Er schien über alles
gleichgültig zu sein und ließ ihnen eine fast unbändige Freiheit, nur
fiel es ihm die Woche einmal ein, daß alles auf die Minute geschehen
mußte. Alsdann wurden des Morgens gleich die Uhren reguliert, ein
jeder erhielt seine Ordre für den Tag, Geschäfte und Vergnügungen
wurden gehäuft, und niemand durfte eine Sekunde fehlen. Ich könnte
Sie stundenlang von seinen Gesprächen und Anmerkungen über diese
sonderbare Art der Erziehung unterhalten. Er scherzte mit mir als
einem katholischen Geistlichen über meine Gelübde und behauptete, daß
eigentlich jeder Mensch sowohl sich selbst Enthaltsamkeit als andern
Gehorsam geloben sollte, nicht um sie immer, sondern um sie zur
rechten Zeit auszuüben."
Der Prokurator
Erzählung aus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
(1795)
In einer italienischen Seestadt lebte vorzeiten ein Handelsmann, der
sich von Jugend auf durch Tätigkeit und Klugheit auszeichnete. Er war
dabei ein guter Seemann und hatte große Reichtümer erworben, indem er
selbst nach Alexandria zu schiffen, kostbare Waren zu erkaufen oder
einzutauschen pflegte, die er alsdann zu Hause wieder abzusetzen oder
in die nördlichen Gegenden Europens zu versenden wußte. Sein Vermögen
wuchs von Jahr zu Jahr um so mehr, als er in seiner Geschäftigkeit
selbst das größte Vergnügen fand und ihm keine Zeit zu kostspieligen
Zerstreuungen übrigblieb.
Bis in sein funfzigstes Jahr hatte er sich auf diese Weise emsig
fortbeschäftigt und ihm war von den geselligen Vergnügungen wenig
bekannt worden, mit welchen ruhige Bürger ihr Leben zu würzen
verstehen; ebensowenig hatte das schöne Geschlecht, bei allen Vorzügen
seiner Landsmänninnen, seine Aufmerksamkeit weiter erregt, als
insofern er ihre Begierde nach Schmuck und Kostbarkeiten sehr wohl
kannte und sie gelegentlich zu nutzen wußte.
Wie wenig versah er sich daher auf die Veränderung, die in seinem
Gemüte vorgehen sollte, als eines Tages sein reich beladen Schiff in
den Hafen seiner Vaterstadt einlief, eben an einem jährlichen Feste,
das besonders der Kinder wegen gefeiert wurde. Knaben und Mädchen
pflegten nach dem Gottesdienste in allerlei Verkleidungen sich zu
zeigen, bald in Prozessionen, bald in Scharen durch die Stadt zu
scherzen und sodann im Felde auf einem großen freien Platz allerhand
Spiele zu treiben, Kunststücke und Geschicklichkeiten zu zeigen und in
artigem Wettstreit ausgesetzte kleine Preise zu gewinnen.
Anfangs wohnte unser Seemann dieser Feier mit Vergnügen bei; als er
aber die Lebenslust der Kinder und die Freude der Eltern daran lange
betrachtet und so viele Menschen im Genuß einer gegenwärtigen Freude
und der angenehmsten aller Hoffnungen gefunden hatte, mußte ihm bei
einer Rückkehr auf sich selbst sein einsamer Zustand äußerst auffallen.
Sein leeres Haus fing zum erstenmal an, ihm ängstlich zu werden, und
er klagte sich selbst in seinen Gedanken an:
"O ich Unglückseliger! warum gehn mir so spät die Augen auf? Warum
erkenne ich erst im Alter jene Güter, die allein den Menschen
glücklich machen? Soviel Mühe! soviel Gefahren! Was haben sie mir
verschafft? Sind gleich meine Gewölbe voll Waren, meine Kisten voll
edler Metalle und meine Schränke voll Schmuck und Kleinodien, so
können doch diese Güter mein Gemüt weder erheitern noch befriedigen.
Je mehr ich sie aufhäufe, desto mehr Gesellen scheinen sie zu
verlangen; ein Kleinod fordert das andere, ein Goldstück das andere.
Sie erkennen mich nicht für den Hausherrn; sie rufen mir ungestüm zu:
"Geh und eile, schaffe noch mehr unsersgleichen herbei! Gold erfreut
sich nur des Goldes, das Kleinod des Kleinodes." So gebieten sie mir
schon die ganze Zeit meines Lebens, und erst spät fühle ich, daß mir
in allem diesem kein Genuß bereitet ist. Leider jetzt, da die Jahre
kommen, fange ich an zu denken und sage zu mir: Du genießest diese
Schätze nicht, und niemand wird sie nach dir genießen! Hast du jemals
eine geliebte Frau damit geschmückt? Hast du eine Tochter damit
ausgestattet? Hast du einen Sohn in den Stand gesetzt, sich die
Neigung eines guten Mädchens zu gewinnen und zu befestigen? Niemals!
Von allen deinen Besitztümern hast du, hat niemand der Deinigen etwas
besessen, und was du mühsam zusammengebracht hast, wird nach deinem
Tode ein Fremder leichtfertig verprassen.
O wie anders werden heute abend jene glücklichen Eltern ihre Kinder um
den Tisch versammeln, ihre Geschicklichkeit preisen und sie zu guten
Taten aufmuntern! Welche Lust glänzte aus ihren Augen, und welche
Hoffnung schien aus dem Gegenwärtigen zu entspringen! Solltest du
denn aber selbst gar keine Hoffnung fassen können? Bist du denn schon
ein Greis? Ist es nicht genug, die Versäumnis einzusehen, jetzt, da
noch nicht aller Tage Abend gekommen ist? Nein, in deinem Alter ist
es noch nicht töricht, ans Freien zu denken, mit deinen Gütern wirst
du ein braves Weib erwerben und glücklich machen, und siehst du noch
Kinder in deinem Hause, so werden dir diese spätern Früchte den
größten Genuß geben, anstatt daß sie oft denen, die sie zu früh vom
Himmel erhalten, zur Last werden und zur Verwirrung gereichen."
Als er durch dieses Selbstgespräch seinen Vorsatz bei sich befestigt
hatte, rief er zwei Schiffsgesellen zu sich und eröffnete ihnen seine
Gedanken. Sie, die gewohnt waren, in allen Fällen willig und bereit
zu sein, fehlten auch diesmal nicht und eilten, sich in der Stadt nach
den jüngsten und schönsten Mädchen zu erkundigen; denn ihr Patron, da
er einmal nach dieser Ware lüstern ward, sollte auch die beste finden
und besitzen.
Er selbst feierte so wenig als seine Abgesandten. Er ging, fragte,
sah und hörte und fand bald, was er suchte, in einem Frauenzimmer, das
in diesem Augenblick das schönste der ganzen Stadt genannt zu werden
verdiente, ungefähr sechzehn Jahre alt, wohlgebildet und gut erzogen,
deren Gestalt und Wesen das Angenehmste zeigte und das Beste versprach.
Nach einer kurzen Unterhandlung, durch welche der vorteilhafteste
Zustand sowohl bei Lebzeiten als nach dem Tode des Mannes der Schönen
versichert ward, vollzog man die Heirat mit großer Pracht und Lust,
und von diesem Tage an fühlte sich unser Handelsmann zum erstenmal im
wirklichen Besitz und Genuß seiner Reichtümer. Nun verwandte er mit
Freuden die schönsten und reichsten Stoffe zur Bekleidung des schönen
Körpers, die Juwelen glänzten ganz anders an der Brust und in den
Haaren seiner Geliebten als ehemals im Schmuckkästchen, und die Ringe
erhielten einen unendlichen Wert von der Hand, die sie trug.
So fühlte er sich nicht allein so reich, sondern reicher als bisher,
indem seine Güter sich durch Teilnehmung und Anwendung zu vermehren
schienen. Auf diese Weise lebte das Paar fast ein Jahr lang in der
größten Zufriedenheit, und er schien seine Liebe zu einem tätigen und
herumstreifenden Leben gegen das Gefühl häuslicher Glückseligkeit
gänzlich vertauscht zu haben. Aber eine alte Gewohnheit legt sich so
leicht nicht ab, und eine Richtung, die wir früh genommen, kann wohl
einige Zeit abgelenkt, aber nie ganz unterbrochen werden.
So hatte auch unser Handelsmann oft, wenn er andere sich einschiffen
oder glücklich in den Hafen zurückkehren sah, wieder die Regungen
seiner alten Leidenschaft gefühlt, ja er hatte selbst in seinem Hause
an der Seite seiner Gattin manchmal Unruhe und Unzufriedenheit
empfunden. Dieses Verlangen vermehrte sich mit der Zeit und
verwandelte sich zuletzt in eine solche Sehnsucht, daß er sich äußerst
unglücklich fühlen mußte und zuletzt wirklich krank ward.
"Was soll nun aus dir werden?" sagte er zu sich selbst. "Du erfährst
nun, wie töricht es ist, in späten Jahren eine alte Lebensweise gegen
eine neue zu vertauschen. Wie sollen wir das, was wir immer getrieben
und gesucht haben, aus unsern Gedanken, ja aus unsern Gliedern wieder
herausbringen? Und wie geht es mir nun, der ich bisher wie ein Fisch
das Wasser, wie ein Vogel die freie Luft geliebt, da ich mich in einem
Gebäude bei allen Schätzen und bei der Blume aller Reichtümer, bei
einer schönen jungen Frau eingesperrt habe? Anstatt daß ich dadurch
hoffte, Zufriedenheit zu gewinnen und meiner Güter zu genießen, so
scheint es mir, daß ich alles verliere, indem ich nichts weiter
erwerbe. Mit Unrecht hält man die Menschen für Toren, welche in
rastloser Tätigkeit Güter auf Güter zu häufen suchen; denn die
Tätigkeit ist das Glück, und für den, der die Freuden eines
ununterbrochenen Bestrebens empfinden kann, ist der erworbene Reichtum
ohne Bedeutung. Aus Mangel an Beschäftigung werde ich elend, aus
Mangel an Bewegung krank, und wenn ich keinen andern Entschluß fasse,
so bin ich in kurzer Zeit dem Tode nahe.
Freilich ist es ein gewagtes Unternehmen, sich von einer jungen,
liebenswürdigen Frau zu entfernen. Ist es billig, um ein reizendes
und reizbares Mädchen zu freien und sie nach einer kurzen Zeit sich
selbst, der Langenweile, ihren Empfindungen und Begierden zu
überlassen? Spazieren diese jungen, seidnen Herren nicht schon jetzt
vor meinen Fenstern auf und ab? Suchen sie nicht schon jetzt in der
Kirche und in Gärten die Aufmerksamkeit meines Weibchens an sich zu
ziehen? Und was wird erst geschehen, wenn ich weg bin? Soll ich
glauben, daß mein Weib durch ein Wunder gerettet werden könnte? Nein,
in ihrem Alter, bei ihrer Konstitution wäre es töricht zu hoffen, daß
sie sich der Freuden der Liebe enthalten könnte. Entfernst du dich,
so wirst du bei deiner Rückkunft die Neigung deines Weibes und ihre
Treue zugleich mit der Ehre deines Hauses verloren haben."
Diese Betrachtungen und Zweifel, mit denen er sich eine Zeitlang
quälte, verschlimmerten den Zustand, in dem er sich befand, aufs
äußerste. Seine Frau, seine Verwandten und Freunde betrübten sich um
ihn, ohne daß sie die Ursache seiner Krankheit hätten entdecken können.
Endlich ging er nochmals bei sich zu Rate und rief nach einiger
überlegung aus: "Törichter Mensch! du lässest es dir so sauer werden,
ein Weib zu bewahren, das du doch bald, wenn dein übel fortdauert,
sterbend hinter dir und einem andern lassen mußt. Ist es nicht
wenigstens klüger und besser, du suchst das Leben zu erhalten, wenn du
gleich in Gefahr kommst, an ihr dasjenige zu verlieren, was als das
höchste Gut der Frauen geschätzt wird? Wie mancher Mann kann durch
seine Gegenwart den Verlust dieses Schatzes nicht hindern und vermißt
geduldig, was er nicht erhalten kann! Warum solltest du nicht den Mut
haben, dich eines solchen Gutes zu entschlagen, da von diesem
Entschlusse dein Leben abhängt?"
Mit diesen Worten ermannte er sich und ließ seine Schiffsgesellen
rufen. Er trug ihnen auf, nach gewohnter Weise ein Fahrzeug zu
befrachten und alles bereit zu halten, daß sie bei dem ersten
günstigen Winde auslaufen könnten. Darauf erklärte er sich gegen
seine Frau folgendermaßen:
"Laß dich nicht befremden, wenn du in dem Hause eine Bewegung siehst,
woraus du schließen kannst, daß ich mich zu einer Abreise anschicke!
Betrübe dich nicht, wenn ich dir gestehe, daß ich abermals eine
Seefahrt zu unternehmen gedenke! Meine Liebe zu dir ist noch immer
dieselbe, und sie wird es gewiß in meinem ganzen Leben bleiben. Ich
erkenne den Wert des Glücks, das ich bisher an deiner Seite genoß, und
würde ihn noch reiner fühlen, wenn ich mir nicht oft Vorwürfe der
Untätigkeit und Nachlässigkeit im stillen machen müßte. Meine alte
Neigung wacht wieder auf, und meine alte Gewohnheit zieht mich wieder
an. Erlaube mir, daß ich den Markt von Alexandrien wiedersehe, den
ich jetzt mit größerem Eifer besuchen werde, weil ich dort die
köstlichsten Stoffe und die edelsten Kostbarkeiten für dich zu
gewinnen denke. Ich lasse dich im Besitz aller meiner Güter und
meines ganzen Vermögens; bediene dich dessen und vergnüge dich mit
deinen Eltern und Verwandten! Die Zeit der Abwesenheit geht auch
vorüber, und mit vielfacher Freude werden wir uns wiedersehen."
Nicht ohne Tränen machte ihm die liebenswürdige Frau die zärtlichsten
Vorwürfe, versicherte, daß sie ohne ihn keine fröhliche Stunde
hinbringen werde, und bat ihn nur, da sie ihn weder halten könne noch
einschränken wolle, daß er ihrer auch in der Abwesenheit zum besten
gedenken möge.
Nachdem er darauf verschiedenes mit ihr über einige Geschäfte und
häusliche Angelegenheiten gesprochen, sagte er nach einer kleinen
Pause: "Ich habe nun noch etwas auf dem Herzen, davon du mir frei zu
reden erlauben mußt; nur bitte ich dich aufs herzlichste, nicht zu
mißdeuten, was ich sage, sondern auch selbst in dieser Besorgnis meine
Liebe zu erkennen."
"Ich kann es erraten", versetzte die Schöne darauf; "du bist
meinetwegen besorgt, indem du nach Art der Männer unser Geschlecht ein
für allemal für schwach hältst. Du hast mich bisher jung und froh
gekannt, und nun glaubst du, daß ich in deiner Abwesenheit
leichtsinnig und verführbar sein werde. Ich schelte diese Sinnesart
nicht, denn sie ist bei euch Männern gewöhnlich; aber wie ich mein
Herz kenne, darf ich dir versichern, daß nichts so leicht Eindruck auf
mich machen und kein möglicher Eindruck so tief wirken soll, um mich
von dem Wege abzuleiten, auf dem ich bisher an der Hand der Liebe und
Pflicht hinwandelte.
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