außer dem höchsten Stande des Barometers keiner so lieb als der tiefste, und der kürzeste Tag so willkommen als der längste, aber die Tage nach beiden fatal.
Endlich nach dem Fortschritte einiger Stunden in Zeit und Raum hört' er hinter den lichtern Birken und hinter einem stärkern Rauschen als des Baches seinen Namen von zwei weiblichen Stimmen öfters leise und lobend nennen. Jetzt galoppierte er, gleichgültig gegen das Wagen der Lunge und des Lebens, keuchend wieder zurück – sein Name wurde lange darnach wieder um ihn genannt, aber schreiend – seine heimliche Schutzheilige, die Kastellanin der Senne, tat seinetwegen diese Notschüsse unten am Berge.
Er kam hinauf, und die runde Tafel der Erde lag hell und sonderbar-erweichend um sein durstiges Auge. Wahrhaftig die weite Ferne samt der Müdigkeit mußte den Zugvogel hinter dem Sanggitter der Brust an seine fernen Länder und Zeiten erinnern und ihn damit wehmütig machen, als so die mit roten Dächern buntgefleckte Landschaft vor ihm ihre weißen leuchtenden Steine und Teiche wie Licht-Magnete und Sonnensplitter auslegte – als der lange graue Straßendamm nach Lindenstadt, deren Prospekte im Sommerstübchen hingen und wovon zwei Turmspitzen oben aus dem Gebirge keimten, vor ihm die fernen Wanderer hinauftrug in die für ihn geschlossene Stadt – und als ja alles nach Westen flog, die vorbeizischenden Tauben, die über die Saaten wogten, und die Wolkenschatten, die leicht über hohe Gärten wegliefen Ach das jüngste Herz hat die Wogen des ältesten, nur ohne das Senkblei, das ihre Tiefe misset! – – Das gelehrte Deutschland macht sich, merk' ich, seit mehrern Zykeln auf große Fata und Fatalitäten gefaßt, die diesem Sennentage meines Helden die nötige Würde geben; ich, der sie am ersten wissen müßte, weiß gegenwärtig noch von keinen. Aus der Kindheit – ach aus jedem Alter – bleiben unserm Herzen oft Tage unvergänglich, die jedes andere vergessen hätte; so ging dieser nie aus Albanos seinem. Zuweilen wird ein kindlicher Tag auf einmal durch ein helleres Aufblicken des Bewußtseins verewigt; in Kindern, zumal solchen, wie Zesara ist, dreht sich das geistige Auge weit früher und schärfer nach der Welt innerhalb der Brust, als sie zeigen und wir denken.
Jetzt schlugs ein Uhr im Schloßturme. Der geliebte nahe Ton, der ihn an seine nahe Pflegemutter – und an das versagte Essen erinnerte – und der Anblick der kleinen Blinden, die schon ihren Holzzweig vom Brotbaum oder ihr dürres Renntiermoos in Händen hatte – und der Gedanke, daß doch heute der Geburtstag des Pflegevaters sei – und die unsägliche Liebe für seine gekränkte Mutter, der er oft plötzlich einsam an den Hals fiel – und sein von der Natur betauetes Herz machten, daß er zu weinen anfing. Aber der Trotzkopf ging darum nicht nach Hause; nur die Älplerin war ungeheißen fortgelaufen, um der suchenden Mutter den Flüchtling zu verraten.
Er wollte in dieser Mittagsstille der kleinen blinden Lea, auf deren Gesicht ein sanftes weiches Zugwerk durch die Punktation der Blattern leserlich durchlief, einige Worte oder doch den langen Stecken, womit sie die Tauben von den Erbsen und die Spatzen von den Kirschen treiben mußte, mitarbeitend abgewinnen; aber sie drückte schweigend den Arm fest auf die Augen, blöde vor dem vornehmen jungen Herrn. Endlich brachte die Frau das Gericht für den verlornen Sohn und von Rabetten noch dazu ein Riechfläschchen voll Dessert-Wein.
Albine von Wehrfritz gehörte unter die Weiber, die, ungleich den Staaten, nur ihr Versprechen halten, aber keine Drohung die den nürnbergischen Forstämtern gleichen, welche auf den kleinsten Waldfrevel eine Strafe von 100 Fl. setzen und in derselben Stunde sie auf 100 Kreuzer moderieren22 – die aber ihre Gesetze, wie Solon seine auf 100 Jahre, nach Verhältnis ihres kleinern Staats doch auf 100 Sekunden hinaus geben.
13. Zykel
Ich würde mehr aus Albanos Gedächtnismahl machen, das er wie ein Erwachsener im Stübchen tranchieren und mit seiner Hausgenossenschaft teilen und wozu er sich selber einschenken konnte, ging' ich nicht wichtigern Begebnissen entgegen, die während dem Zurücktragen des Tafelgeschirres vorfielen. Albano ging hinaus, indem das ganze Meer seines Innern vom Wein und vom Vormittage phosphoreszierend leuchtete, und der blaue Himmel flatterte heftiger wehend um ihn – er hatte das Gefühl, als sei der Morgen schon seit langem vorüber, und er erinnerte sich desselben mit weicher Regung, wie wir uns alle in der Jugend der Kindheit, im Alter der Jugend, sogar abends des Morgens –, und die Bilder der Natur rückten näher heran und bewegten ihre Augen wie katholische. So bringt uns die Gegenwart nur Bilder zu optischen Anamorphosen, und erst unser Geist ist der erhabne Spiegel, der sie in schöne Menschen-Formen umstellet. Mit welchem süßen Untertauchen in Träume tat er, wenn er dem östlichen Wehen entgegenging, die Augen zu und zog das Getöse der Landschaft, das Schreien der Hähne und Vögel und eine Hirtenflöte gleichsam tiefer in die verschattete Seele hinein! Und wenn er dann am Gestade des Berges die Augen wieder öffnete, so lagen friedlich drunten im Tale die geweideten weißen Lämmer neben dem Flötenisten, und oben am Himmel lagerten sich die glänzenden Lämmerwolken über sie hin!
Inzwischen mocht' ers einmal versehen und blind zu weit in das Gärtchen – die Blinde sah ohnehin nicht – tappen, die Arme offen voraushaltend, um sich nichts auszustoßen; – als an seiner Brust eine zweite anlag, und er aufsehend das bebende Mädchen so nahe an sich fand, das seitwärts abgebogen stammelte: »Ach nein, ach nein!« – »Ich bins nur,« (sagte der Unschuldige, sie fassend) »ich tue dir ja nichts« – Und er hielt sie, als sie demütigfurchtsam vertrauete, noch ein wenig fest und schauete auf den gebückten Kopf mit süßer Regung nieder.
Herzlich gern hätt' er der Erschreckten Schmerzengelder und Benefiziate in dieser Komödie für die Armen gegeben; er hatt' aber nichts bei sich, bis ihm zum Glück seine Schwester Rabette – von welcher Bandagistin er irrig schloß, daß mehrere Mädchen des Teufels auf Bänder sind und sie wie Taschenspieler verschlingen, aber nicht wiedergeben – und sein neues Zopfband einfiel. Er spulte freudig das lange seidne Wickelband von seinem Kopf an ihren. Aber die liebliche Nachbarschaft, das Flechtwerk eines feinern innern Bandes, und die Süßigkeit zu geben und das Vivace seines angebornen Übermaßes machten, daß er ihr gern das Dresdner grüne Gewölbe in die Schürze gegossen hätte; als ein Schnurrjude mit seinem kleinern seidnen auf dem Magen und mit einem Sack voll eingekaufter Haare auf dem Rücken die Pestitzer Straße hinzog. Der Jude ließ sich wohl herrufen, aber nichts ableihen, trotz allen ausgestellten Wechseln auf Eltern und Taschengelder. Ach ein herrliches rotes Haubenband hätte Leas blinden Augen so gut wie eine rote Aderlaßbinde der Wunde getan! Denn eine blinde Frau putzet sich so gern als eine sehende, sie müßte denn eitel sein und mehr sich im Spiegel gefallen wollen als andern außer demselben. Der Handelsmann ließ gern das Band von ihr befühlen und sagte, er handle auf den Dörfern Haare ein, und gestern hätten ihm die Wirtskinder durch einen brennenden Schwamm seinen ganzen Sack voll Chignons in kurze Wolle verkrümelt, und wenn ihm die junge Herrschaft ihr braunes Haar bis an das Genicke ablassen wolle, so solle sie das Band und einen noch sehr brauchbaren ledernen Zopf aus der würzburgischen Fabrik auf der Stelle dazu haben. – Was war zu tun? Das Band war sehr rot – Lea wars vor Hoffnungen – der Jude sagte, er packe ein – der Haarzopf lief ohnehin bisher wie ein zweites Rückgrat über das ganze erste hinab und wurde für Alban durch das langweilige Einwindeln an jedem Morgen ein Sperrstrick und eine Trense seines Feuers – – Kurz der arme Rupfhase trat dem Juden die königlich-fränkische Insignie ab und schnallte die würzburgische Scheide an.
Und nun schüttelte er ihre Hand recht derb auf und ab und sagte mit einem ganzen Paradies voll liebender Freudigkeit auf dem Gesicht: »Das Band ist dir wohl recht lieb, du armes blindes Ding!« Jetzt bestieg der unaufhörliche Mäzen gar den Kirschbaum, um droben für Lea als ein lebendiger Popanz den Spatzen die Kirschen zu verleiden und ihr als ein Fruchtgott mehrere Paternoster- und Fruchtschnüre von letztern herunterzuwerfen.
Beim Himmel! droben unter den Herzkirschen schienen ordentliche Wolfskirschen auf den Kopf des Knaben zu wirken; wie die Erde ihre finstern Mittelalter hatte, so haben oft Kinder finstere Mitteltage voll lauter Kapuzinaden und Gickse. Auf den hohen Ästen schimmerten ihn die wachsende Landschaft und die auf die Berge niederfallende Sonne und besonders die Pestitzer Turmspitzen so himmlisch an, daß er sich jetzt nicht Höheres denken konnte als die – Vogelstange neben ihm und keinen glücklicher-thronenden Kron-Adler als einen auf der Stange....
Aber nun bitt' ich sämtliche Leserinnen, entweder in das Schießhaus einzutreten oder sich mit der Soldatenfrau daraus die fortläuft und den Frevel der gnädigen Frau anzeigt – mit wegzumachen, weil wenige von ihnen es neben mir aushalten, daß unser Held, der Stammhalter des Titans, von einigen Pachters-Knechten – denen noch dazu Albine das Remarsch-Reglement seines eiligern Kommens mitgegeben – auf ein Querholz, das unterhalb des Hakens der Vogelstange eingefuget ist, festgesetzet und, mit dem Unterleibe an diese angebunden und so in der Luft waagrecht liegend, allmählich durch den weiten Bogen aufgehoben und mitten im luftigen Himmel aufgestellet wird. Es ist arg; aber die Knechte konnten den Bitten seiner mächtigen Augen, seinem malerischen Willen und Mute und den angebotnen Rekompensen und Krönungsmünzen unmöglich widerstehen, und dabei wog er ja nur halb so viel wie der letzte Vogel.
Ich bin dir doch gut, Kleiner, trotz deinem starren, zwischen Kopf und Herz gebauten Wagehals! Deine monströsen Barock-Perlen von Kräften wird die Zeit, wie im grünen Gewölbe Künstler physische Perlen, schon noch zum Bau einer schönen Figur verbrauchen!
Die Reichsgeschichte unsers Reichsadlers auf seinem Stativ, die sich zugleich über die Ereignisse ausbreitet, welche auf dem Berge vorfielen, als der Schachtelmagister und der Landschaftsdirektor zufällig zur besetzten Vogelstange kamen, soll ungesäumt gegeben werden, wenn wir den 14ten Zykel haben.
14. Zykel
Der Magister Wehmeier, der sich von weitem die Gestalt und das Bewegen des Vogels nicht erklären konnte, hatte sich heraufgemacht und sah nun zur Kreuzeserhöhung des Zöglings hinauf. Er stürzte anfangs ins Plongierbad des Eis-Schauders über die Kühnheit, aber er stieg bald aus ihm heraus unter das Tropfbad des Angstschweißes, den an ihm der Gedanke ansetzte, in jeder Minute falle der Eleve herab und zerschelle in 26 Trümmer, wie Osiris, oder in 30, wie die mediceische Venus: »Und das jetzt,« (dacht' er hinzu) »da ich den jungen Satan in Sprachen soweit gebracht und einige Ehre an ihm erlebte.« Daher filzte er nur die Hebemaschinisten, aber nicht den Hochwächter aus, weil zu besorgen war, unter dem Verantworten rutsch' er droben aus. Den optischen Wagen, mit welchen der Teufel den im Angstkreise befestigten Magister zu überrennen drohte, kam endlich ein wahrer nachgefahren, worin der künftige – Landschaftsdirektor saß. Ach lieber Gott! – Der Direktor schöpfte ohnehin allezeit beim Minister die ganze Gallenblase voll bitterer Extrakte ein, bloß weil er dort artigere und stillere Kinder vorfand, ohne doch zu bedenken – wie hundert Väter, die hier mit angefahren werden müssen –, daß Kinder wie ihre Eltern sich Fremden besser präsentieren, als sie sind, und daß ihnen überhaupt das Stadtleben statt der höckerigen dicken Borke des Dorflebens die glatte weiße Birken-Folie überlege, indes sie am Ende, wie ihre Eltern und Hofleute, nur gleich Kastanien an der Außenschale abgeschliffen, innen aber verdammt borstig anzufühlen sind. So gewiß werden den feinsten Mann vom Lande immer wenigstens Prinzen und Minister überlisten, die zehn Jahr alt sind, – gesetzt auch, er nehm' es leichter mit ihren Vätern auf.
Als Wehrfritz seinen Pflegesohn auf dem Schreckhorne horsten sah und den Schachtelmagister unten, der hinaufschauete: so bildete er sich ein, der Instruktor hab' es veranstaltet, und fing laut an, ihm aus dem zugesperrten Wagen einen kleinen Himmel voll Donnerwetter und Donnerschläge auf den Hals zu fluchen. Der verfolgte Wehmeier fing auf dem Berge auch an, laut zum Schreckhorne hinaufzuzanken, um dem Direktor darzutun, daß er seines Amtes warte und mit dem Hammer des Gesetzes als mit einem bildenden Tiefhammer so gut wie einer am Zögling schmiede. Die Soldatenfrau rang die Hände – die Knechte stellten sich zur Kreuzesabnehmung an – der arme glühende Kleine zog sein Messer und rief herab: »er schneide sich gleich los und werfe sich hinab, sobald einer jetzt die Stange niederlasse.« Er hätt' es auch getan – und sein Leben und meinen Titan frühzeitig ausgemacht –, bloß weil er die Schande der väterlichen Real- und Verbal-Injurien vor so vielen Leuten – ja im Wagen saß gar ein fremder Herr – ärger noch als Selbstmord und Hölle floh. Allein der Direktor, selber voll Tollkühnheit und doch voll Haß derselben am Kinde, ließ es darauf ankommen und rief entsetzlich nach dem Bedienten, der den Schlüssel zur Wagentüre hatte; er wollte heraus und hinauf. Er war unbeschreiblich erboset, erstlich, weil er hinten dem Wagen einen Österleinschen Flügel als Angebinde des heutigen Freudentages aufgebunden – ach Albano, warum hören deine Freuden wie die Schleifer eines Bierfiedlers mit einem Mißtone auf? –, und zweitens, weil er drinnen einen Sing-, Tanz-, Musik-und Fecht-Meister aus dem polierten glänzenden Ministers-Hause für Albano neben sich auf dem Polster als Zuschauer der Debutrolle sitzen hatte.
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