Beiläufig: daß wir ebenfalls zur Post (damals noch nicht Kaiserlichen) gehörten und daß mein Vater in seinen letzten Lebensjahren sogar Herr Postrat genannt wurde, trug wohl auch das Seinige zu dem angenehmen und innigen Verhältnis zwischen mir und Störzer bei. Wir rechneten uns einander, wie man das ausdrückt, zueinander; und auf meinen Wegen nicht um, sondern durch die Welt habe ich niemals ein selten Posthorn zu Ohr bekommen, ohne dabei an meinen seligen Vater, meine selige Mutter und den Landbriefträger Störzer zu denken. Übrigens bekam Störzer auch jedesmal eine Zigarre mit auf den Weg, wenn er dem Vater und mir draußen vor der Stadt begegnete. Da war's wohl kein Wunder, wenn er jedesmal, wo er mich allein traf, zu fragen pflegte:

»Nu, Eduard, wie ist es? Willst du mit? Darfst du mit?« –

Ich hätte ihm doch, wenn nicht zuerst, so doch unter den ersten meinen Besuch machen sollen. Jetzt war es wieder einmal zu spät für etwas. Auch die Kaiserliche Reichspostverwaltung hatte ihr Recht an ihm verloren, holte ihn sich nicht mehr zu neuem Marsch durch gutes und böses Wetter vor Tage aus den Federn oder besser von seinem Strohsack; und ich – ich saß bei meinem Freunde Sichert, dem Wirt zu den Drei Königen, und gedachte seiner, wie man eines gedenkt, zu dem man in seiner Kindheit aufgesehen hat und mit dem man Wege gegangen ist, aller Phantasien, Wunder und Abenteuer der Welt voll.

Man hat so Stunden, wo einem alles übrige Leben und alle sonstige Lebendigkeit zu einem fernen Gesumm wird und man nur eine einzelne Stimme ganz in der Nähe und ganz laut und genau vernimmt.

»Damit ist es nun nichts, Eduard!« hörte ich Störzer ganz deutlich seufzen. Er hatte mir aber, das heißt an dem Tage damals, ein Kuckucksei in einem Grasmückenneste zeigen wollen, und es hatte sich gefunden, daß schon andere Naturforscher vor uns dagewesen waren und daß der Kuckuck die ganze naturhistorische Merkwürdigkeit aus dem Busch in dem alten Steinbruche, rechts abseits der Landstraße und des Postdienstweges, geholt hatte.

Und wieder, von einem andern Tage her, höre ich diese Stimme:

»Siehst du, Eduard, wenn ich heute deine Mutter gewesen wäre, so hätte ich dich an diesem Morgen doch vielleicht nicht mit mir gehen lassen, und wenn es auch hundertmal die großen Ferien sind. Noch hält dies zwar jeder, der nichts davon versteht, für einen recht schönen Tag; aber, aber, ich sage nichts, wie ich die Gegend hier herum und die Wetteraussichten kenne. Mir wölkt es sich trotz allem gegenwärtigen Sonnenschein dahinten und von so ganz herum, aber grade aus unserer Wetterecke hinter Maiholzen, doch ein bißchen zu verdächtig auf. Willst du lieber noch umkehren, Eduard, so tust du vielleicht deinen lieben Eltern und deinem Anzug einen großen Gefallen. Ich will nichts sagen, aber es könnte doch eine Stunde kommen, wo sie dich am liebsten zu Hause wüßten.«

Es ist nicht immer dieselbe Stimme. Es fällt noch eine andere ein, und das ist die meinige, die sich aber noch lange nicht »gesetzt« hat und sich erst in einigen Jahren »setzen« wird.

»In Südamerika ist ein großes Erdbeben gewesen, Störzer. Mein Vater hat es heute früh beim Kaffee aus der Zeitung vorgelesen. Das hat viele Ortschaften übereinandergeschmissen und darunter eine Stadt so groß wie unsere. Donnerwetter, wer da hätte beisein können, Störzer!«

»Hm, Eduard, das sagten Anno fünfzig auch viele von uns bei der großen Mobilmachung, wenn alte Leute, die dabeigewesen waren, von der Schlacht bei Leipzig oder der Schlacht bei Waterloo und den Drangsalen auf den Märschen erzählten. Nachher war's uns allen aber doch recht lieb, daß es diesmal zu nichts Rechtem kam. Das größte Großmaul von uns hatte die Geschichte bloß nur auf dem Exerzierplatz bald satt. Und selbst Karl Drönemann, den sie zu einem reitenden Postillion bei der Kriegspost gemacht hatten, meinte: zu Hause davon nachher zu erzählen, wiege es doch nicht auf, es vorher mit seinem eigenen menschlichen Leben selber durchgemacht zu haben. Das ist wie mit den Reisebeschreibungen. Nimm da nur unsern Levalljang, wie hübsch sich das liest, weil er es so hübsch zu Hause beschrieben hat... Also in Südamerika ist das große Erdbeben diesmal gewesen? Jaja, die Geographie ist doch die allerhöchste Wissenschaft für uns alle von der Post! Wie viele sind wohl umgekommen, Eduard?«

»Na, so an die Hunderttausend. Auf das genaueste kann man das wohl nicht ausrechnen.«

»Hm, ein paar tausend mehr oder weniger! Einer mehr oder weniger! Ja, einer mehr oder weniger – weniger. Eduard, unser Herrgott muß es doch wohl verantworten können. Ist das nicht auch deine Meinung?«

»Das weiß ich nicht; aber ihre dortige Brief- und Paketbestellung muß das höllisch in Unordnung bringen, sagt mein Vater, und da kommt doch sicherlich vieles als unbestellbar zurück. Meinst du nicht auch, Störzer?«

»Einer mehr oder weniger in der Welt.«

»Kaufmann Katerfeld, der da einen reichen Bruder hat, wie meine Mutter sagte, ist auch schon heute beim Kaffee beim Vater gewesen und hat danach angefragt.«

»I, sieh mal, Eduard! Auch einer mehr oder weniger! Ja, diesen auswärtigen Katerfeld, er heißt mit Vornamen Sekkel, kenne ich noch ganz gut aus meinen Jungensjahren. Das muß also in Chile gewesen sein, dein Erdbeben; denn dahin ist der ausgewandert und hat's zum Millionär gebracht. Und das sollten wir alle tun. Er ist unverheiratet geblieben, weil ihn hier eine gewisse nicht gewollt hat. Das kannst du halten, wie du willst, Eduard, denn das ist doch die Nebensache. Sieh, sieh, also der ist mit in das Erdbeben hineingeraten! Ja, da hätte ich in Herrn Samuel Katerfelds Stelle mich auch gleich bei deinem Herrn Vater, dem Herrn Postmeister, nach dem Nähern erkundigt.