Sie sprach oft von diesem schweren Schlag, der sie betroffen hatte, und beklagte ihre allzu große Vertrauensseligkeit, und doch war sie mißtrauischer als eine Katze. Aber sie glich sehr jenen Leuten, die den Nahestehenden mißtrauen und sich dem ersten besten Fremden ausliefern; eine seltsame, aber oft beobachtete Tatsache, deren Wurzel im Menschenherzen leicht zu finden ist. Vielleicht haben solche Seelen bei ihrer nächsten Umgebung nichts mehr zu gewinnen; sie haben ihr die Leere ihrer Seele aufgedeckt und fühlen sich mit verdienter Härte von ihr verurteilt. Da sie aber ein unbezwingliches Bedürfnis haben, sich umschmeichelt zu sehen, oder gern Eigenschaften vortäuschen möchten, die sie nicht besitzen, so hoffen sie die Achtung oder die Liebe eines Fremden zu erringen, selbst auf die Gefahr hin, sich eines Tages betrogen zu sehen. Endlich gibt es auch geborene Mietlinge, die ihren Freunden oder Angehörigen nicht den kleinsten Dienst erweisen, weil er hier selbstverständlich wäre, wohingegen, wenn sie sich einem Fremden widmen, ihre Eigenliebe einen Gewinn davonträgt. Je näher ihnen jemand steht, um so weniger lieben sie ihn; je ferner er steht, um so ergebener sind sie. Frau Vauquer gehörte sicherlich zu diesen beiden Arten in hohem Maße kleinlicher, falscher und widerwärtiger Naturen.

»Wenn ich hier gewesen wäre,« sagte Vautrin zu ihr, »so wäre Ihnen das Unglück nicht zugestoßen. Ich hätte Ihnen die Schurkin schon entlarvt. Ich verstehe mich auf solche Fratzen.«

Wie alle beschränkten Geister hatte Frau Vauquer die Gewohnheit, aus dem engen Kreise der Ereignisse nicht herauszutreten und nicht nach ihren Ursachen zu forschen. Sie liebte es, für ihre eigenen Fehler andere verantwortlich zu machen. Als dieser Verlust sie traf, betrachtete sie den biederen Nudelfabrikanten als die Ursache ihres Unglücks und begann von da an, wie sie sagte, sich an ihm ›schadlos zu halten‹. Als sie die Nutzlosigkeit ihrer Verführungskünste und Putzsucht eingesehen hatte, zögerte sie nicht, einen Grund für die Zurückhaltung des Alten aufzustellen. Sie sagte sich also, daß ihr Pensionär wahrscheinlich schon ›seine Schliche‹ habe. Sie gewann die Überzeugung, daß ihre so zärtlich genährten Hoffnungen nichts als Luftschlösser waren und daß sie, wie die Gräfin, die ihr nun wie eine Kennerin schien, so richtig gesagt hatte, ›aus dem Manne da niemals etwas herausholen würde‹. Naturgemäß ging sie in ihrer Abneigung weiter, als sie in ihrer Freundschaft gegangen war. Ihr Haß entsprang nicht enttäuschter Liebe, sondern enttäuschter Erwartung. Wenn das menschliche Herz Ruhe findet, sobald es den Gipfel der Zuneigung erklommen hat, so hält es doch selten im steilen Abstieg des Hasses inne. Aber Herr Goriot war ihr Pensionär; die Witwe sah sich also genötigt, die Ausbrüche verwundeter Eigenliebe zu ersticken, die Seufzer der Enttäuschung zurückzuhalten und ihre Rachegefühle zu bezähmen, wie ein Mönch, den sein Prior geärgert hat. Kleine Geister befriedigen ihre Gefühle, seien sie gut oder schlecht, durch endlose Kleinlichkeiten. Die Witwe entfaltete die ganze Bosheit ihrer Frauenseele, um gegen ihr Opfer geheime Ränke zu spinnen. Sie begann damit, den in letzter Zeit eingeführten Überfluß in der Beköstigung der Pensionäre wieder abzuschaffen.

»Keine Gurken mehr, keine Sardellen; das sind Dummheiten«, sagte sie zu Sylvia an dem Morgen, da sie ihr ehemaliges Programm wieder aufnahm.

Herr Goriot war ein einfacher Mann, dem die Sparsamkeit eines Menschen, der sich mühsam hatte emporarbeiten müssen, zur Gewohnheit geworden war. Suppe, gekochtes Fleisch und Gemüse, mehr beanspruchte er nicht. Es war also für Frau Vauquer nicht leicht, ihren Pensionär zu quälen, da sie ihm mit ihrem vereinfachten Küchenzettel nichts anhaben konnte. Sie beschloß daher, ihm auf andere Weise zu schaden: sie behandelte ihn verächtlich und suchte ihn in den Augen seiner Mitpensionäre herabzusetzen, sie verstand es, eine allgemeine Abneigung gegen Goriot zu erwecken und sich auf diesem Umweg an ihm zu rächen. Gegen Ende des ersten Jahres war das Mißtrauen der Witwe so groß geworden, daß sie sich fragte, weshalb der Kaufmann, der sieben- bis achttausend Franken Rente, einen kostbaren Silberschatz und Schmuck und Wertsachen besaß wie eine Buhlerin, sich bei ihr eingemietet habe und ihr nur ein zu seinem Vermögen in gar keinem Verhältnis stehendes bescheidenes Pensionsgeld bezahle. Während des größten Teiles dieses ersten Jahres hatte Goriot häufig ein- oder zweimal wöchentlich außerhalb gespeist; dann war es allmählich dahin gekommen, daß er höchstens zweimal im Monat in der Stadt speiste. Die kleinen Vergnügungsfahrten Goriots waren für Frau Vauquer viel zu einträglich, als daß sie nicht über die zunehmende Regelmäßigkeit, mit der ihr Pensionär die Mahlzeiten im Hause einnahm, unzufrieden gewesen wäre. Sie schrieb diese Veränderung sowohl einer langsamen Abnahme seines Vermögens als auch seiner Absicht zu, seine Wirtin zu ärgern. Eine der widerlichsten Eigenschaften der kleinen Seelen ist es, ihre eigene Kleinlichkeit bei den anderen vorauszusetzen. Unglücklicherweise rechtfertigte Goriot gegen Ende des zweiten Jahres die Verdächtigungen, die man über ihn äußerte, indem er Frau Vauquer ersuchte, seine Wohnung in den zweiten Stock zu verlegen und seine Pension auf neunhundert Franken herabzusetzen.