Ach wer der Weisheit die Gesundheit opfert, hat meistens die Weisheit auch mitgeopfert; und nur angeborne, nicht erworbne Kränklichkeit ist Kopf und Herzen dienlich. Daher hatte Albano in seinem Bücherriemen nicht die vielbändige Enzyklopädie aller Wissenschaften gebückt zu schleppen, sondern bloß Sprachlehren. Nach den Schulstunden der Dorfjugend suchte nämlich der Rektor des Orts – namens Wehmeier, bekannter unter dem Titel: Schachtelmagister – seine schönsten Struveschen Nebenstunden, seine Otia und Noctes hagianae darin, daß er ihn unterwies und in die von innern Strömen angefaßte Mühlwelle des ewig regen Knaben alphabetische Stifte zu einer Sprachwalze einschlug. Freilich aber wollte Zesara bald etwas Schwerers bewegen als die Sprach-Tastatur; so wurde z.B. die Sprachwalze im eigentlichen Sinne zur Spielwalze; denn stundenlang versucht' er auf der Orgel des Orts ohne sonderliche Kenntnis des Kontrapunkts (er kannte keine Note und Taste und stand unter dem Orgelstücke auf dem fortbrausenden Pedale fest) sich in den entsetzlichsten Mißtönen, wogegen die Enharmonika aller Piccinisten verstummen muß, senkte sich aber desto länger und tiefer in den zufälligen Treffer eines Wohllauts ein. – Ebenso arbeitete sich die saftvolle Seele gleichsam in Laubknöpfen, Holztrieben und Ranken aus und machte Gemälde, Tongebilde, Sonnenuhren und Plane aller Art, und sogar in den juristischen Felsen des Pflegevaters, z.B. in Fabris Staatskanzlei, trieb sie, wie oft Kräuter in Herbarien, ihre durstigen Wurzeln herum und über die dürren Blätter hinaus. O wie schmachtete er (so wie in der Kindheit von Oktav- zu Quart-Büchern, von Quart zu Folio, von Folio bis zu einem Buche so groß wie die Welt – welches eben die Welt ist) jetzt nach geahneten Lehren und Lehrern! – Aber desto bessert Nur der Hunger verdauet, nur die Liebe befruchtet, nur der Seufzer der Sehnsucht ist die belebende aura seminalis für das Orpheus-Ei der Wissenschaften. Das bedenket ihr nicht, ihr Fluglehrer, die ihr Kindern den Trank früher gebt als den Durst, die ihr wie einige Blumisten in den gespaltenen Stengel der Blumen fertige Lackfarben, und in ihren Kelchfremden Bisam legt, anstatt ihnen bloß Morgensonne und Blumenerde zu geben – und die ihr jungen Seelen keine stille Stunden gönnt, sondern um sie unter dem Stäuben ihres blühenden Weins gegen alle Winzer-Regeln mit Behacken, Bedüngen, Beschneiden hantiert. – O könnt ihr ihnen jemals, wenn ihr sie vorzeitig und mit unreifen Organen in das große Reich der Wahrheiten und Schönheiten hineintreibt, gerade so wie wir alle leider mit dunkeln Sinnen in die schöne Natur einkriechen und uns gegen sie abstumpfen, könnt ihr ihnen mit irgend etwas das große Jahr vergüten, das sie erlebet hätten, wenn sie ausgewachsen, wie der erschaffne Adam, mit durstigen offnen Sinnen in dem herrlichen geistigen Universum sich hätten umherdrehen können? – Daher gleichen auch euere Eleven den Fußpfaden so sehr, die im Frühling vor allem grünen, später aber sich gelb und eingetreten durch die blühenden Wiesen ziehen. –

Wehrfritz erneuerte, da er schon auf der Wagentreppe das Gesicht in diesen kehrte, wieder den Befehl der Aufsicht über den jungen Grafen und machte die Signatur, womit Kaufleute kostbare Warenkisten der Post empfehlen, recht dick auf diesem: er liebte das feurige Kind wie seines (er hatte nur eins, aber keinen Sohn); – der Ritter hatte Vertrauen auf ihn, und um dieses zu rechtfertigen, würd' er, da der Ehrenpunkt der Schwerpunkt und die Himmelsachse aller seiner Bewegungen war, sich ohne Bedenken, wenn der Knabe z.B. den Hals gebrochen hätte, seinen abgeschnitten haben; – auch sollte Albano abends vor dem neuen Lehrer aus der Stadt auffallend gut bestehen.

Albine von Wehrfritz, die Gemahlin, versprach alles hoch und teuer; sie konnte sich den Evangelisten Markus und Johannes gleichsetzen, weil ihr heftiger Mann die Gesellschafts-Tiere beider, die Tierkönige Löwe und Adler, öfters repräsentierte, so wie sich manche andere Gattin in Hinsicht ihrer Begleitung mit dem Lukas vergleichen mag und meine mit dem Matthäus21. Sie hatte ohnehin auf abends ein kleines Familienfest voll spielender buntgefärbter Ephemeren der Freude ausgeschrieben; und zum größten Glück war schon vor einigen Tagen das Diplom eingelaufen, das unsern Wehrfritz zum Landschaftsdirektor installierte, und das man als ein Patengeschenk des Geburtstages auf heute aufhob.

Aber kaum fuhr Wehrfritz hinter dem Schloßgarten, so trat Alban mit seinem Projekte hervor und berichtete, er wolle den ganzen Feiertag droben im einsamen Schießhäuslein versitzen; denn er spielte gern allein, und ein elterlicher Gast war ihm lieber als ein Spielknabe. Die Weiber gleichen dem Pater Lodoli, der (nach Lambergs Tagebuche) nichts so mied als das Wörtchen Ja; wenigstens sagen sie es erst nach dem Nein. Die Pflegemutter (ich will aber künftig bei ihr und der Pflegeschwester Rabette das verdrießliche Pflege wegstreichen) sagte ohne Bedenken Nein, ob sie gleich wußte, daß sie noch keines gegen den Trotzkopf durchgesetzt. – Dann entlehnte sie sehr gute Dehortatorien vom Willen des Landschaftsdirektors und hieß ihn bedenken – dann schlug sich die rotbackige gutmeinende Rabette zum Bruder und bat mit, ohne zu wissen warum – dann beteuerte Albine, wenigstens das Essen soll' er nur nicht auf den Berg nachgeliefert erwarten – dann marschierte er zum Hofe hinaus So stand ich schon öfters dabei und sah zu, wie die weiblichen Ellenbogen und Knochen unter dem Wegstemmen allmählich vor meinen Augen Knorpel wurden und sich umbogen. Nur in Wehrfritzens Beisein hatte Albine Kraft zum langen Nein.

 

12. Zykel

 

Unser Held war aus den kindischen Jahren, wo Herkules die Schlangen erdrückte, in die gottestischfähigen getreten, wo er sie erwärmte unter der Weste, um sie in spätern wieder zu köpfen. Jubelnd schlugen draußen – sie flogen nebeneinander – sein neuer und sein alter Adam die Flügel auf unter einem blauen Himmel, der gar keinen Ankergrund hatte. Was kümmerte ihn die Mahlzeit? Alle Kinder tragen vor und unter einer Abreise keinen Magen unter ihren Flügeln, wie auch den Schmetterlingen jener einschrumpft, wenn ihnen diese aufgehen. Die oftgedachte Sennenhütte oder das Schießhäuslein war nichts Geringers als ein Schießhaus mit einer Wachtstube für eine abgedankte Soldatenfrau, mit einem Schießstand im untern Stock und mit einem Sommerstübchen im obern, worin der alte Wehrfritz in jedem Sommer eine Landpartie und ein Vogelschießen haben wollte, es aber nie hatte, weil der arme Mann sich in der Arbeitsstube, wie andere im Tafelzimmer, entmastete und abtakelte. Denn obgleich der Staat seine Diener wie Hunde zum zehntenmal wieder herlockt, um sie bloß zum eilften wieder abzuprügeln; und ob Wehrfritz gleich an jedem Landtage alle Staatsgeschäfte und Verdienste verschwur – weil ein redlicher Mann wie er am Staatskörper überall so viel wie an denen antiken Statuen zu ergänzen findet, wovon nur noch die steinerne Draperie geblieben –: so kannt' er doch kein weicheres Faul- und Lotterbette zum Ausruhen als eine noch höhere Ruderbank, und er strebte jetzt vor allen Dingen, Landschaftsdirektor zu werden.

Die deutschen Höfe werden das Ihrige dabei denken, daß ich ihnen die folgende Knaben-Idylle anbiete. Mein schwarzäugiger Schäfer lief gegen die Bergfestung der Senne Sturm und erhielt von der Soldatenfrau die Torschlüssel zum weißgrünen Sommerkabinett. Beim Himmel! als alle östliche und westliche Fensterladen und Fenster aufgestoßen waren und der Wind von Osten blätternd durch die Akten und kühlend durch den Stuben- Schwaden strich – und als außen Himmel und Erde um die Fenster herumstanden und nickend hereinsahen – als Albano unter dem Fenster nach Osten das tiefe breite Tal mit dem steinigen springenden Bache beschauete, auf welchem alle Glimmerscheiben, die die Sonne wie Steinchen schief anwarf, auf der Bergseite hinausfuhren – als er vor dem westlichen Fenster hinter Hügeln und Wäldchen den Schwibbogen des Himmels, den Berg vor der Lindenstadt sah, der wie ein krummgeworfner Riese auf der Erde schlief – als er sich von einem Fenster zum andern setzte und sagte: »Das ist sehr prächtig!«: so wurden seine Lustbarkeiten im Stübchen am Ende so glänzend, daß er hinausging, um sie draußen noch höher zu treiben.

Die Göttin des Friedens schien hier ihre Kirche und ihre Kirchstühle zu haben. – Die rüstige Soldatenfrau legte in einem hochstaudigen Gärtlein Früherbsen und warf zuweilen einen Erdenkloß in den Kirschbaum unter die geflügelten Obstdiebe, und begoß wieder unverdrossen die neue Leinwand und den verpflanzten Salat, und lief doch willig zum kleinen zehnjährigen Mädchen, das, von Blattern erblindet, auf der Türschwelle strickte und nur bei gefallnen Maschen sie als Maschinengöttin berief. Albano stellte sich an den äußersten Balkon des sich lieblich-aufschließenden Tals, und jeder Windstoß blies in seinem Herzen die alte kindische Sehnsucht an, daß er möchte fliegen können. Ach, welche Wonne, so sich aufzureißen von dem zurückziehenden Erdenfußblock und sich frei und getragen in den weiten Äther zu werfen – und so im kühlen durchwehenden Luftbade auf- und niederplätschernd, mitten am Tage in die dämmernde Wolke zu fliegen und ungesehen neben der Lerche, die unter ihr schmettert, zu schweben – oder dem Adler nachzurauschen und im Fliegen Städte nur wie figurierte Stufensammlungen, und lange Ströme nur wie graue, zwischen ein Paar Länder gezogne schlaffe Seile, und Wiesen und Hügel nur in kleine Farbenkörner und gefärbte Schatten eingekrochen zu sehen – und endlich auf eine Turmspitze herabzufallen und sich der brennenden Abendsonne gegenüberzustellen und dann aufzufliegen, wenn sie versunken ist, und noch einmal zu ihrem in der Gruft der Nacht hell und offen fortblickenden Auge niederzuschauen und endlich, wenn sich der Erdball darüberwirft, trunken in den Waldbrand aller roten Wolken hineinzuflattern! ...

Woher kommt es, daß diese körperlichen Flügel uns wie geistige heben? Woher hatte unser Albano diese unbezwingliche Sehnsucht nach Höhen, nach dem Weberschiffe des Schieferdeckers, nach Bergspitzen, nach dem Luftschiffe, gleichsam als wären diese die Bettaufhelfer vom tiefen Erdenlager? Ach du lieber Betrogener! Deine noch von der Puppenhaut bedeckte Seele vermengt noch den Umkreis des Auges mit dem Umkreise des Herzens und die äußere Erhebung mit der innern und steigt im physischen Himmel dem idealistischen nach! – Denn dieselbe Kraft, die vor großen Gedanken unser Haupt und unsern Körper erhebt und die Brusthöhle erweitert, richtet auch schon mit der dunkeln Sehnsucht nach Größe den Körper auf, und die Puppe schwillt von den Schwingen der Psyche, ja an demselben Bande, woran die Seele den Leib aufzieht, muß ja auch dieser jene heben können.

Wenigstens flog Albano zu Fuß den Berg hinab, um mit dem Bache fortzuwaten, der in die weißgrüne Birken-Holzung, sich abzukühlen, floß. Schon öfters hatt' ihn seine Robinsonaden-Sucht nach allen Strichen und Blättern der Windrose fortgeweht; und er ging gern mit einer unbekannten Straße ein hübsches Stück Weg, um zu sehen, welchen sie selber einschlage. Er lief am silbernen Ariadnens-Faden des Baches tief ins grüne Labyrinth und wollte durchaus unter die Hintertüre des langen Dickichts vor eine weite Perspektive gelangen – er gelangte nicht darunter – die Birken wurden bald lichter, bald düsterer, der Bach breiter – die Lerchen schienen draußen in hoher Ferne über ihm zu singen – aber er bestand auf seinem Kopf. Die Extreme hatten für ihn von jeher magnetische Polarität – wie die Mitte nur Indifferenzpunkte –; so war ihm z.B.