Sie sehen, unter welchen Kreaturen ich hier lebe. Ich habe unter diesen Kreaturen nie die Beschimpfungen mehr gehört, die während meiner ganzen Kindheit meiner Mutter zuteil wurden und um die sie sich täglich mit neuen Unwürdigkeiten bewarb. Aber das sind Kleinigkeiten, Die Ohrfeigen, Faustschläge und Fußtritte, in denen Vater, Mutter und ein Dutzend Lehrer zur Entwürdigung meines wehrlosen Körpers wetteiferten, waren Kleinigkeiten im Vergleich mit den Ohrfeigen, Faustschlägen und Fußtritten, in denen die Schicksale dieses Lebens miteinander wetteiferten, um meine wehrlose Seele zu entwürdigen.
ELFRIEDE küßt ihn. Wenn du ahnen könntest, wie innig ich dich um dieser furchtbaren Erlebnisse willen liebe!
CASTI PIANI. Das menschliche Leben ist zehnfacher Tod vor dem Tode! Nicht nur für mich. Für Sie! Für alles, was Atem holt! Für den einfachen Menschen besteht das Leben aus Schmerzen, Leiden und Qualen, die sein Körper erduldet. Und ringt sich der Mensch zu höherem Sein empor, in der Hoffnung, den Qualen des Körpers zu entrinnen, dann besteht das Leben für ihn aus Schmerzen, Leiden und Qualen, die seine Seele erduldet, und gegen die die Qualen des Körpers Wohltaten waren. Wie grauenvoll dieses Leben ist, das zeigt sich schon darin, daß sich die Menschen ein Wesen ausdenken mußten, das aus nichts als Güte, aus nichts als Liebe, aus nichts als Wohltat besteht, und daß die ganze Menschheit, nur um das Leben ertragen zu können, täglich, stündlich zu diesem Wesen beten muß!
ELFRIEDE ihn liebkosend. Wenn du mich heiratest, dann haben körperliche Qualen und Seelenqualen ein Ende! Du brauchst dich mit all diesen entsetzlichen Fragen nicht mehr zu beschäftigen. Meine Mama hat ein Privatvermögen von sechzigtausend Mark, von dem trotz ihrer fünfundzwanzigjährigen, glücklichen Ehe Papa sich bis heute noch gar nichts träumen läßt. Lockt dich die Aussicht nicht, daß du, wenn du mich heiratest, plötzlich sechzigtausend Mark bar zur Verfügung hast?
CASTI PIANI sie zurückdrängend, nervös. Sie verstehen sich nicht auf Liebkosungen, mein Fräulein! Sie benehmen sich wie der Esel, der den Schoßhund spielen will. Ihre Hände tun mir weh! Das kommt nicht etwa daher, daß sie nichts gelernt haben. Das kommt, weil sie dem geknechteten Liebesleben der bürgerlichen Gesellschaft entstammen! Sie haben keine Rasse im Leib. Es fehlt das nötige Zartgefühl! Das Zartgefühl und das Schamgefühl! Es fehlt Ihnen das Gefühl für die Wirkung Ihrer Liebkosungen; ein Gefühl, das jedes Rassegeschöpf schon als kleines Kind mit auf die Welt bringt!
ELFRIEDE empört aufspringend. Und das wagen Sie mir in diesem Hause zu sagen?!
CASTI PIANI hat sich gleichfalls erhoben. Das wage ich Ihnen in diesem Hause zu sagen!
ELFRIEDE. In diesem Hause?! Daß es mir an dem nötigen Zartgefühl, an dem nötigen Schamgefühl fehlt?!
GAST I PIANI. Daß es Ihnen an dem nötigen Zartgefühl und Schamgefühl fehlt! In diesem verrufenen Hause sage ich Ihnen das! – Überzeugen Sie sich doch einmal davon, mit welch feinem Takt diese Geschöpfe ihrem verrufenen Handwerk obliegen! Das letzte Mädchen in diesem Haus kennt die menschliche Seele genauer als der berühmteste Psychologieprofessor an der berühmtesten Universität. Sie, mein Fräulein, würden hier allerdings die gleichen Enttäuschungen erfahren, die Ihnen Ihre Vergangenheit bereitet hat. Die Frau, die für den Liebesmarkt geschaffen ist, erkenne ich auf den ersten Blick daran, daß ihre freien, regelmäßigen Gesichtszüge unschuldige Glückseligkeit und glückselige Unschuld ausstrahlen. Elfriede musternd. In Ihren Gesichtszügen, mein verehrtes Fräulein, ist weder irgend etwas von Glückseligkeit noch irgend etwas von Unschuld zu lesen.
ELFRIEDE zögernd. Glauben Sie denn nicht, Herr Baron, daß ich bei meinem eisernen Fleiß, bei meiner Energie, bei meiner unüberwindlichen Begeisterung für alles Schöne das Zartgefühl und den feinen Takt, von dem Sie sprechen, noch lernen könnte?
CASTI PIANI. Nein, nein, mein Fräulein! Bitte nein! Schlagen Sie sich diese Gedanken nur gleich aus dem Kopf!
ELFRIEDE. Ich bin von der sittlichen Bedeutung alles dessen, was Sie sagen, so tief überzeugt, daß mir das größte Opfer, durch das ich meine kleinbürgerliche Hilflosigkeit überwinden könnte, nicht zu groß wäre!
CASTI PIANI. Nein, nein, dafür bin ich nicht zu haben! Das würde grauenvoll! Das Leben ist grauenvoll genug! Nein, mein Fräulein! Lassen Sie Ihre fürchterliche Hand von dem einzigen göttlichen Lichtstrahl, der die schauerliche Nacht unseres martervollen Erdendaseins durchdringt! Wofür lebe ich denn! Wofür betätige ich mich in unserer Zivilisation! Nein, nein! Die einzige reine Himmelsblume in dem von Schweiß und Blut besudelten Dornendickicht des Lebens soll nicht von plumpen Fußtritten zerstampft werden! Glauben Sie mir bitte, daß ich mir schon vor einem halben Jahrhundert eine Kugel durch den Kopf gejagt hätte, wenn nicht über dem zum Himmel emporgellenden Jammergeheul aus Geburtswehen, Daseinsschmerzen und Todesqualen dieser eine klare Stern leuchtete!
ELFRIEDE. Die äußerste geistige Anstrengung ermöglicht mir nicht, den Sinn Ihrer Worte zu erraten! Was ist der Lichtstrahl, der die Nacht unseres Daseins durchdringt? Was ist die einzige reine Himmelsblume, die nicht zu Schmutz zerstampft werden soll?
CASTI PIANI Elfriede bei der Hand nehmend, geheimnisvoll flüsternd. Das ist der Sinnengenuß, mein gnädiges Fräulein! Der sonnige, lachende Sinnengenuß! Der Sinnengenuß ist der Lichtstrahl, die Himmelsblume, weil er das einzige ungetrübte Glück, die einzige reine, lautere Freude ist, die das Erden dasein uns bietet. Glauben Sie mir, daß mich seit einem halben Jahrhundert nichts mehr in dieser Welt zurückhält, als die selbstlose Anbetung dieses einzigen aus voller Kehle auflachenden Glückes, das im Sinnengenuß de n Menschen für alle Qualen des Daseins entschädigt!
ELFRIEDE. Ich glaube, da kommt jemand.
CASTI PIANI.
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