Um hier den kalten Historiker nicht zu verletzen, sag' ich bloß ruhig und einfach, daß wenn eine bloße Alltagstadt für einen Dörfling schon mehr als ein Kirmesdorf ist, vollends eine Jahrmarktstadt eine potenziierte Doppelstadt werden und folglich alles an Glanze überbieten muß, was ein Dorfjunge sich nur vorstellt. Und so war es bei Paul, der noch dazu nie ohne Phantasie war. Wie Kaisern sonst Ehrentrünke geschickt wurden, so wurde die Mutter stets mit süßem Wein von ihren Eltern empfangen, und der Sohn ging mit etwas davon im Kopfe zum damaligen Haarkräusler Silberer. Dieser kühlte von außen den Kopf durch Brenneisen ab und durch scharfes An- und Umdrehen der Lockenwickel; aber desto neuer und weißer kam er dann mit Locken und Toupet aus dem Pudergestöber zum Mittagmahle zurück, das nicht bedeutend sein konnte, weil der Großvater sehr bald auf das Rathaus hinter den Verkauftisch seiner Tücherballen eilen mußte. Bei dem Abendessen war wie bei den alten Römern desto mehr Zeit und Überfluß. Nun wurde der Nachmittag herrlich und aufsichtfrei und übertäubt und überglänzt unter dem bunten und lauten Getümmel der Menschen und Waren verbracht – Paul hatte seinen Groschen Jahrmarktgeld von der Großmutter in der Tasche und konnte alles kaufen – er konnte einiges Eingekaufte heimtragen ins leere unheimliche Haus, weil alles fort war, düster einsam, man mußte ordentlich wieder unter die Menge – die vornehmsten und schönsten Damen hatt' er umsonst oben an den Fenstern und er verliebte sich von unten vorbeimarschierend überall hinauf und fiel ihnen, da sie ihn nicht kannten, auf der Gasse um den Hals, zeichnete jedoch keine über ihn so erhobne durch Stockwerke und durch Kopfputz zur Favoritsultanin [aus], sondern kaufte Mandeln und Rosinen für die viehweidende Augustine in Joditz – Allerdings wurde gegen sechs, halbsieben Uhr Lärm und Lust größer unter den Abendstrahlen, die immer mehr sich und die Menschen verschönerten und vergoldeten; aber es mußte nach Haus gegangen werden, weil der Großvater nach den Verkäufen um 7 Uhr aß und alles beisammen war.
Ich schenke jedem das Abendessen, denn Paul schmeckte wenig davon – weil er vorher genug gegessen –; aber desto freudiger folg' ich ihm nach dem zweiten Tischgebete nach auf die Straße, wo er so selig wird als irgendeine junge Seele aus einer Pfarrei.
Gänge in tiefer Dämmerung und halber Nacht berauschen und begeistern die Jugend. In ihr zog nun an den Markttagen die Janitscharenmusik durch die Hauptstraßen; und Volk- und Kindertroß zog betäubt und betäubend den Klängen nach, und der Dorfsohn hörte zum ersten Male Trommeln und Querpfeifchen und Janitscharenbecken. »In mir,« – dies sind seine eignen Worte – »der ich unaufhörlich nach Tönen lechzete, entstand ordentlich ein Tonrausch und ich hörte, wie der Betrunkne sieht, die Welt doppelt und im Fliegen. Am meisten griff in mich die Querpfeife durch einen melodischen Gang in der Höhe ein. Wie oft sucht' ich nicht diesen Gang vor dem Einschlafen, wo die Phantasie das Griffbrett oder die Tastatur verklungner Töne am leichtesten handhaben kann, wieder zu hören und wie bin ich dann so selig, wenn ich ihn wieder höre, so innig-selig als ob die alte Kindheit wie ein Tithon unsterblich geworden bloß mit dem Tone und damit spräche zu mir! – Ach leichte, dünne, unsichtbare Klänge beherbergen ganze Welten für das Herz und sie sind ja Seelen für die Seele.« – – Vielleicht schnitten die Töne der höhern Oktave am tiefsten ein. Engel behauptet zwar, daß die eigentlichen Wohllaute sich zwischen den tiefen und den hohen Tönen aufhalten; aber man könnte sagen, über beide hinaus liegt eben die poetische Musik. In der dunkeln Tiefe der niedrigsten Baßklänge woget langsam unten vergangne, abgelaufne Zeit; hingegen die schroffe Höhe der äußersten Diskanttöne schreien und schneiden in die Zukunft hinein, oder rufen sie heran, indem sie sie tönen, und sprechen das Scharfe und Enge aus. So klang mir bei der russischen Feldmusik das hohe scharfe Dareinpfeifen der kleinen Pfeifchen fast fürchterlich als eine zum Schlachten rufende Bootmanns-Pfeife, ja als ein grausames Früh-Tedeum für künftiges Blutlassen. – –
Ich fürchte, man wird in Deutschland und sonst darüber reden, daß ich den Herbst zur höchsten Joditzer Idylle aufgespart, ihn der eben zu nichts führen kann als in Schneewege. Aber ein phantastischer Mensch wie Paul genießt im Herbste außer diesen selber noch voraus den Winter mit seiner Häuslichkeit und den Frühling mit seinen poetischen Fernmalereien, indes der angekommene Frühling schon in den Sommer zerfließt, der Sommer aber gar ein Stille- und Mittelstand der Phantasie, zu verwandt dem Herbste und zu fern verwandt dem Frühling ist. Noch jetzo sieht er im Nachsommer durch die halbdurchsichtigen Bäume fern im andern Jahre Blütenschneegebirge stehen und begeht sie wie eine Biene honigtrunken, die in der Nähe unter den Händen zerrinnen, und die weitaussehendsten Plane der Lenzreisen und Lenzernten werden entworfen und durchgenossen und im Frühling selber ist die Hauptsache schon vorbei. Wenn die Landschaftmaler den Herbst vorziehen: so tut es der geistige, der Dichter, wenigstens im Alter.
Aber dem Herbste wandte sich unser Held noch mit einer besondern Kehrseite zu; und diese ist, daß er von jeher eine eigne Vorneigung zum Häuslichen, zum Stilleben, zum geistigen Nestmachen hatte. Er ist ein häusliches Schaltier, das sich recht behaglich in die engsten Windungen des Gehäuses zurückschiebt und verliebt, nur daß es jedesmal die Schneckenschale breit offen haben will, um dann die vier Fühlfäden nicht etwa so weit als vier Schmetterlingflügel in die Lüfte zu erheben, sondern noch zehnmal weiter bis an den Himmel hinauf [zu] strecken, wenigstens mit jedem Fühlfaden an einen der vier Trabanten Jupiters. Von diesem närrischen Bunde zwischen Fernsuchen und Nahesuchen – dem Fernglas ähnlich, das durch bloßes Umkehren entweder die Nähe verdoppelt, oder die Ferne – wird in unseren Vorlesungen mehr vorkommen als ich verlange oder der bloße Herbst zuliefert.
Dieser Haussinn zeigte sich in den Phantasien des Knaben; die jungen Schwalben pries er glücklich, weil sie in ihrem ummauerten Neste innen so heimlich sitzen konnten in der Nacht – Wenn er in den großen Taubenschlag auf dem Dache hineinstieg, so war er in diesem Zimmer voll Zimmerchen oder Taubenhöhlen ordentlich wie zu Hause und die Antlitzseite war ihm ein Louvre oder Eskurial im kleinen. Ich fürchte nur, man läßt es mir selber entgelten, wenn ich die kindische Kleinigkeit in meine Vorlesungen aufnehme, daß er ein vollständiges Fliegenhaus aus Ton, eigentlich einen Palast erbauete, so lang und so breit wie eine Männerfaust und um etwas höher; es war aber das ganze Speisehaus rot angestrichen und mit Dinte in Ziegelquader abgeteilt, innen mit zwei Stockwerken, vielen Treppen mit Geländern und Kammern, einem geräumigen Dachboden versehen, außen aber mit Erkern und Vorsprüngen und sogar mit einem Rauchfange versorgt, welchen ein Glas zudeckte, damit nicht statt des Rauchs die Fliegen hinauszögen. Nirgends waren Fenster gespart und das Schloß, durfte man behaupten, bestand weit mehr aus Fenster als aus Mauer. Wenn nun Paul so die unzähligen Fliegen in diesem weiten Lustschloß treppauf treppnieder in alle große Zimmer und dann gar in die niedlichen Erkerchen laufen sah: so macht' er sich eine Vorstellung von ihrer häuslichen Glückseligkeit und wünschte selber darin an den Fenstern mitzulaufen und er setzte sich an die Stelle der Hausbesitzer, welche aus den weitesten Zimmern sich in die niedlichsten engsten Kämmerchen und Erkerchen zurückziehen konnten. Wie unbedeutend und klein mußt' ihm dagegen das Pfarrhaus vorkommen!
Aber auch als Schriftsteller hat er später diesen Haus- und Winkelsinn fortgesetzt in Wutz und Fixlein und Fibel; und noch sieht der Mann gern jedes nette niedrige Schieferhäuschen von zwei Stockwerkchen mit Blumen vor den Fenstern und einem Hausgärtchen, das man bloß vom Fenster heraus begießt; und im zugemachten Kutschkasten kann der gute häusliche Narr ordentlich ganz vergnügt sitzen und an den Seitentaschen herumsehen und sagen: »Ein prächtiges stilles feuerfestes Stübchen! Und draußen fahren die größten Dörfer und Gärten vorbei!« – So viel ist darzutun, daß er in einem Rittersaale, in einer Peterskirche noch weniger schreiben als wohnen könnte – es wär' ihm ein Marktplatz mit einem Dache versehen –, indes er doch fähig wäre, auf dem Montblanc, oder auf dem Ätna, wäre alles gehörig dazu hergerichtet für ihn, in einem fort zu schreiben und zu wohnen; denn nur das enge Menschliche kann ihm nicht klein genug, aber die weite Natur nicht zu ausgedehnt sein; denn die Kleinheit der Menschenwerke verkleinert sich durch ihr Vergrößern.
Die Joditzer Herbstidylle ist durch voriges fast ausgemalt. Der Herbst führt nämlich die Menschen nach Hause und läßt ihnen sein Füllhorn da, für das Nest des Winters, das sie bauen, wie der Kreuzschnabel im Eismonate Nest und Junge hat. Von damals her muß kommen, daß Paul noch das erste Dreschen, die lauten Krähenzüge in die Wälder, der Zugvögel Schreien oder Blasen zum Aufbruche mit einem nachgebliebenen Vergnügen als die Vorboten der engen häuslichen Winter-Einnistung hört; und es tut mir seinetwegen leid, daß er auch die Gänse im Herbste, die dann in Herden gehen, mit ziemlicher Lust schreien hört als Vorsänger und Vorredner der Winterzeit. Aus diesem Stuben- und Wintersinn hab' ich mir von jeher erklärt, warum er mit so ungemeinem Behagen Reisebeschreibungen von Winterländern wie Spitzbergen und Grönland las; denn das Anschauen einer bloßen Not auf dem Druckpapier erklärt das Vergnügen dabei nicht, weil sonst das nämliche auch bei der Lesung der Glutnot der heißen Länder wieder dasein müßte. Hingegen die bekannte Freude des Mannes über jede Viertelstunde, um welche im Herbste die Tage abnehmen, würd' ich mehr seiner Vorliebe für Superlative – welche es auch seien – für unendliches Großes und unendliches Kleines, kurz für die Maxima und Minima zuschreiben, besonders da er ja ganz ebensosehr sich über das Wachsen der Tage erfreuet und nichts dabei wünscht als gar einen langen Schwedentag. Man sieht aber aus allem, mit welcher unschätzbaren Genügsamkeit und Geschicklichkeit Gott den Mann auf seinen Lebensweg, auf welchem nicht viel rechts und links zu finden war, zugerüstet und ausgestattet, so daß er, es mochte noch so schwarz um ihn sein, immer Weiß aus Schwarz machen konnte und mit einem beidlebigen Instinkte für Land und Meer weder ersaufen noch verdursten konnte.
Es sind dies lauter autobiographische Züge, meine Herren, die ein künftiger Lebenbeschreiber desselben recht bequem zu einer Lebenbeschreibung verarbeitet und für welche er mir vielleicht dankt.
Auch wüßt' ich nichts als jenen behaglichen Stuben- und Wintergeschmack, um mir begreiflich zu machen, warum Paul eine andere an sich so hagere Herbstlust mit solchem Wohlgeschmacke wiederkäuet. In den Herbstabenden (noch dazu an trüben) ging nämlich der Vater im Schlafrocke mit ihm und seinem Bruder auf ein über der Saale gelegenes Kartoffelfeld; der eine Junge trug eine Grabhaue, der andere ein Handkörbchen. Draußen wurden nun neue Kartoffeln, soviel für das Abendessen nötig waren, vom Vater ausgegraben; Paul warf sie aus dem Beete in den Korb, während Adam an dem Haselnußgebüsche die besten Nüsse erklettern durfte.
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