Sinngedichte (Ausgabe 1771)

Lessing, Gotthold Ephraim

Sinngedichte (Ausgabe 1771)

 

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Gotthold Ephraim Lessing

Sinngedichte

(Ausgabe 1771)

 

1. Die Sinngedichte an den Leser

Wer wird nicht einen Klopstock loben?

Doch wird ihn jeder lesen? – Nein.

Wir wollen weniger erhoben,

Und fleißiger gelesen sein.

 

 

2. Ebendieselben

Wir möchten gern dem Kritikus gefallen:

Nur nicht dem Kritikus vor allen.

Warum? Dem Kritikus vor allen

Wird auch kein Sinngedicht gefallen.

 

 

3. Auf den neuern Teil dieser Sinngedichte

Ins zweimal neunte Jahr, mit stummer Ungeduld,

Bewahrt', auf Besserung, sie mein verschwiegnes Pult.

Was sie nun besser sind, das läßt sich leicht ermessen:

Mein Pult bewahrte sie; ich hatte sie vergessen.

 

 

4. Der Stachelreim

Erast, der gern so neu als eigentümlich spricht,

Nennt einen Stachelreim sein leidig Sinngedicht.

Die Reime hör' ich wohl; den Stachel fühl' ich nicht.

 

 

5. Nikander

Nikandern glückte jüngst ein trefflich Epigramm,

So fein, so scharf, als je von Kästnern eines kam.

Nun schwitzt er Tag und Nacht, ein zweites auszuhecken.

Vergebens; was er macht, verdirbt.

So sticht ein Bienchen uns, und läßt den Stachel stecken,

Und martert sich, und stirbt.

 

 

6. An den Marull

Groß willst du, und auch artig sein?

Marull, was artig ist, ist klein.

 

 

7. Merkur und Amor

Merkur und Amor zogen

Auf Abenteuer durch das Land.

Einst wünscht sich jener Pfeil und Bogen;

Und gibt für Amors Pfeil und Bogen

Ihm seinen vollen Beutel Pfand.

 

Mit so vertauschten Waffen zogen,

Und ziehn noch, beide durch das Land.

Wenn jener Wucher sucht mit Pfeil und Bogen,

Entzündet dieser Herzen durch das Pfand.

 

 

8. Thrax und Stax

Stax. Thrax! eine taube Frau zu nehmen!

O Thrax, das nenn' ich dumm.

Thrax. Ja freilich, Stax! ich muß mich schämen.

Doch sieh, ich hielt sie auch für stumm.

 

 

9. Der geizige Dichter

Du fragst, warum Semir ein reicher Geizhals ist?

Semir, der Dichter? er, den Welt und Nachwelt liest?

Weil, nach des Schicksals ew'gem Schluß,

Ein jeder Dichter darben muß.

 

 

10. Auf Lucinden

Sie hat viel Welt, die muntere Lucinde.

Durch nichts wird sie mehr rot gemacht.

Zweideutigkeit und Schmutz und Schand' und Sünde,

Sprecht was ihr wollt: sie winkt euch zu, und lacht.

Erröte wenigstens, Lucinde,

Daß nichts dich mehr erröten macht!

 

 

11. Auf die Europa

Als Zeus Europen lieb gewann,

Nahm er, die Schöne zu besiegen,

Verschiedene Gestalten an,

Verschieden ihr verschiedlich anzuliegen.

Als Gott zuerst erschien er ihr;

Dann als ein Mann, und endlich als ein Tier.

Umsonst legt er, als Gott, den Himmel ihr zu Füßen:

Stolz fliehet sie vor seinen Küssen.

Umsonst fleht er, als Mann, in schmeichelhaftem Ton:

Verachtung war der Liebe Lohn.

Zuletzt – mein schön Geschlecht, gesagt zu deinen Ehren! –

Ließ sie – von wem? – vom Bullen sich betören.

 

 

12. Pompils Landgut

Auf diesem Gute läßt Pompil

Nun seine sechste Frau begraben.

Wem trug jemals ein Gut so viel?

Wer möchte so ein Gut nicht haben?

 

 

13. Widerruf des Vorigen

Ich möchte so ein Gut nicht haben.

Denn sollt' ich auch die sechste drauf begraben:

Könnt' ich doch leicht – nicht wahr, Pompil? –

Sechs gute Tage nur erlebet haben.

 

 

14. An die Herren X und Y

Welch Feuer muß in eurem Busen lodern!

Ihr habt den Mut, euch kühn herauszufodern.

Doch eure Klugheit hält dem Mute das Gewicht:

Ihr fodert euch, und stellt euch nicht.

 

 

15. Die Ewigkeit gewisser Gedichte

Verse, wie sie Bassus schreibt,

Werden unvergänglich bleiben: –

Weil dergleichen Zeug zu schreiben,

Stets ein Stümper übrig bleibt.

 

 

16. Auf das Jungfernstift zu **

Denkt, wie gesund die Luft, wie rein

Sie um dies Jungfernstift muß sein!

Seit Menschen sich besinnen,

Starb keine Jungfer drinnen.

 

 

17. An den Doktor Sp**

Dein Söhnchen läßt dich nie den Namen Vater hören:

Herr Doktor ruft es dich. Ich dankte dieser Ehren! –

Die Mutter wollt' es wohl so früh nicht lügen lehren?

 

 

18. Auf den Mnemon

Ist Mnemon nicht ein seltner Mann!

Wie weit er sich zurück erinnern kann!

Bis an die ersten Kinderpossen:

Wie viel er Vögel abgeschossen,

Wie manches Mädchen er begossen;

Bis an das Gängelband, bis an die Ammenbrust,

Ist, was er litt und tat, ihm alles noch bewußt.

Zwar alles glaub' ich nicht; ich glaub' indessen,

Die Zeit ist ihm noch unvergessen,

Als seine Mutter Dorilis

Noch nicht nach seinem Vater hieß.

 

 

19. Baus Gast

So oft Kodyll mich sieht zu Baven schmausen gehen,

Beneidet mich Kodyll. Der Tor!

Das Mahl bei Baven kömmt mir teuer gnug zu stehen:

Er liest mir seine Verse vor.

 

 

20. Auf den Rufus

Weiß ichs, was Rufus mag so viel Gelehrten schreiben?

Dies weiß ich, daß sie ihm die Antwort schuldig bleiben.

 

 

21. Auf Dorinden

Ist nicht Dorinde von Gesicht

Ein Engel? – Ohne Zweifel. –

Allein ihr plumper Fuß? – Der hindert nicht.

Sie ist ein Engel von Gesicht,

Von Huf ein Teufel.

 

 

22. An das Bild der Gerechtigkeit, in dem Hause eines Wucherers, nebst der Antwort

Gerechtigkeit! wie kömmst du hier zu stehen?

Hat dich dein Hausherr schon gesehen?

»Wie meinst du, Fremder, diese Frage?

Er sieht und übersieht mich alle Tage.«

 

 

23. Auf einen adeligen Dummkopf

Das nenn' ich einen Edelmann!

Sein Ur-Ur-Ur-Ur-Älterahn

War älter Einen Tag, als unser aller Ahn.

 

 

24. An eine würdige Privatperson

Gibt einst der Leichenstein von dem, was du gewesen,

Dem Enkel, der dich schätzt, so viel er braucht, zu lesen,

So sei die Summe dies: »Er lebte schlecht und recht,

Ohn' Amt und Gnadengeld, und niemands Herr noch Knecht.«

 

 

25.