Aber gleich einem alten lutherischen Hofprediger erkannte er die unabsehliche Größe des Standes wie das Erscheinen der Gespenster an, ohne vor beiden zu beben. Und doch sag' ich: wie glücklicher seid ihr jetzigen Kinder, die ihr aufgerichtet erzogen werdet, zu keinem Niederfallen vor dem Range gebeugt und von innen gegen den äußern Glanz gestärkt! – Das eine Stunde entfernte Anbeten der Joditzischen Pfarrsöhne vor dem Zedwitzer Thron wurde noch besonders jährlich durch eine prächtige Kutsche verstärkt, welche jeden grünen Donnerstag den Vater als Beichtvater zur Abendmahlfeier der Herrschaft abzuholen kam. Die Söhne können von der Kutsche sprechen, da sie jedesmal abends vor der Abfahrt selber darin ein wenig im Dorfe mit ihren Entzückungen herumgefahren wurden.
Jetzo haben Sie vielleicht eine Vorstellung von dem Unternehmen unsers Helden, als er mit dem Hofbeichtvater, der von ihm höhern Orts mit zu großem Loben und Lieben gesprochen, nach Zedwitz ging, um sich dem regierenden Hause vorstellen zu lassen. Die Freiin von Bodenhausen empfing ihn, nachdem er lange vor den Ahnenbildern unten im Schlosse herumgegangen, oben auf der Treppe, gleichsam das Präsenzgemach, wo Paul, der sogleich hinaufschoß, nach der Hofordnung ihr Kleid erschnappte und diesem den Zeremoniellkuß aufdrückte. – Und so war die ganze Audienz ohne besondere Hofdegen und Obristhofmarschälle glücklich abgetan, und der Junge konnte wieder herumlaufen.
Und dies tat er im prächtigen Garten. Schwerlich hat je ein anderer Gesandter als unser damals noch kleine Hildburghäuser Legationrat unmittelbar nach der abgemessenen regelrechten Audienz solche romantische Stunden durchgeatmet und eingesogen, wie die Laubengänge, die Springbrunnen, die Mistbeete, die Baumaltane einem mehr in als außer sich phantasierenden Dorfkinde geben mußten, das zum ersten Male und einsam in diesen Herrlichkeiten mit gepreßter und mit gefüllter Brust umherwankte. Was den aufgeschwungenen Paul wieder in die niedere Wirklichkeit trug, war ein hölzerner Vogel an einem Seile, den er mit dem Eisenschnabel geschickt in das Schwarze einer Scheibe schießen lassen konnte. Ein vom Schlosse herabgesandter Obstkuchen hielt die Mitte zwischen Flug und Stand und dessen köstlicher Nachgeschmack erhält sich unverwüstlich im Reliquiarium des Helden. O ihr schönen einsamen Stunden und Gänge für das darbende Dorfkind, dessen Herz so gern sich füllen, ja nur sehnen wollte an der Außenwelt! –
Unter den Sommeridyllen von weniger Hofglanz kommen nun die häufigen Gänge vor, welche Paul mit einem passenden Quersack auf dem Rücken nach der Stadt Hof zu den Großeltern machen mußte, um Fleisch und Kaffee und alles zu holen, was im Dorfe entweder gar nicht zu haben war, oder doch nicht um den äußerst geringen Stadtpreis. Denn die Mutter gab ihm nur einige wenige Geldstücke mit – es sollte nämlich nicht alles hergeschenkt erscheinen –, damit seine Großmutter, spendend gegen Tochter und Enkel und nur kargend gegen die übrige Welt, den Quersack mit allem füllte, was etwan auf dem jedesmaligen Küchenzettel stand. Der zweistündige Weg führte über gewöhnliche reizlose Gegenden, durch einen Wald, und darin über einen brausenden Fluß voll Felsstücke, bis endlich auf einer Felderhöhe die Stadt mit zwei Brüdertürmen und mit der Saale in der Talebene den begnügsamen kleinen Träger übermäßig überschüttete und ausfüllte. Vor einem Höhleneingange nahe an der Vorstadt, in welchem der Sage nach sich die Höfer im Dreißigjährigen Kriege geflüchtet hatten, ging er mit dem kindlichen Schauer vor alten Kriegen und Marterzeiten vorüber; und die nahe Tuch-Walkmühle machte mit ihren fortdauernden Donnerstößen und den unbändigen Maschinenbalken seine Dorfseele weit und groß genug, um die Stadt geräumiger darein aufzunehmen.
Hatte er nun dem sehr ernsten langen Großvater hinter seinem Webestuhle die Hand geküßt und der erfreueten kurzen Großmutter; und den offiziellen Mutterbrief überreicht – der Vater war zum Bitten zu stolz – [und] das wenige Geld öffentlich und hinter der Türe auf dem Gange die heimlichen Artikel von Bitten übergeben: so könnt' er nachmittags mit seinem vollen Tornister und mit den Zuckermandeln für seine Augustine, höchst erfreuet über den elterlichen Freitisch auf dem Rücken, wieder nach Hause traben.
Noch erinnert er sich eines Sommertages, wo ihn, da er auf der Rückkehr gegen zwei Uhr die sonnigen beglänzten Anhöhen und die ziehenden Wogen auf den Ährenfeldern und die Laufschatten der Wolken überblickte, ein noch unerlebtes gegenstandloses Sehnen überfiel, das fast aus lauter Pein und wenig Lust gemischt und ein Wünschen ohne Erinnern war. Ach es war der ganze Mensch, der sich nach den himmlischen Gütern des Lebens sehnte, die noch unbezeichnet und farbelos im tiefen weiten Dunkel des Herzens lagen und welche sich unter den einfallenden Sonnenstreifen flüchtig erleuchteten. Es gibt eine Zeit der Sehnsucht, wo ihr Gegenstand noch keinen Namen trägt und sie nur sich selber zu nennen vermag. Auch noch später hat weniger der Mondschein, dessen Silberseen das Herz nur sanft in sich zerlassen und so aufgelöset ins Unendliche treiben und führen, als auf einer weiten Gegend der Nachmittagschein der Sonne diese Macht einer peinlich sich ausdehnenden Sehnsucht behauptet; und in den Werken Pauls ist sie einige Male geschildert und mitgeteilt.
Auch im Schneewinter mußte Paul oft [als] ein Hof- oder Hollandgänger in Geldnöten ausreisen, wenn er sogar bei dem Großvater durch seinen Verstand Hülfgelder zu negotiieren hatte; so wie er im kältesten Wetter dem Vater in die nahen Gastpfarreien beifolgen durfte. Diesen wöchentlichen Turnläufen verdankt er manche spätere nachhaltende Kräfte und überhaupt das beste Gegengift seiner widersinnigen Körpererziehung, welche wie jede damalige mit Pelzmützen, Purgiermitteln und Luftsperren, mit Warmhalten und Festschrauben und Schonen einer feindlichen Zukunft nicht vorbauete, sondern vorarbeitete. Aber dies ist eben das schöne Glück der Dorf-und Armenkinder, daß der Sommer, mit seinem Lenz und Herbst links und rechts, glücklich das Unkraut des Winters ausrottet; indem die im winterlichen Gewächshause erbleichten Pflanzen nun auf einmal in Luft und Wetter und an Sprüngen und an kühler und ungekochter Kost barhaupt und barfuß sich erholen und ermannen können. Nur den guten Prinzessinnen darf kein Sommer beispringen. Das Volk indes glaubt nicht, daß der Sommer den Winter gut mache, sondern umgekehrt, daß diese häusliche Jahrzeit der Arzt der außerhäuslichen werde.
Ich gebe nun die letzte und größte nie wegbleibende Sommeridylle, welche stets am Montage nach Jakobi einfiel. Denn hier zum Höferjahrmarkt ließen die Großeltern die zarte Mutter Pauls jedesmal in einer Kutsche holen, in der er auch mit einsaß. Um hier den kalten Historiker nicht zu verletzen, sag' ich bloß ruhig und einfach, daß wenn eine bloße Alltagstadt für einen Dörfling schon mehr als ein Kirmesdorf ist, vollends eine Jahrmarktstadt eine potenziierte Doppelstadt werden und folglich alles an Glanze überbieten muß, was ein Dorfjunge sich nur vorstellt. Und so war es bei Paul, der noch dazu nie ohne Phantasie war. Wie Kaisern sonst Ehrentrünke geschickt wurden, so wurde die Mutter stets mit süßem Wein von ihren Eltern empfangen, und der Sohn ging mit etwas davon im Kopfe zum damaligen Haarkräusler Silberer. Dieser kühlte von außen den Kopf durch Brenneisen ab und durch scharfes An- und Umdrehen der Lockenwickel; aber desto neuer und weißer kam er dann mit Locken und Toupet aus dem Pudergestöber zum Mittagmahle zurück, das nicht bedeutend sein konnte, weil der Großvater sehr bald auf das Rathaus hinter den Verkauftisch seiner Tücherballen eilen mußte. Bei dem Abendessen war wie bei den alten Römern desto mehr Zeit und Überfluß. Nun wurde der Nachmittag herrlich und aufsichtfrei und übertäubt und überglänzt unter dem bunten und lauten Getümmel der Menschen und Waren verbracht – Paul hatte seinen Groschen Jahrmarktgeld von der Großmutter in der Tasche und konnte alles kaufen – er konnte einiges Eingekaufte heimtragen ins leere unheimliche Haus, weil alles fort war, düster einsam, man mußte ordentlich wieder unter die Menge – die vornehmsten und schönsten Damen hatt' er umsonst oben an den Fenstern und er verliebte sich von unten vorbeimarschierend überall hinauf und fiel ihnen, da sie ihn nicht kannten, auf der Gasse um den Hals, zeichnete jedoch keine über ihn so erhobne durch Stockwerke und durch Kopfputz zur Favoritsultanin [aus], sondern kaufte Mandeln und Rosinen für die viehweidende Augustine in Joditz – Allerdings wurde gegen sechs, halbsieben Uhr Lärm und Lust größer unter den Abendstrahlen, die immer mehr sich und die Menschen verschönerten und vergoldeten; aber es mußte nach Haus gegangen werden, weil der Großvater nach den Verkäufen um 7 Uhr aß und alles beisammen war.
Ich schenke jedem das Abendessen, denn Paul schmeckte wenig davon – weil er vorher genug gegessen –; aber desto freudiger folg' ich ihm nach dem zweiten Tischgebete nach auf die Straße, wo er so selig wird als irgendeine junge Seele aus einer Pfarrei.
Gänge in tiefer Dämmerung und halber Nacht berauschen und begeistern die Jugend. In ihr zog nun an den Markttagen die Janitscharenmusik durch die Hauptstraßen; und Volk- und Kindertroß zog betäubt und betäubend den Klängen nach, und der Dorfsohn hörte zum ersten Male Trommeln und Querpfeifchen und Janitscharenbecken. »In mir,« – dies sind seine eignen Worte – »der ich unaufhörlich nach Tönen lechzete, entstand ordentlich ein Tonrausch und ich hörte, wie der Betrunkne sieht, die Welt doppelt und im Fliegen. Am meisten griff in mich die Querpfeife durch einen melodischen Gang in der Höhe ein. Wie oft sucht' ich nicht diesen Gang vor dem Einschlafen, wo die Phantasie das Griffbrett oder die Tastatur verklungner Töne am leichtesten handhaben kann, wieder zu hören und wie bin ich dann so selig, wenn ich ihn wieder höre, so innig-selig als ob die alte Kindheit wie ein Tithon unsterblich geworden bloß mit dem Tone und damit spräche zu mir! – Ach leichte, dünne, unsichtbare Klänge beherbergen ganze Welten für das Herz und sie sind ja Seelen für die Seele.« – – Vielleicht schnitten die Töne der höhern Oktave am tiefsten ein.
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