Nämlich sie war meines Vaters Stolz, nicht das Tinchen, sondern die Kanonenkugel. Sie war ja eine Merkwürdigkeit der Stadt, und mein erstes Denken haftet an ihr. ›Die ist von der Roten Schanze gekommen, Junge‹, sagte mein Vater, und nun sage mir, Eduard, hast du da hinten in Pretoria, oder wie ihr es und euch nennt, etwas Besseres als eine Kugel im Gebälk oder in der Hauswand, um deinem Jungen oder deinen Jungen den Verstand für irgend etwas aufzuknöpfen? So ein Wort schlägt ein und haftet im Gehirn und in der Phantasie wie die Kugel selber in der Mauer. ›Sie kommt noch aus dem Kriege des Alten Fritz her, Heinrich‹, sagte mein Vater. ›Paß in der Schule ordentlich auf, denn da können sie dir das Genauere darüber erzählen!‹ – Na, ich habe um alles andere in der Schule Prügel gekriegt, nur um den Siebenjährigen Krieg nicht; und daran ist die Geschützkugel des Prinzen Xaver an unserer Hauswand, die Kugel, die von der Roten Schanze hergekommen war, schuld gewesen, und sie hat mir denn auch so im Laufe der Zeiten zum Tinchen Quakatz und zu der Roten Schanze verholfen. Nachher bei Tische, hoffe ich, sollst du es mir ganz aufrichtig sagen müssen, daß du es doch recht behaglich bei uns findest.«

»Habe ich denn das nicht schon verschiedene Male gesagt?«

»Nein. Wenigstens noch lange nicht nach Würden. Denn was weißt du denn eigentlich bis jetzt Genauestes von uns? Aber Menschenkind, mußt du denn immer unterbrechen? Menschenkind, begreifst du denn gar nicht, wie viele verhaltene Reden, wieviel verhaltener Wortschwall in einem nicht zum Zweck und auf die Kanzel gekommenen Kandidaten der Theologie stecken können? Da, sitze still und gucke in die schöne Gegend und auf die Heimatsgefilde und laß mich mir endlich mal Luft machen, einem Menschen gegenüber Luft machen, der nicht da unten in das alte Nest hineingehört, sondern der morgen schon wieder auf dem Wege nach dem untersten Ende vom alleruntersten Südafrika ist, also nicht die Geschichte vom Stopfkuchen und seiner Roten Schanze in sein nachbarliches Ehebett und in seine Stammkneipe weiterträgt.«

»Ich sage gar nichts mehr, bis du selber mich dazu aufforderst oder bis deine liebe Frau es wünscht.«

»Schön, lieber Junge! Damit tust du mir eine wahre Wohltat an. Also kommen wir zurück zu der Schicksalskugel an Rendanten Schaumanns Hause. Allein tat sie es natürlich nicht. Es hatte sich im Hause auch ein alter Schmöker erhalten. Meine Mutter hatte ihn jahrelang benutzt, um einem wackelnden Schrank den mangelnden vierten Fuß unterzuschieben. Der half mir weiter. Nicht der Schrank, sondern der Schmöker! Es war ein Lokalprodukt, das die Geschichte der Belagerung unserer süßen Kindheitswiege durch den Prinzen Xaver von Sachsen, wenn nicht wahr, so doch für ein Kindergemüt um ein bedeutendes deutlicher ausmalte. Den Klassiker zog ich unter dem Schranke vor, den las ich lieber als den Cornelius Nepos, und von dem aus kam ich, Eduard – sei ruhig, wir kommen Tinchen immer näher! –, zu dem lebendigen alten Schmöker Schwartner. Selbstverständlich erinnerst du dich noch an den alten Schwartner, den Registrator Schwartner?«

Ich erinnerte mich selbstverständlich, aber schüttelte natürlich ebenso selbstverständlich das Haupt.

»Ja so: er soll ja nicht dreinreden!« brummte der Herr der Roten Schanze und fuhr fort in seiner Seelenerleichterung, ohne daß er durch mich aufgehalten worden war. »Der alte Schwartner in seinem alten schwarzen Hause unter den dunkeln Kastanien der Kirche gegenüber. Es spukte in ihm, weißt du noch, Eduard? In dem Hause natürlich, aber – in dem alten Herrn auch. In dem alten Herrn haben nach seinem Tode oder vielmehr endlichen völligen Austrocknen die Doktoren nicht einen Tropfen Flüssigkeit mehr gefunden, obgleich er aller Humore voller steckte als die ganze übrige Stadt. Und beim Abbruch seines Familienhauses, nachdem man vorher die Kastanienbäume niedergeschlagen hatte, haben die Arbeiter mehr als einmal am hellen Mittage die Äxte, Schaufeln und Spitzhacken hingeworfen und haben sich unter den Schutz der Hauptkirche gegenüber geflüchtet, weil plötzlich ein Schrecken über sie kam. Ihr Gelehrten schiebt das ja wohl auf den alten Bockfüßler Pan; die städtische Arbeiterbummlerschaft aber schob's auf den alten Bockfüßler Schwartner. Na, mit dem letztern Alten habe ich denn so ganz hinter euerm Rücken, ihr lieben, hellen Schulkameraden, Kameradschaft gemacht, und zwar mit Nutzen in vielen Dingen, von denen ihr Feldhasen nicht die geringste Ahnung haben konntet. Sitze nur ruhig, Eduard; ich führe dich nicht zu weit ab: wir bleiben einfach bei der Roten Schanze und kommen meinem Tinchen immer näher. Übrigens wird sie hoffentlich nun auch bald uns zu Tische rufen.«

Ich hätte hier wirklich etwas sagen können; aber ich bezwang mich und tat es nicht. Stopfkuchen fuhr, seine Pfeife besser in Brand ziehend, fort:

»Also die Kugel an meines Vaters Hause hatte zuerst auf meine kindliche Phantasie gewirkt; der alte Schwartner wirkte zuerst auf meinen historischen Sinn. Und den historischen Sinn im Menschen erklären heutzutage ja viele Gelehrte für das Vorzüglichste, was es überhaupt im Menschen gibt. Ich bin nicht dieser Ansicht. Ja, wenn man sich immer nur an was Angenehmes erinnerte! ... Aber einerlei, der alte Schwartner hatte historischen Sinn und erweckte denselben auch, soweit es möglich war, in mir. Daß ich mich mit ihm, immer dem historischen Sinn.