Hu, wenn ich mal von der Roten Schanze aus drunterpfeffern dürfte – unter die ganze Menschheit nämlich, und nachher noch die Hunde loslassen! Du weißt es, Eduard, und kannst es bezeugen, wie reif ich diesmal wenigstens war. Und sie haben mich doch wieder sitzenlassen und nicht mitgenommen in die Obertertia! Da komme du mal nach Hause und habe Freude an deinen Eltern und sonst am Leben. Ne, da soll man wohl zum Eremiten werden und sich hinter seine Kanonen zurückziehen. Da hilft mir nichts als wie die Rote Schanze und die Idee, daß ich ihr Herr wäre! Du läufst mit Störzern, Eduard, und ich liege vor der Roten Schanze – jeder nach seinem Geschmack –, und ich denke mich, mit der ganzen Welt und Schule hinter mir, in sie hinein, und wie mir da das Rindvieh Blechhammer kommen könnte. Hier – sieh mal her, Eduard! Daß mich Tinchen Quakatz gestern hier in die Hand gebissen hat, die bissige Katze, das paßt mir ganz. Da soll wohl einer nicht beißen, wenn ihm keiner seine Ruhe lassen will? Übrigens hat die Kröte die Maulschelle, die ich ihr darauf versetzt habe, auch gespürt; und als der Alte dazugekommen ist, hat er jedem von uns recht geben müssen. ›Spuckt euer Gift aus‹, hat er gesagt. ›Es ist besser, als es in sich hineinzufressen‹, hat er gesagt. Und wenn einer weiß, wie recht er da gehabt hat, so bin ich das. Auf der untersten Bank zu sitzen und zu all Blechhammers Redensarten keinen Muck sagen zu dürfen, das ist zehntausendmal schlimmer, als Kienbaum nicht totgeschlagen zu haben und doch dafür angesehen zu werden. Ja, sieh mich nur so drauf an, Eduard. Du bist auch so einer von denen, die sich stündlich gratulieren, daß sie nicht der Mörderbauer von der Roten Schanze oder Heinrich Schaumann sind.«
»Da verkennst du mich aber riesig, Heinrich.«
»Gar nicht, Eduard; ich kenne euch nur. – Alle kenne ich euch, in- und auswendig.«
Ich hatte mich rasiert. Nämlich ich rasiere mich selber: da drunten oder da hinten im Kaffernlande könnte man lange auf den Barbier warten, und wenn er einen Vogel Strauß bestiege, um mit seinem Handwerkszeug eiligst von einem Kral zum andern, von einem Bauernhof zum andern zu reiten und die Kundschaft zu bedienen. Die Sonne stand hell am Himmel und schien mir auf den Kaffeetisch. Ich durfte meinem Wirtshausbett in den Heiligen Drei Königen das Kompliment machen, daß ich trotz allem einen ausgezeichnet guten Schlaf in ihm getan hatte, einerlei, wie es zehntausend andern vor mir darin ergangen sein mochte.
Es war ein schöner Morgen heraufgekommen mit Hülfe des Nachtgewitters. So frisch und licht und leicht in seinem Anfang, daß man die Aussicht auf einen neuen heißen Tag wohl mit in den Kauf nehmen konnte.
»Also der alte Störzer ist tot?« seufzte ich behaglich-wehmütig über dem Kaffeetisch und der neuesten Zeitung, die mir der Kellner mit den Worten gebracht hatte: »Unser Herr schickt sie dem Herrn zuerst, weil er meint, sie interessiere ihn wohl zuerst im Hause, da – Sie so weit aus der Fremde nach Hause kämen. Es hätte diesmal Zeit damit, bis sie in das Gastzimmer zu den übrigen Herren herunterkäme.«
In diesem Worte des jungen höflichen Menschen kam auch wieder ein Stück Bekanntschaft aus alter Zeit zum Vorschein. Es war sehr freundlich von mine host in den Heiligen Drei Königen; aber diesmal verlangte mich nicht grade allzusehr danach, das Neueste vom Weltgericht, nämlich von der Weltgeschichte vor die Nase zu bekommen. Ich schob das Tageblatt sehr bald zurück und dachte nochmals:
›Der alte Störzer tot! Schade! Den hast du nun also schon durch eigene Schuld versäumt, Eduard. Also nun heute unter allen Umständen nach der Roten Schanze zu – Stopfkuchen! ... Wie dies alles doch so wieder aufwacht und auflebt, ohne daß man für seine Person weiter etwas dazu tut, als daß man hinhorcht und hinsieht! Stopfkuchen! Was war mir vor vierzehn Tagen noch viel übriggeblieben von Stopfkuchen – meinem alten närrischen Freunde Heinrich Schaumann, dem guten, dem lieben, dem faulen, dem dicken, dem braven Freunde Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen?‹
Und nun hatte ich ihn plötzlich wieder ganz! Gerade, wie ich den eben gestorbenen Störzer wieder ganz hatte. Und es wäre sehr unrecht von mir gewesen, wenn ich dem erstern nicht sofort einen Besuch gemacht hätte – jetzt, da es noch Zeit war. Ich hatte es doch eben wieder an dem letztern erfahren, wie bald man so einen letzten günstigen Augenblick versäumen kann.
Ja freilich, als wir von Schulen liefen, hätte er, Heinrich, zehntausendmal leben und sterben können, ohne daß ich, eigenen Lebens und Sterbens wegen, einen kürzesten Augenblick Zeit für ihn übrig gehabt hätte.
Wir kamen eben voneinander um die Zeit, wo man am allerwenigsten Zeit füreinander hat. Die heutige Leichtigkeit der Korrespondenz tut da gar nichts zu; denn – wer schreibt heute in der Postkartenperiode noch Briefe?
Ich sehe die ganze zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts und ein gut Drittel des neunzehnten den Kopf schütteln und denke an meinem Frühstückstische im Gasthause der Heimatstadt. ›Wenigstens einmal hättet ihr euch doch schreiben können – du und dein Freund Heinrich.‹
Na, alles in allem genommen und dazu ehrlich gesprochen: was man so nennt, zärtlich hatten wir uns auch im persönlichen Verkehr gegeneinander nicht gehalten. Aber was man, und vorzüglich in jener Lebensepoche, gute Schulkameraden nennt, das waren wir doch gewesen, Stopfkuchen und ich. Wer von uns beiden dem andern dann und wann die meisten Haare ausgerauft, die blauesten Beulen und dickgeschwollensten Augen beigebracht hatte, das mochte heute dahingestellt bleiben. Es kam jetzt darauf an, was die Zeit aus dem dicken, guten Jungen gemacht hatte, ob er sich sehr verändert hatte und ob er infolge dieser Veränderung imstande war, jetzt ebenfalls wie seinerzeit der Bauer Quakatz der ganzen Welt und also auch mir die Pforte der Roten Schanze vor der Nase zuzuschlagen, oder ob er nach der gewöhnlichen, verlegen-ratlosen Frage: »Mit wem habe ich die Ehre?« mir beide Hände entgegenstrecken und mit halbwegs dem alten Schulton sagen werde: »Hurrjeses, du bist's, Eduard? Nu, das ist aber schön, daß du dich meiner noch erinnerst!«
In Anbetracht, daß er »weit draußen im Felde« wohnte, hielt ich es nicht für notwendig, die durch Sitte und Gewohnheit festgesetzten groß-, mittel- und kleinstädtischen Besuchsstunden innezuhalten, und war gegen neun Uhr morgens auf dem Wege zu ihm.
Ein wirklich feiner Morgen. In der Stadt hatte die Polizei sich löblichst dafür an die Laden gelegt, daß die Gassen sauber gekehrt worden waren, und draußen im Freien, im »Felde«, hatte Mutter Natur dafür gesorgt, daß sich alles hübsch gewaschen hatte.
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