Ich, sage ich dir, Eduard.«

Und in den Traum nahm auch ich sie, die Rote Schanze, mit hinein in dieser Nacht in den Heiligen Drei Königen der Heimatstadt. In diesem Traume sah ich ihn noch einmal in meinem Leben so traumhaft aller Wunder voll, wie ich ihn von der Oberquarta und Untertertia aus gesehen hatte, diesen Bauerhof – diese Rote Schanze, diesen alten, herrlichen Kriegs-und Belagerungs- Aufwurf des Prinzen Xaverius von Sachsen, den Hof des Bauern Andreas Quakatz, aus welchem der kursächsische Herr Prinz in den sechziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts nicht nur die Stadt da unten, sondern auch die hohe Schule, unser Gymnasium, darin so gründlich beschossen hatte, daß sie beide sich ihm sofort übergeben mußten, obgleich er wahrlich nicht der erste und größte Held des Siebenjährigen Krieges war. Der Siebenjährige Krieg war ein paar Jahre länger vorüber als meine und Stopfkuchens Kindheit; aber die Rote Schanze war noch immer vorhanden in diesem Traume, wie sie unser Jungensideal gewesen war.

Da stieg sie auf im wohlerhaltenen Viereck. Nur durch einen Dammweg über den tiefen Graben mit der übrigen Welt in Verbindung! Mit allem, was sie der Knabenphantasie zu einem Entzücken und Geheimnis gemacht hatte: mit den Kanonen und Mörsern des Prinzen Xaver und mit der undurchdringlichen Dornenhecke, die der böse Bauer Andreas Quakatz auf ihrer Höhe um sich, sein Tinchen, sein Haus, seine Ställe und Scheunen und alles, was sonst sein war, zum Abschluß gegen die schlimme Welt gezogen hatte!

Ich höre ein dumpfes Rollen und Krachen in meinen Traum von der Roten Schanze hinein; aber es ist nicht der kursächsische Kanonendonner gegen den König Fritz von Preußen: es ist das Gewitter, bei dem Störzer sagt:

»Es kommt doch noch rascher über uns, als ich mir dachte. Da, Eduard, nun tu mir den Gefallen und lauf zu dem Adressaten Quakatz mit seinen Sachen hinüber. Da, seine Zeitung; – hier auch ein, zwei, drei Briefe. Was der Mann eine Schreiberei um sich hat! Ach, Eduard, und immer ein paar mit den Gerichtssiegeln! Da – das Kind, sein Tinchen kuckt schon um den Torpfeiler! Gib sie ihm ab, die Sachen; ich sortiere hier unter der Hainbuche derweil das übrige, ehe das Unwetter ganz da ist.«

»Was willst du von uns, dummer Junge?« höre ich nun ein feines Stimmchen, das gar böse tut, und zwar inmitten des Gekläffs von einem halben Dutzend vor Wut und Gift außer sich geratener Haus- und Hofköter aller Sorten und Gattungen. Und sie lassen es nicht bei dem Blaffen und Zähnegefletsch. Sie fahren mir nach der Hose und springen mir gegen die Kehle: man hätte das vollste Recht, dabei aus jedem Traume selbst als älterer Herr und südafrikanischer Buer mit einem hellen Schrei zu erwachen.

Ich bleibe aber doch darin, auf dem Damm, vor den beiden Torpfeilern vom Quakatzenhof auf der Roten Schanze, und die Kinderstimme kreischt lachend und höhnisch: »Laßt ihn! Wollt ihr herein! Das ganze Gerichte! Präsendent, Akzesser, Reffrendar! Kusch alle, kusch Geschworener Vahldiek, kusch Meier, kusch Braunsberg, kusch das ganze Geschworenengerichte!«

»Da sind eure Postsachen, eure Schreibsachen und die Zeitung, du Giftkatze!« rufe ich, der rotköpfigen Krabbe des Bauern von der Roten Schanze die Korrespondenz des Bauern in die aufgehaltene Schürze werfend und von dem ungastlichen Anwesen über den Fahrdamm auf das freie Feld und zu der Hainbuche und zu Störzer zurückweichend.

»Komm, Eduard«, sagt Störzer, »wir wollen den Weg zwischen die Beine nehmen, daß wir wenigstens Maiholzen noch trocken abreichen. Da, sieh mal hin, wie es dahinten schon gießt. Das ist nun so 'n schöner Sommertag. Na, gottlob, daß wir wenigstens die Rote Schanze und Quakatz hinter uns haben.«

 

Nun war es seltsam, wie sich in dieser Nacht in den Heiligen Drei Königen Vergangenheit und Gegenwart im Bett, Schlaf, Traum und Halbtraum vermischten. Es rauschte und rollte wie großer Platzregen und schwerer Donner: ich lag im Bett in den Heiligen Drei Königen als Gatte, Vater, Grundbesitzer und großer Schafzüchter am Oranjefluß und lief zu gleicher Zeit mit dem Landbriefträger Störzer als zwölfjähriger Schuljunge im strömenden Gewitterschauer, unter Blitz und Donner über das freie Feld, um Maiholzen, das gute Dorf hinter der Roten Schanze, zu erreichen – wenn nicht mit trockenen Kleidern, so doch wenigstens bei lebendigem Leibe.

Erst als der Kellner mit dem Rasierwasser kam, erfuhr ich, daß es wirklich gegen Morgen noch ein heftiges Gewitter gegeben habe, und es war wirklich nichts dagegen zu sagen, daß der junge Mann den höflichen Wunsch äußerte, ich möge »die Sache angenehm verschlafen haben«.

Das wirkliche Gewitter der Nacht hatte ich angenehm verschlafen, oder sein Getöse hatte sich doch so sehr mit dem Rollen und Rauschen der Vergangenheit vermischt, daß ein Unterscheiden von Traum und Wahrheit nicht möglich war. Nun aber hatte ich, ehe der Kellner anklopfte, längere Zeit auf etwas anderes horchen müssen, was ebenfalls in Traumbeschreibungen häufig literarisch vorkommt: die Turmglocken der Heimatstadt. Ich hatte es sechs schlagen hören und halb sieben und sieben. Und dabei, grade bei diesem angenehmsten wachen Liegen und Dehnen und Strecken im Bette und dem Glockenklang dieser Stunden, war mir ein anderes von neuem lebendig in der Seele geworden – süß und schauerig lebendig! Die Stunde nämlich, in welcher man in der Schule zu sein hatte – im Sommer um sieben, im Winter um acht und, von mir ganz abgesehen, Stopfkuchen schändlicherweise auch! Stopfkuchen! Er, den »der ganze Quark gar nichts anging, wenigstens ein beträchtliches weniger als den ganzen übrigen Cötus zusammen«.

Er fragte wahrhaftig gar nichts danach, was »die Leute« (er meinte die Herren Lehrer) wußten und lächerlicherweise ihm mitzuteilen wünschten. Er war ganz gut so, wie er war, und kurz und gut, es war eine Niederträchtigkeit, im Sommer um sieben und im Winter um acht »dasein« zu müssen, um sich doch nur mit völliger Verachtung strafen zu lassen, da »alles andere doch nichts half«.

Stopfkuchen! Wahrlich nicht der Kirchenglocken wegen (obgleich er auch den Versuch gemacht hatte, Theologie zu studieren), sondern einzig und allein der Turmuhr halber stieg er mir nun so hell wie Störzer in der Seele empor, mein Freund Stopfkuchen, mein anderer Kindheits-, Feld-, Wald- und Wiesenfreund Stopfkuchen, den ich nur dann seinen Schritt etwas beschleunigen sah, wenn ihn der alte Konrektor mit der Haselnußgerte im Kreise nicht um die Welt, sondern um die schwarze Schultafel und die ungelöste mathematische Aufgabe jagte.

Ja, zu unserer Zeit kriegte man noch die Prügel, die einem gebührten... Gott sei Dank! – »Stopfkuchen« nannten wir ihn auf der Schule. Eigentlich hieß er Heinrich Schaumann und war das einzige Kind so dürrer, eingeschrumpfelter, zaunkönighaft-nervös-lebendiger Eltern, daß die in der Stadt nicht unrecht zu haben schienen, die da behaupteten, er habe in einem Kuckucksei gelegen und sei schändlich doloser Weise dem Herrn Registrator und der Frau Registratorin Schaumann ins Nest geschoben worden. Wie dem auch sein mochte: sie hatten ihn herangefüttert und ihm zu-und in den Schnabel getragen, was sie vermochten; und es war ihm gediehen.

Und wie ein Zaunkönigspaar seine Freude und seinen Stolz an seinem dicken Nestling hat, so hatten auch Vater und Mutter Schaumann ihren Stolz und ihre Freude an ihrem »Dicken« und wollten selbstverständlich auch noch nach einer andern Dimension hin etwas aus ihm machen, nämlich etwas Großes. Natürlich einen Pastor, Regierungsrat, Sanitätsrat oder dergleichen.

»Die Sache könnte mir schon passen, Eduard«, sagte Heinrich damals häufig zu mir. »Wenn nur nicht die verdammten Vorstrapazen wären, das schauderhafte Latein und gar Griechisch und nachher, um einen verrückt zu machen, das Hebräische!« seufzte er dazu und rieb sich nicht selten die Schultern dabei.

»Und die Rote Schanze, Heinrich.«

»Die auch, Eduard, obgleich das nur eine Dummheit von euch andern ist. Na, mir ist's übrigens eins, was ihr Esel von mir sagt und denkt! Und dann läßt sich das auch gar nicht in einem Atem nennen, das Gymnasium und Quakatzen seine Rote Schanze. Herr du mein Gott, wenn mich einer zum Bauer auf der Roten Schanze machen wollte, ich hinge jedes Pastorhaus in der Welt drum an den Nagel und schlüge Kienbaum mit Vergnügen dreimal tot!«

»Aber Stopfkuchen?«

»Jawohl, Stopfkuchen! Nennt mich nur so; ich mache mir auch daraus nichts. Wenn ich Kuchen kriege, so stopfe ich; darauf könnt ihr euch verlassen. Und nochmals, was Quakatzen anbetrifft, so mache ich mir gar nichts draus, was die ganze Welt über ihn spricht. Meinswegen kann er Kienbaum sechsmal totgeschlagen haben; darum bleibt er doch der Bauer auf der Roten Schanze und hat's am besten in der ganzen Welt. Und übrigens, bewiesen ist ihm ja von keinem Gerichte was, und wenn jetzt die ganze Welt auf ihn hetzt, beweist das gar nichts gegen ihn. Auf mich hetzt auch die ganze Welt, und wenn ihr morgen Blechhammern, euern Herrn Oberlehrer Doktor Blechhammer, irgendwo am Wege abgegurgelt fändet, dann könntet ihr dreist auch mir die Geschichte in die Schuh schieben und behaupten, ich sei's gewesen und habe mir endlich das Vergnügen gegönnt und meine Rache ausgeübt. Quakatz auf der Roten Schanze hat ganz recht, wenn er am liebsten seinen Wall vom Prinzen Xaver her auch lieber mit Kanonen als bloß mit seinen Dornbüschen bespicken möchte gegen die ganze Welt, die ganze Menschheit.