Wie alle Frauen, die gezwungen sind, den Charakter ihres Gatten zu studieren, um nach ihrer eigenen Laune leben zu können, wußte die Gräfin genau abzumessen, wie weit sie gehen dürfe, um nicht ein kostbares Vertrauen zu verlieren; am Tonfall des Grafen hatte sie erkannt, daß es unklug sei, jetzt im Boudoir zu bleiben. Diese Störung verdankte sie Eugen. Sie deutete jetzt verachtungsvoll auf den Studenten und blickte Maxime an, der, zu allen dreien gewendet, kurz angebunden sagte: »Sie sprechen von Familienangelegenheiten, ich will Sie nicht stören. Auf Wiedersehen.« Er ging.
»Bleiben Sie doch, Maxime!« rief der Graf. »Kommen Sie zum Essen!« sagte die Gräfin, die den Grafen und Eugen nochmals allein ließ, um Maxime in den ersten Salon zu folgen, wo beide sich längere Zeit unterhielten, in der Annahme, Herr von Restaud werde inzwischen Eugen verabschieden.
Rastignac hörte sie lachen, plaudern und – schweigen; aber der boshafte Student führte mit Herrn von Restaud geistvolle Gespräche, schmeichelte ihm und verwickelte ihn in allerlei Erörterungen, denn er wollte das Wiedereintreten der Gräfin abwarten und in Erfahrung bringen, welches ihre Beziehungen zu Vater Goriot waren. Diese Frau, die ersichtlich in Maxime verliebt war und ihren Gatten beherrschte, sollte Beziehungen zu dem alten Nudelfabrikanten haben? Es war ein Rätsel. Er wollte das Rätsel ergründen, denn er hoffte über diese Frau, die so ganz Pariserin war, eine gewisse Herrschaft zu gewinnen.
»Anastasia!« rief der Graf von neuem nach seiner Frau.
»Wir müssen uns fügen, mein armer Maxime«, sagte sie zu dem jungen Manne; »auf heute abend!« »Ich hoffe, Stasie,« sagte er ihr ins Ohr, »daß Sie diesen jungen Mann in Schranken halten werden; seine Augen glühten auf wie Kohlen, als Ihr Morgenrock sich öffnete. Er wird Ihnen Erklärungen machen, Sie kompromittieren, und Sie würden mich zwingen, ihn zu erschießen.« »Sind Sie toll, Maxime?« sagte sie. »Sind solch kleine Studenten nicht im Gegenteil prächtige Blitzableiter? Ich werde schon Restaud ein wenig gegen ihn aufzubringen wissen.«
Maxime brach in Lachen aus und ging; die Gräfin folgte ihm und stellte sich ans Fenster, um ihn seinen Wagen besteigen und das Pferd mit der Peitsche antreiben zu sehen. Sie kehrte erst zurück, als das Portal geschlossen wurde.
»Denk dir, meine Liebe,« rief ihr der Graf entgegen, »die Besitzung, auf der die Familie des Herrn von Rastignac wohnt, ist nicht weit von Verteuil an der Charente. Sein Großonkel und mein Großvater waren miteinander bekannt.« »Freut mich, daß wir gemeinsame Bekannte haben«, sagte die Gräfin zerstreut. »Mehr, als Sie glauben«, sagte Eugen mit leiser Stimme. »Wie meinen Sie das?« entgegnete sie lebhaft. »Ja,« erwiderte der Student, »ich sah vorhin einen Herrn aus dem Hause treten, mit dem ich Tür an Tür in derselben Pension wohne, – den Vater Goriot.«
Beim Nennen dieses durch den Zusatz ›Vater‹ verschönten Namens ließ der Graf die Feuerzange, mit der er die Glut geschürt hatte, hastig fallen, als habe sie ihm die Hände verbrannt, und erhob sich. »Mein Herr,« rief er aus, »Sie hätten wohl ›Herr‹ Goriot sagen können!«
Die Gräfin erbleichte, als sie die Empörung ihres Mannes gewahrte, dann errötete sie; sie war offenbar verlegen. Sie sagte in einem Tone, der unbefangen sein sollte: »Es gibt niemanden, dem wir mehr zugetan wären ...«
Sie unterbrach sich, blickte auf das Klavier, als falle ihr irgendeine Melodie ein, und fragte: »Lieben Sie die Musik, mein Herr?« »Sehr«, erwiderte Eugen, der rot und unsicher geworden war bei dem Gedanken, irgendeine große Dummheit begangen zu haben.
»Singen Sie?« fuhr sie fort, ans Klavier tretend, dessen sämtliche Tasten sie mit einem Fingerzug hintereinander anschlug: Rrrrah! »Nein, gnädige Frau.«
Der Graf von Restaud ging auf und ab.
»Das ist schade, da fehlt Ihnen ein bedeutsames Mittel zum Erfolg. – Ca-a-ro, ca-a-a-ro, ca-a-a-a-ro, non du-bi-tare«, sang die Gräfin.
Als Eugen den Namen des Vaters Goriot ausgesprochen, hatte er eine zauberhafte Wirkung erzielt, nur daß diese im umgekehrten Verhältnis zu jener stand, die den Worten ›Verwandter der Frau von Beauséant‹ gefolgt war. Er befand sich etwa in der Lage eines Menschen, dem ein Liebhaber von Altertümern seine Schätze zeigt und der aus Unachtsamkeit an einen Schrank voll Statuetten stößt, so daß ein paar altersschwache Köpfe wanken und zu Boden stürzen. Er hätte in die Erde sinken mögen. Frau von Restauds Gesichtsausdruck war kalt und hart, und ihre gleichgültigen Blicke wichen denen des geschickten Studenten aus.
»Gnädige Frau,« sagte er, »Sie haben wohl mit Herrn von Restaud allerlei zu reden; seien Sie meiner tiefsten Ergebenheit versichert, und gestatten Sie ...« »Wann immer Sie kommen werden«, fiel die Gräfin ihm eilig ins Wort, »können Sie versichert sein, Herrn von Restaud wie mir die größte Freude zu bereiten.«
Eugen verneigte sich tief vor dem Ehepaar und schritt hinaus, mit ihm Herr von Restaud, der es sich trotz Eugens Bitten nicht nehmen ließ, ihn bis ins Vorzimmer zu begleiten.
»Wann immer der Herr sich sehen lassen sollte,« sagte der Graf zu Maurice, »werden weder die gnädige Frau noch ich zu Hause sein.«
Als Eugen den Fuß auf die Freitreppe setzte, gewahrte er, daß es regnete.
›Teufel!‹ sagte er, ›ich habe eine Tölpelei begangen, deren Ursache und Tragweite ich nicht kenne, – soll mir der Handel auch noch Hut und Anzug verderben? Ich sollte im Winkel hocken und studieren und nach nichts weiter trachten, als ein blöder Beamter zu werden. Kann ich in Gesellschaft gehen, wenn man, um einigermaßen anständig aufzutreten, Wagen und Lackstiefel haben muß und goldene Uhrketten und von frühmorgens an weiße Wildlederhandschuhe zu sechs Franken das Paar? Und alle Abende gelbe Handschuhe? ... Alter Narr Goriot, fahr hin!‹
Als er vor die Haustür trat, machte ihm der Kutscher eines Mietwagens, der anscheinend ein paar Neuvermählte in ihre Wohnung gefahren hatte und dem es gerade gelegen kam, sich eine kleine Nebeneinnahme zu verschaffen, ein Zeichen, denn Eugen schien in seinem schwarzen Anzug, weißer Weste, gelben Handschuhen und Lackstiefeln und ohne Schirm eines Wagens bedürftig zu sein. Eugen war in einer jener zornigen Stimmungen, die einen jungen Mann leicht veranlassen, tiefer und tiefer in den Abgrund hinunterzusteigen, in den er sich nun einmal hinabgewagt hat, als hoffe er dort unten noch auf einen glücklichen Ausgang. Er stieg in den Wagen, in dem einzelne Orangenblüten davon zeugten, daß er vorher von einem Brautpaar besetzt gewesen war.
»Wohin wünscht der Herr?« fragte der Kutscher, der seine weißen Handschuhe schon nicht mehr anhatte.
›Wetter!‹ sagte sich Eugen, ›wenn ich mich schon ruiniere, so soll es mir wenigstens zu etwas nützen!‹ »Fahren Sie zum Palais Beauséant«, fügte er laut hinzu. »Zu welchem?« fragte der Kutscher. Ein überlegenes Wort, das Eugen in Verlegenheit setzte. Der elegante Neuling wußte nicht, daß es zwei Palais Beauséant gab; er wußte nicht, wie reich er war an Verwandten, die sich nicht im geringsten um ihn kümmerten.
»Zum Vicomte von Beauséant, Rue ...« »de Grenelle«, nickte der Kutscher. »Sehen Sie, da ist noch das Palais des Grafen und des Marquis von Beauséant, Rue Saint-Dominique«, fügte er hinzu. »Ich weiß«, erwiderte Eugen trocken. ›Alle Welt macht sich heute lustig über mich‹, dachte er und warf den Hut auf den Rücksitz; ›und ich leiste mir Dinge, die mich ein Heidengeld kosten werden.
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