mit einem davon aufsperrte, um daraus einige Rosen für das Kanzelpult des Vaters zu holen. – In der Kirche selber ging es schon darum heiter zu, weil die langen Fenster den kalten Boden und die Weiberstühle mit breiten Lichtstreifen durchschnitten und weil das Sonnenlicht an der Zauberhirtin Augustina herunterfloß. Auch ist es nicht zu verachten, daß er (samt seinen Amtbrüdern) nach der Kirche und vor dem Essen zu den Fronbauern der Woche das gesetzmäßige Halbpfund Brot samt Geld austragen durfte, erstlich weil der Vater das Brot lieber zu groß und also den Bauern eine Freude schickte, zweitens weil Kinder gern eine ins Haus tragen, am meisten Paul. Zuweilen hatt' er auch dem Fronbauer Römer den Ausschnitt-Brotlaib zuzutragen; und er sah sich um nach seiner Kirchen-und Herzenheiligen – aber immer vergeblich; denn in seiner Prospektmalerei von liebe machten doch zehn Schritte mehr oder weniger etwas; und gesetzt, er hätte etwan durch eine besondere Glückgöttin nur einen halben Schritt weit vor ihr gestanden! – Aber ich gebe – denn er hätte dann vollends auch hörbar gesprochen – nicht einmal einen Wink von solcher ausgebliebenen Seligkeit.

Ich behaupte, kein Insasse auf Richter-, Fürsten-, Lehr-, heiligem oder sonstigem Stuhle macht sich einen Begriff davon, wie Pfarrkindern eine Sonntag-Vesper schmeckt, (sondern nur einer auf dem Predigtstuhle selber) wenn die beiden Kirchenandachten vorüber sind, weil sie gleichsam mit dem Vater die späte Sabbatruhe nach den Kirchenlasten und sein Umwechseln des Priesterrocks in den leichten Schlafrock feiern – zumal im Dorfe, wo am Sonntagabend der ganze Ort sich selber mit den Augen genießt und gastiert.

Man würde mir vielleicht Unvollständigkeit vorwerfen, wenn ich eine andere Trinitatisfreude, bloß weil sie eine seltenere war, aufzuführen vergessen; dafür war sie eine desto größere, daß nämlich die Pfarrleute Hagen von Köditz, um den Vater zu hören und zu besuchen, unter der Predigt erschienen und Pauls Spielkamerad, das kleine Pfarrherrlein, sich vor der Kirchtüre sehen ließ. Wenn nun Paul samt Bruder ihn aus seinem nicht weit entfernten vergitterten Chorstuhle erblickte: so hob auf beiden Seiten das Zappeln und Trippeln, das Herztanzen und Grußwinken an, und an Predigthören war – und hätten Propaganda, zehn erste Hofprediger und pastores primarii sich hintereinander auf der Kanzel gereihet und ausgesprochen – nicht mehr zu denken. Bloß der gegenwärtige Vorsabbat, das Vorgebirge der schönsten Hoffnungen, das Gabelfrühstück des Tags mußte hauptsächlich in der Ferne und Kirche genossen werden. Wer aber nun nach dem ersten doch so freudigen Sturm kindlicher und elterlicher Vorbereitungen noch die seligen Zephyre und Windstillen des Abends beschrieben verlangt: der vergißt, daß ich nicht alles vermag. Höchstens möchte noch beizumalen sein, daß spät abends das Joditzer Pfarrhaus das Köditzer weit über das Dorf hinaus begleitete, und daß folglich dieses von Eltern und vom Pfarrherrlein erhöhete weite Hinausspringen über das Dorf ins Weite vollends so spät Seligkeiten erteilen und nachlassen mußte, wovon im künftigen Leben ein mehres.

Wir steigen nun zu solchen Joditzer Idyllen auf, meine teuern Zuhörer und Hörerinnen, welche von Paul mehr außerhalb Joditz genossen werden und die man wohl am bequemsten einteilt in die, wo er selber nicht zu Hause ist und die, wo sein Vater nicht zu Hause ist. Ich fange mit den letzten an, weil ich es unter die unerkannten Kindheitfreuden rechne, wenn die Väter verreisen. Denn gerade in diesen Zeiten erteilen die Mütter die herrlichen akademischen Zensur-und Handelfreiheiten der Kinder. Paul und seine Brüder konnten unter den Augen der in Geschäfte verstrickten Mutter über die Hofklingeltüre hinaus nach einigem Grenzwildpret des Dorfs jagen, z.B. nach Schmetterlingen, Grundeln und Birkensaft und Weidenrinden zu Pfeifen, oder einen neuen Spielkameraden, den Schulmeisters-Fritz hereinlassen, oder mittags läuten helfen, bloß um von dem Seil bei dem Ausschwingen der Glocke in die Höhe gezogen zu werden. Eine an sich bedeutende Lustbarkeit innerhalb des Hofes war auch groß genug – nur konnte Paul dabei sich leicht das Genick brechen und mir so meine ganze Professur im voraus abnehmen – und bestand darin, daß er in der Scheune auf einer Leiter einen freiliegenden Balken bestieg und von ihm auf das zwei Stockwerk tief gelegte Heu hinuntersprang, um unterwegs das Fliegen zu genießen. Zuweilen setzte er das Klavier im obern Stock ans offne Fenster und spielte auf ihm über alle Maßen in das Dorf hinab und suchte gehört zu werden von Vorübergehenden. Das Hinabklingen verstärkt' er noch gewaltig durch eine Feder, die er stark über die Saiten, welche die Linke vermittelst der Tasten spannte, mit der Rechten führte. Wohl tat er auch einige Federstriche auf die vom Saitenstege gespannten Saiten hinüber, aber viel Wohlklang wollte nicht dabei herauskommen.

Natürlich fallen Joditzer Sommeridyllen noch reicher aus, wenn man gar das ganze Dorf verläßt und in ein anderes geht oder in die Stadt. Gibt es an einem schönen Sommertag einen segenvollern Befehl nach dem Hersagen der Langischen Grammatik als der war: »Zieh dich an, du gehst nach dem Essen mit nach Köditz«? Nie schmeckte das Essen schlechter, Paul mußte dem starken Schritte des Vaters gleichlaufen. Nach einer Stunde hatt' er nun sein Pfarrherrlein, freie Spiele, dessen herrliche Mutter – deren Sprachton ihm noch wie ein Lautenzug und eine Harmonikaglocke des Herzens durch die Ferne nachklingt – und zuweilen einen oder den andern winzigen Lorbeerkranz, groß genug für sein Köpfchen. Der Vater nämlich, väterlich erfreuet über dessen Auffassen und Behalten seiner Predigten, von welchen er ihm Sonntag-Abends Hauptsatz und Teile und anderes flink wiederholte, befahl ihm, das nämliche wieder zu wiederholen vor den Pfarrleuten; – und der Kleine, darf ich sagen, bestand beständig. An einem Knaben, der in seinem Leben nichts Großes gesehen – keinen Grafen – keinen General – keinen Superintendenten – nur einen Edelmann höchstens zweimal im Jahre (den H. von Reitzenstein, weil er lange in Verhaft und darauf in der Flucht war) – an einem solchen Knaben zeigte es Mut, öffentlich in der Stube vor den Pfarrleuten zu sprechen. Aber von jeher fuhr, so scheu er im Schweigen dastand, Mut und Feuer in ihn, sobald er zum Sprechen gelangte. Ja, wagte er sich nicht einmal an etwas noch Kühneres? Nahm er nicht an einem Nachmittage, wo sein Vater nicht zu Hause war, ein Gesangbuch und ging damit zu einer steinalten Frau, die jahrelang gichtbrüchig darniederlag und stellte sich vor ihr Bette als sei er ein erwachsener Pfarrer und mache seinen Krankenbesuch und hob an, ihr aus den Liedern Sachdienliches vorzulesen? Aber [er] wurde bald unterbrochen von dem Weinen und Schluchzen, mit welchem nicht etwan die alte Frau das Gesangbuch anhörte – diese ließ sich kalt auf nichts ein – sondern er selber.

Einmal nahm der Vater den Helden sogar an den Hof mit nach Versailles, wie man wohl Zedwitz ohne Übertreiben nennen mag, da es die Residenz der Patronatherrschaft der Joditzer Pfarrer war. Jedesmal, wenn er bei Hofe gewesen, – im Sommer fast zweimal monatlich – setzte er abends Frau und Kind in das größte ländliche Erstaunen über hohe Personen und deren Hofzeremoniell und über die Hofspeisen und Eisgruben und Schweizerkühe, und wie er selber aus dem »Domestiken«-Zimmer sehr bald zu dem H. von Plotho, oder auch zum Fräulein, dem er auf dem Klavier einige Vor- und Nachübungen gab, und endlich zur Freiin von Bodenhausen und stets wegen seiner Munterkeit zur Tafel gezogen wurde, wenn auch daran (dies änderte nichts) die bedeutendsten Rittergutbesitzer Vogtlands saßen und aßen.