"Sie ist wirklich schon aus."

Luise. "Die Entwicklung haben wir freilich gehört; nun möchten wir aber auch gerne das Ende vernehmen."

Der Alte. "Sie unterscheiden richtig, und da Sie sich für das Schicksal meines Freundes interessieren, so will ich Ihnen, wie es ihm ergangen, noch kürzlich erzählen.

Befreit von der drückenden Last eines so häßlichen Vergehens, nicht ohne bescheidne Zufriedenheit mit sich selbst dachte er nun an sein künftiges Glück und erwartete sehnsuchtsvoll die Rückkunft Ottiliens, um sich zu erklären und sein gegebenes Wort im ganzen Umfange zu erfüllen. Sie kam in Gesellschaft ihrer Eltern; er eilte zu ihr, er fand sie schöner und heiterer als jemals. Mit Ungeduld erwartete er den Augenblick, in welchem er sie allein sprechen und ihr seine Aussichten vorlegen könnte. Die Stunde kam, und mit aller Freude und Zärtlichkeit der Liebe erzählte er ihr seine Hoffnungen, die Nähe seines Glücks und den Wunsch, es mit ihr zu teilen. Allein wie verwundert war er, ja wie bestürzt, als sie die ganze Sache sehr leichtsinnig, ja, man dürfte beinahe sagen, höhnisch aufnahm. Sie scherzte nicht ganz fein über die Einsiedelei, die er sich ausgesucht habe, über die Figur, die sie beide spielen würden, wenn sie sich als Schäfer und Schäferin unter ein Strohdach flüchteten, und was dergleichen mehr war.

Betroffen und erbittert kehrte er in sich zurück; ihr Betragen hatte ihn verdrossen, und er ward einen Augenblick kalt. Sie war ungerecht gegen ihn gewesen, und nun bemerkte er Fehler an ihr, die ihm sonst verborgen geblieben waren. Auch brauchte es kein sehr helles Auge, um zu sehen, daß ein sogenannter Vetter, der mitangekommen war, ihre Aufmerksamkeit auf sich zog und einen großen Teil ihrer Neigung gewonnen hatte.

Bei dem unleidlichen Schmerz, den Ferdinand empfand, nahm er sich doch bald zusammen, und die überwindung, die ihm schon einmal gelungen war, schien ihm zum zweitenmale möglich. Er sah Ottilien oft und gewann über sich, sie zu beobachten; er tat freundlich, ja zärtlich gegen sie und sie nicht weniger gegen ihn; allein ihre Reize hatten ihre größte Macht verloren, und er fühlte bald, daß selten bei ihr etwas aus dem Herzen kam, daß sie vielmehr nach Belieben zärtlich und kalt, reizend und abstoßend, angenehm und launisch sein konnte. Sein Gemüt machte sich nach und nach von ihr los, und er entschloß sich, auch noch die letzten Fäden entzweizureißen.

Diese Operation war schmerzhafter, als er sich vorgestellt hatte. Er fand sie eines Tages allein und nahm sich ein Herz, sie an ihr gegebenes Wort zu erinnern und jene Augenblicke ihr ins Gedächtnis zurückzurufen, in denen sie beide, durch das zarteste Gefühl gedrungen, eine Abrede auf ihr künftiges Leben genommen hatten. Sie war freundlich, ja man kann fast sagen, zärtlich; er ward weicher und wünschte in diesem Augenblicke, daß alles anders sein möchte, als er es sich vorgestellt hatte. Doch nahm er sich zusammen und trug ihr die Geschichte seines bevorstehenden Etablissements mit Ruhe und Liebe vor. Sie schien sich darüber zu freuen und gewissermaßen nur zu bedauern, daß dadurch ihre Verbindung weiter hinausgeschoben werde. Sie gab zu erkennen, daß sie nicht die mindeste Lust habe, die Stadt zu verlassen; sie ließ ihre Hoffnung sehen, daß er sich durch einige Jahre Arbeit in jenen Gegenden in den Stand setzen könnte, auch unter seinen jetzigen Mitbürgern eine große Figur zu spielen. Sie ließ ihn nicht undeutlich merken, daß sie von ihm erwarte, daß er künftig noch weiter als sein Vater gehen und sich in allem noch ansehnlicher und rechtlicher zeigen werde.

Nur zu sehr fühlte Ferdinand, daß er von einer solchen Verbindung kein Glück zu erwarten habe, und doch war es schwer, so vielen Reizen zu entsagen. Ja vielleicht wäre er ganz unschlüssig von ihr weggegangen, hätte ihn nicht der Vetter abgelöst und in seinem Betragen allzuviel Vertraulichkeit gegen Ottilien gezeigt. Ferdinand schrieb ihr darauf einen Brief, worin er ihr nochmals versicherte, daß sie ihn glücklich machen würde, wenn sie ihm zu seiner neuen Bestimmung folgen wollte, daß er aber für beide nicht rätlich hielte, eine entfernte Hoffnung auf künftige Zeiten zu nähren und sich auf eine ungewisse Zukunft durch ein Versprechen zu binden.

Noch auf diesen Brief wünschte er eine günstige Antwort; allein sie kam nicht wie sein Herz, sondern wie sie seine Vernunft billigen mußte. Ottilie gab ihm auf eine sehr zierliche Art sein Wort zurück, ohne sein Herz ganz loszulassen, und eben so sprach das Billet auch von ihren Empfindungen; dem Sinne nach war sie gebunden und ihren Worten nach frei.

Was soll ich nun weiter umständlich sein? Ferdinand eilte in jene friedlichen Gegenden zurück, seine Einrichtung war bald gemacht; er war ordentlich und fleißig und ward es nur um so mehr, als das gute, natürliche Mädchen, die wir schon kennen, ihn als Gattin beglückte und der alte Oheim alles tat, seine häusliche Lage zu sichern und bequem zu machen.

Ich habe ihn in spätern Jahren kennenlernen, umgeben von einer zahlreichen, wohlgebildeten Familie. Er hat mir seine Geschichte selbst erzählt, und wie es Menschen zu gehen pflegt, denen irgend etwas Bedeutendes in früherer Zeit begegnet, so hatte sich auch jene Geschichte so tief bei ihm eingedrückt, daß sie einen großen Einfluß auf sein Leben hatte. Selbst als Mann und Hausvater pflegte er sich manchmal etwas, das ihm Freude würde gemacht haben, zu versagen, um nur nicht aus der übung einer so schönen Tugend zu kommen, und seine ganze Erziehung bestand gewissermaßen darin, daß seine Kinder sich gleichsam aus dem Stegreife etwas mußten versagen können.

Auf eine Weise, die ich im Anfang nicht billigen konnte, untersagte er zum Beispiel einem Knaben bei Tische, von einer beliebten Speise zu essen. Zu meiner Verwunderung blieb der Knabe heiter, und es war, als wenn weiter nichts geschehen wäre.

Und so ließen die ältesten aus eigener Bewegung manchmal ein edles Obst oder sonst einen Leckerbissen vor sich vorbeigehen; dagegen erlaubte er ihnen, ich möchte wohl sagen, alles, und es fehlte nicht an Arten und Unarten in seinem Hause. Er schien über alles gleichgültig zu sein und ließ ihnen eine fast unbändige Freiheit, nur fiel es ihm die Woche einmal ein, daß alles auf die Minute geschehen mußte. Alsdann wurden des Morgens gleich die Uhren reguliert, ein jeder erhielt seine Ordre für den Tag, Geschäfte und Vergnügungen wurden gehäuft, und niemand durfte eine Sekunde fehlen. Ich könnte Sie stundenlang von seinen Gesprächen und Anmerkungen über diese sonderbare Art der Erziehung unterhalten. Er scherzte mit mir als einem katholischen Geistlichen über meine Gelübde und behauptete, daß eigentlich jeder Mensch sowohl sich selbst Enthaltsamkeit als andern Gehorsam geloben sollte, nicht um sie immer, sondern um sie zur rechten Zeit auszuüben."

Der Prokurator

Erzählung aus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten

(1795)

In einer italienischen Seestadt lebte vorzeiten ein Handelsmann, der sich von Jugend auf durch Tätigkeit und Klugheit auszeichnete. Er war dabei ein guter Seemann und hatte große Reichtümer erworben, indem er selbst nach Alexandria zu schiffen, kostbare Waren zu erkaufen oder einzutauschen pflegte, die er alsdann zu Hause wieder abzusetzen oder in die nördlichen Gegenden Europens zu versenden wußte. Sein Vermögen wuchs von Jahr zu Jahr um so mehr, als er in seiner Geschäftigkeit selbst das größte Vergnügen fand und ihm keine Zeit zu kostspieligen Zerstreuungen übrigblieb.

Bis in sein funfzigstes Jahr hatte er sich auf diese Weise emsig fortbeschäftigt und ihm war von den geselligen Vergnügungen wenig bekannt worden, mit welchen ruhige Bürger ihr Leben zu würzen verstehen; ebensowenig hatte das schöne Geschlecht, bei allen Vorzügen seiner Landsmänninnen, seine Aufmerksamkeit weiter erregt, als insofern er ihre Begierde nach Schmuck und Kostbarkeiten sehr wohl kannte und sie gelegentlich zu nutzen wußte.

Wie wenig versah er sich daher auf die Veränderung, die in seinem Gemüte vorgehen sollte, als eines Tages sein reich beladen Schiff in den Hafen seiner Vaterstadt einlief, eben an einem jährlichen Feste, das besonders der Kinder wegen gefeiert wurde. Knaben und Mädchen pflegten nach dem Gottesdienste in allerlei Verkleidungen sich zu zeigen, bald in Prozessionen, bald in Scharen durch die Stadt zu scherzen und sodann im Felde auf einem großen freien Platz allerhand Spiele zu treiben, Kunststücke und Geschicklichkeiten zu zeigen und in artigem Wettstreit ausgesetzte kleine Preise zu gewinnen.

Anfangs wohnte unser Seemann dieser Feier mit Vergnügen bei; als er aber die Lebenslust der Kinder und die Freude der Eltern daran lange betrachtet und so viele Menschen im Genuß einer gegenwärtigen Freude und der angenehmsten aller Hoffnungen gefunden hatte, mußte ihm bei einer Rückkehr auf sich selbst sein einsamer Zustand äußerst auffallen. Sein leeres Haus fing zum erstenmal an, ihm ängstlich zu werden, und er klagte sich selbst in seinen Gedanken an:

"O ich Unglückseliger! warum gehn mir so spät die Augen auf? Warum erkenne ich erst im Alter jene Güter, die allein den Menschen glücklich machen? Soviel Mühe! soviel Gefahren! Was haben sie mir verschafft? Sind gleich meine Gewölbe voll Waren, meine Kisten voll edler Metalle und meine Schränke voll Schmuck und Kleinodien, so können doch diese Güter mein Gemüt weder erheitern noch befriedigen. Je mehr ich sie aufhäufe, desto mehr Gesellen scheinen sie zu verlangen; ein Kleinod fordert das andere, ein Goldstück das andere. Sie erkennen mich nicht für den Hausherrn; sie rufen mir ungestüm zu: "Geh und eile, schaffe noch mehr unsersgleichen herbei! Gold erfreut sich nur des Goldes, das Kleinod des Kleinodes." So gebieten sie mir schon die ganze Zeit meines Lebens, und erst spät fühle ich, daß mir in allem diesem kein Genuß bereitet ist. Leider jetzt, da die Jahre kommen, fange ich an zu denken und sage zu mir: Du genießest diese Schätze nicht, und niemand wird sie nach dir genießen! Hast du jemals eine geliebte Frau damit geschmückt? Hast du eine Tochter damit ausgestattet? Hast du einen Sohn in den Stand gesetzt, sich die Neigung eines guten Mädchens zu gewinnen und zu befestigen? Niemals! Von allen deinen Besitztümern hast du, hat niemand der Deinigen etwas besessen, und was du mühsam zusammengebracht hast, wird nach deinem Tode ein Fremder leichtfertig verprassen.

O wie anders werden heute abend jene glücklichen Eltern ihre Kinder um den Tisch versammeln, ihre Geschicklichkeit preisen und sie zu guten Taten aufmuntern! Welche Lust glänzte aus ihren Augen, und welche Hoffnung schien aus dem Gegenwärtigen zu entspringen! Solltest du denn aber selbst gar keine Hoffnung fassen können? Bist du denn schon ein Greis? Ist es nicht genug, die Versäumnis einzusehen, jetzt, da noch nicht aller Tage Abend gekommen ist? Nein, in deinem Alter ist es noch nicht töricht, ans Freien zu denken, mit deinen Gütern wirst du ein braves Weib erwerben und glücklich machen, und siehst du noch Kinder in deinem Hause, so werden dir diese spätern Früchte den größten Genuß geben, anstatt daß sie oft denen, die sie zu früh vom Himmel erhalten, zur Last werden und zur Verwirrung gereichen."

Als er durch dieses Selbstgespräch seinen Vorsatz bei sich befestigt hatte, rief er zwei Schiffsgesellen zu sich und eröffnete ihnen seine Gedanken.