Aber – das verstehst du noch nicht, Eduard. Also du willst auf gut und schlecht Wetter heute morgen wieder mit. Nun, denn nimm den Weg unter die Füße und laß uns von dem Levalljang sprechen. Das ist doch unser Buch! Und der Welt- und Reisebeschreiber treibt einem die trüben Grillen aus dem Kopf. Und so ein Leben wie der sollten wir alle führen unter den wilden und zahmen Hottentotten. Ich habe wieder die halbe Nacht in dem Buche studiert.«
»Du hast heute eine schwere Tasche.«
»Eine schwere Tasche! ... Ja, was schreiben die Leute! Allein die Rote Schanze, der Bauer von der Roten Schanze! Wer mir im Amte von der Roten Schanze und ihren Poststücken hülfe, Eduard, dem wollte ich auf den Knien für die Erlösung danken. Es ist freilich heute bloß nur die Zeitung. Die trägst du mir wohl wieder einmal über den Graben nach der Schanze hinüber. Nicht wahr, du tust mir den Gefallen? Ich sortiere mir derweilen die übrigen Briefe und ›Gartenlauben‹ und Modenzeitungen an die Herren Ökonomen und Pastöre und Fabrikinspektoren ein bißchen handgerechter diesseits des Grabens.«
Was hätte ich damals nicht dem Landpostboten Störzer zu Gefallen getan?
»Natürlich bringe ich deine Sachen zu Quakatz, Fritze, und wenn er auch noch so sehr sein Sauerampfergesicht mir schneidet und seine wilde Katze mir am liebsten in mein Gesicht springen möchte. Setze du dich dreist untern Baum vor dem Graben und sortiere deine Geschichten. Ich springe schon hinüber zur Roten Schanze und nehme sie mit Sturm, wie Stopfkuchen sie nehmen will. Damit werden wir noch fertig, ehe dein Gewitter heraufkommt, Störzer!«
»Je, so rasch kommt's hoffentlich nicht, Eduard.«
Wir steigen nun, trotz aller schlimmen Wetterzeichen rundum am Horizont, in der Morgensonne wacker zu.
»Eine schwere Tasche!« hörte ich in meinem Absteigequartier zu den Heiligen Drei Königen meinen harmlosen Jugendbekannten Störzer noch einmal stöhnen oder vielmehr seufzen; aber wenn ich auch noch so sehr ein Herz und eine Seele mit ihm war: was kümmerte mich die Korrespondenz der Bauern, der Gutsherrschaften, der Fabrikleute, die er in der Tasche über Land trug? Dafür kroch, flog, lief, schwirrte, leuchtete, flimmerte und glänzte doch allzuviel Wichtigeres sowohl an der Landstraße wie an den Beiwegen. Ja, wenn sich der Kuckuck, die Grasmücke, der Igel, der Hase und diese übrige Gesellschaft, eingeschlossen die Sonne, der Schatten, der Wind, der Regen, der Blitz und der Donner, auch auf schriftlichen Verkehr untereinander durch Störzers Vermittelung eingelassen haben würden, dann hätte es vielleicht noch wundervoller sein können. Aber es war auch so ganz gut, wo der Roggen und der Weizen, die Kornblume und die Klatschrose rundum ohne Dinte, Feder und Papier auskamen und sich ohne fortgeschrittene Bildung innerhalb ihrer Isotheren und Isothermen freundschaftlich und geschäftlich beieinanderzuhalten wußten.
Isotheren! Isothermen! Wie diese gelehrten Worte zu den lieben Namen, den Heimatsnamen von allem, was »auf dem Felde« (»Sehet die Lilien« und so weiter) wächst, paßten, so paßten sie auch zu unserer – übrigen Erdkunde (Geographie) damals. Und doch, was für wundervolle Geographen, Erdkundige, Erdbeschreiber wir damals waren, Störzer und ich! Wir wären die rechten Leute damals für den alten freundlichen und gelehrten Karl Ritter gewesen, wenn er seine Landschaftsbilder auf die große schwarze Tafel hinter seinem Katheder in Berlin malte.
Und wie weit man um diese Lebenszeit auf den paar Stunden Weges von einem Dorf, Pastorhaus und Gutshof zum andern in die weite unermeßliche Welt hinauskam!
Zu Hause, in Neuteutoburg, weiß ich nur zu gut, daß die Welt oder in diesem Falle der Erdball durchaus nicht unabmeßlich ist, sondern daß dieser im Äther schwimmende Kloß gar nicht so dick ist, wie er sich einbildet. Aber wenn ich wenigstens bis zu den Kaffern und Buren und zu einem anständigen Vermögen gekommen bin: wem anders verdanke ich das als dem Landbriefträger Friedrich Störzer und seinem Lieblingsbuch, Levaillants »Reisen in das Innere von Afrika«, aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen von Johann Reinhold Forster?
Wie deutlich ich in den Heiligen Drei Königen die Stimme höre: »Die Geographie, die Geographie, Eduard! Und so ein Mann wie dieser Levalljang! Was wäre und wo bliebe unsereiner ohne die Geographie und solch ein Muster von Menschen und Reisenden? Nimm nur mal an, so Tag für Tag, jahrein, jahraus die nämlichen Wege. Jedes Dorf wie deine Tasche. In jedem Hause, von der ältesten Großmutter bis zum eben ausgebrochenen jüngsten Wurm, alles wie deine eigenen Leute in deinem eigenen Hause! Und aus jedwedem Hause der Ruf: Da kommt Störzer! Und in jedem Hause: Störzer hat die Zeitung gebracht, Störzer bringt 'n Brief! – Könntest du das auf Lebenszeit und immer auf denselben Wegen aushalten, Eduard, ohne deine Gedanken und Einbildungskraft und Phantasien und Lektüre, Eduard? Müßte dir das nicht auch auf die Länge langweilig werden ohne die Geographie?«
»Ne, Störzer! Denn wir haben sie auf dem Gymnasium, und da haben sie mich gestern erst ihretwegen eine Stunde länger in der Schule behalten. Bithynien, Paphlagonien und Pontus wußte ich: aber ich sollte alle alten Staaten von Kleinasien wissen.«
»Das tut mir deinetwegen ja sehr leid, Eduard, aber mir hättest du doch einen Gefallen getan, wenn du sie beim Nachsitzen noch auswendig gelernt hättest, wenn auch bloß für mich.«
»Für dich, Fritze? Nun denn: Mysia, Lydia, Karia, Lycia, Pisidia, Phrygia, Galatia, Lykaonia, Cilicia, Kappadocia, Armenia minor, das sind sie alle; denn Bithynien, Paphlagonien und Pontus habe ich dir schon genannt.«
»Donnerwetter, Eduard, das ist ja grade, als ob du uns Deutsche in allen unsern Unterabteilungen aufzähltest! Es klingt bloß 'n bißchen hübscher und ausländischer. Nun sieh mal, was für ein Vergnügen muß das für dich sein, daß du dieses alles so an der Schnur hersagen kannst und dir dabei was denken kannst, hier auf der Landstraße mit der ganzen altbekannten Umgebung rundherum und da – hier – der Roten Schanze vor der Nase.«
»Campes Reisebeschreibungen sind mir lieber. Und du bist mir auch lieber, Störzer. Mysien, Lydien, Karien, bringe du das da unten in dem dumpfigen Schulstall mal in deinen Kopf und sehne dich mal nicht nach dem Levaillant seinem Afrika und seinen Hottentotten, Giraffen, Löwen und Elefanten. Stopfkuchen haben sie auch mit mir eine Stunde über den Unsinn dabehalten. Der frägt aber nichts nach Afrika. Dem seine tägliche Sehnsucht ist dort die Rote Schanze; na, das weißt du ja.«
»Das weiß ich freilich, und es ist närrisch genug von dem Dicken – deinem närrischen Kameraden. Weißt du, Eduard, wenn ich mir aus der Weltkunde ein Faultier vorstelle, so muß ich mir dabei immer diesen deinen Freund und Schulkameraden mit vorstellen. Der und die Rote Schanze!«
Die Rote Schanze! Ich hatte doch allmählich ein wenig in all diese Erinnerungen, in diesen Wechsel von Stimmen und Gestalten hineingegähnt und das Bedürfnis gefühlt, nun auch Störzern seiner ewigen Ruhe zu überlassen und selber für diese Nacht zur Ruhe zu gehen, als mich dieser Name doch noch eine Weile wach und bei meinem Jugendleben lebendigst festhielt. Die Rote Schanze!
Es überkam mich ein lachendes Behagen über die Rote Schanze in ihrer Verbindung mit dem Dicksten, dem Faulsten, dem Gefräßigsten unter uns von damals.
»Im Bette habe ich sie am festesten am Wickel, Eduard«, pflegte Stopfkuchen zu sagen. »Wenn ich mal träume, dann träume ich von ihr, und wer dann Herr auf ihr ist und keinen Schulrat, Oberlehrer und Kollaborator über den Graben läßt, das ist nicht der Bauer Quakatz, sondern das bin ich.
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