Ich sah einen rot verzierten Titel: »Siebenzigmal sieben und das erste vom einundsiebenzigsten Mal. Eine erbauliche Predigt, gehalten von Hochwürden Jabes Branderham, in der Kapelle von Gimmerden Sough.« Und während ich mir, nur halb bewußt, den Kopf darüber zerbrach, was Jabes Branderham wohl aus seinem ema machen würde, sank ich ins Bett zurück und schlief ein. Wehe über die Wirkungen des Tees und der Aufregung! Denn was sonst konnte schuld daran sein, daß ich solch eine fürchterliche Nacht verbrachte? Ich entsinne mich keiner anderen, die nur im geringsten mit dieser zu vergleichen wäre, seit ich fähig war zu leiden.



Ich fing an zu träumen, fast bevor ich auörte zu wissen, wo ich war. Ich glaubte, es sei Morgen und ich hätte mich, mit Joseph als Führer, auf den Weg nach Hause gemacht. Der Schnee lag ellenhoch auf unserer Straße, und während wir da-hinstapen, quälte mich mein Begleiter mit ständigen Vorwürfen, weil ich keinen Pilgerstab mitgenommen hätte, ohne den ich nie in das Haus gelangen werde; dabei schwang er prahlerisch einen plumpen Knüttel, den er, soviel ich verstand, als Pilgerstab bezeichnete. Einen Augenblick lang erschien es mir widersinnig, daß ich einer solchen Waffe bedürfen sollte, um in meine eigene Wohnung zu gelangen. Dann blitzte eine neue Vorstellung in mir auf: Ich ging gar nicht nach Hause; wir gingen über Land, um den berühmten Jabes Branderham über den Text ›Siebenzigmal sieben‹ predigen zu hören. Entweder Joseph oder der Prediger oder ich hatte das

›erste vom einundsiebenzigsten Mal‹ verbrochen und sollte an den Pranger gestellt und exkommuniziert werden.

Wir kamen zur Kapelle. In Wirklichkeit bin ich auf meinen Spaziergängen zwei- oder dreimal daran vorübergegangen; sie liegt in einer Senke zwischen zwei Bergen, einer hochgele-genen Senke bei einem Sumpf, dessen torfig feuchte Be-schaffenheit die Eigentümlichkeit haben soll, die wenigen Leichname, die dort liegen, zu erhalten. Noch ist das Dach heil geblieben, aber da die Besoldung des Geistlichen nur zwanzig Pfund im Jahr beträgt und freie Wohnung in einem Haus mit zwei Zimmern, die Gefahr laufen, in Kürze zu einem einzigen zusammenzufallen, will kein Geistlicher die Obliegenheiten des Pastors übernehmen, um so weniger, als allgemein berichtet wird, daß seine Gemeinde ihn eher verhungern ließe, als seinen Lebensunterhalt auch nur durch einen Pfennig aus ihrer Tasche zu verbessern. In meinem Traum jedoch hatte Jabes eine vollzählige und andächtige Gemeinde. Und er predigte.

Großer Gott, diese Predigt! Sie bestand aus vierhundertneun-zig Abschnitten, deren jeder völlig einer der üblichen Anspra-chen von der Kanzel entsprach und eine besondere Sünde behandelte. Woher er sie alle nahm, weiß ich nicht. Er hatte seine eigene Art der Auslegung, und es schien wesentlich zu sein, daß sein Nächster bei jeder Gelegenheit mehrere Sün-



den beging. Sie waren von der seltsamsten Art: merkwürdige Vergehen, von denen ich vorher keine Ahnung gehabt hatte.

Oh, wie müde ich wurde! Wie ich mich krümmte und gähnte, einnickte und wieder aufschrak! Wie ich mich selbst zwickte und kniff, mir die Augen rieb, wie ich aufstand und mich wieder hinsetzte und Joseph anstieß, damit er mir Bescheid sagen sollte, wenn Jabes endlich zum Schluß käme. Ich war dazu verdammt, alles mit anzuhören. Schließlich gelangte er zum

›ersten vom einundsiebenzigsten Mal‹ Bei diesem Punkt überkam mich eine plötzliche Erleuchtung: ich mußte aufstehen und Jabes Branderham als den Sünder brandmarken, dem kein Christ zu verzeihen braucht.

»Herr«, rief ich, »die ganze Zeit habe ich ohne Unterbrechung in diesen vier Wänden gesessen und habe die vierhun-dertneunzig Abschnitte Ihrer Predigt ertragen und verziehen.

Siebenmal siebenzigmal habe ich meinen Hut genommen und war drauf und dran, fortzugehen – siebenmal siebenzigmal haben Sie mich albernerweise gezwungen, wieder niederzusit-zen. Das vierhunderteinundneunzigste Mal ist zuviel. Lei-densgefährten, packt ihn! Zerrt ihn herunter und reißt ihn in Fetzen, daß der Ort, der ihn kennt, ihn nicht mehr erkennen kann!«

»Du bist der Mann!« schrie Jabes nach einer feierlichen Pause und beugte sich über die Brüstung. »Siebenmal siebenzigmal hast du dein Gesicht zum Gähnen verzerrt, siebenmal siebenzigmal habe ich mit meiner Seele Rat gepflogen. Siehe, das ist menschliche Schwäche; es soll vergeben sein! Das erste vom einundsiebenzigsten Mal ist gekommen. Brüder, vollstreckt an ihm das Urteil, wie es geschrieben steht! So geschehe zur Ehre aller Seiner Heiligen!« Nach diesen abschlie-

ßenden Worten stürzte die ganze Gemeinde sich wie ein Mann mit erhobenen Hirtenstäben auf mich und umzingelte mich, und da ich keine Waffe zur Verteidigung hatte, rang ich mit Joseph, meinem nächsten und wildesten Angreifer, um die seine. Im Handgemenge der Massen kreuzten sich die Knüttel; nach mir gezielte Hiebe sausten auf fremde Schädel nieder, schließlich hallte die ganze Kapelle von Schlägen und Gegenschlägen wider. Jeder kämpe gegen jeden, und Bran-



derham, der auch nicht müßig bleiben wollte, bewies seinen Eifer durch prasselndes Getrampel auf dem Bretterboden der Kanzel, das so laut dröhnte, daß es mich zu meiner unaussprechlichen Erleichterung weckte.