Er mußte sogar so sparsam sein, sich während des Winters die Heizung zu versagen. Die Witwe Vauquer wünschte Vorauszahlung, womit Herr Goriot, den sie von nun an ›Vater Goriot‹ nannte, einverstanden war. Wo lag nun die Ursache dieses Niederganges? Das war schwer herauszubekommen; denn wie die falsche Gräfin gesagt hatte, so war es: Vater Goriot war ein Duckmäuser, ein Schweiger. Nach der Logik der Hohlköpfe, die alle Schwätzer sind, weil sie nichts zu sagen haben, müssen alle, die nicht von ihren Geschäften sprechen, schlechte Geschäfte machen. Der früher so geschätzte Kaufmann wurde also ein Schurke, der ›galante Geck‹ ein alter Narr. Bald galt Vater Goriot nach Vautrins Ansicht, der sich zu jener Zeit im Hause Vauquer einmietete, als ein Mann, der an der Börse spekulierte. Bald hieß es, er sei ein Spieler, einer von den kleinen, die am Abend nicht mehr als zehn Franken verlieren oder gewinnen. Bald machte man ihn zu einem Polizeispion; aber Vautrin behauptete, daß er dazu nicht schlau genug sei. Auch für einen Wucherer hielt man den Vater Goriot und sagte, er leihe kleine Summen für hohe Zinsen aus, und ganz gewiß gehöre er zu jenen Leuten, die ihr Leben lang auf eine Lotterienummer setzen. Man traute ihm jede Schwäche und jedes Laster zu. Dennoch, wie empörend man sein Betragen und seine Lasterhaftigkeit auch fand, ging die Abneigung gegen ihn nicht so weit, ihn zu verbannen; er bezahlte ja immerhin seine Pension. Und dann war er ja auch dazu brauchbar, daß jeder seine gute oder schlechte Laune an ihm auslassen konnte, sei es durch leichten Witz oder bissigen Spott. Die einzig richtige Ansicht über ihn schien Frau Vauquer sich gebildet zu haben, und die wurde dann auch allgemein angenommen. Wenn man sie hörte, so war dieser wohlerhaltene und gesunde Mann – ›gesund wie mein Auge, ein Mann, an dem man noch viel Freude haben könnte‹ – ein lockerer Vogel, der gar seltsame Neigungen hatte. Auf welche Tatsachen stützte die Witwe Vauquer ihre Verleumdungen? Einige Monate nach dem Weggang jener niederträchtigen Gräfin, die sechs Monate auf ihre Kosten gelebt hatte, hörte sie eines Morgens vor dem Aufstehen das Rascheln eines Seidenkleides und den zierlichen Schritt einer jungen und zarten Frau, die zu Goriot hineinschlüpfte, dessen Tür sich verständnisvoll geöffnet hatte. Gleich darauf kam die dicke Sylvia, um ihrer Herrin zu melden, daß ein Mädchen, viel zu hübsch, um anständig zu sein, und gekleidet wie eine Fee, mit entzückenden hellen Stiefelchen, die nicht den geringsten Schmutzfleck aufwiesen, wie ein Aal ins Haus und an die Küchentür geschlüpft sei und sich nach der Wohnung des Herrn Goriot erkundigt habe. Frau Vauquer und ihre Köchin verlegten sich aufs Horchen und fingen einige zärtlich betonte Worte auf. Der Besuch währte geraume Zeit. Als Herr Goriot ›seine Dame‹ hinausgeleitete, nahm die dicke Sylvia sogleich ihren Korb und tat, als ginge sie zum Markt; sie folgte dem Liebespaar.
»Frau Vauquer,« sagte sie nach ihrer Rückkehr, »Herr Goriot muß verteufelt reich sein, um sie so auszustatten. Stellen Sie sich vor, daß an der Ecke der Estrapade ein wundervoller Wagen hielt, in den sie eingestiegen ist.«
Während des Essens zog Frau Vauquer an einem der Fenster einen Vorhang zu, um Goriot vor der Sonne zu schützen, die ihm gerade in die Augen schien.
»Das Schöne liebt Sie, Herr Goriot, die Sonne geht Ihnen nach«, sagte sie mit Beziehung auf den Besuch, den er empfangen hatte. »Seht, seht! Sie haben einen guten Geschmack; sie war auffallend hübsch.« »Es war meine Tochter«, sagte er mit einem gewissen Stolz, – eine Äußerung, in der die Pensionäre nur ein greisenhaftes Bemühen, den Schein zu wahren, erblicken wollten.
Einen Monat nach diesem Besuch erhielt Herr Goriot wieder einen. Seine Tochter, die das erste Mal im Straßenkleid gekommen war, kam diesmal nach Tisch in Besuchstoilette. Die Pensionäre, die plaudernd im Salon saßen, konnten in ihr eine zarte, anmutige Blondine bewundern, viel zu vornehm, Vater Goriots Tochter zu sein.
»Da die zweite!« sagte die dicke Sylvia, die sie nicht wiedererkannte.
Einige Tage danach fragte wieder ein anderes Mädchen, groß und schön gewachsen, mit braunem Teint, schwarzen Haaren und lebhaften Augen, nach Herrn Goriot.
»Da die dritte!« sagte Sylvia.
Diese zweite Tochter, die ihren Vater das erste Mal ebenso des Morgens besucht hatte, kam einige Tage später am Abend in Balltoilette und zu Wagen.
»Da die vierte!« sagten Frau Vauquer und die dicke Sylvia, die in dieser strahlenden Dame keine Spur des einfach gekleideten Fräuleins wiedererkannten.
Goriot bezahlte damals noch zwölfhundert Franken Pension. Frau Vauquer fand es ganz natürlich, daß ein reicher Mann vier bis fünf Mätressen habe, und fand es sogar sehr korrekt, daß er sie als seine Töchter ausgab. Sie beklagte sich nicht einmal darüber, daß er sie in die Pension bestellte. Da aber diese Besuche ihr die Gleichgültigkeit ihres Pensionärs hinsichtlich ihrer eigenen Person erklärten, erlaubte sie sich zu Beginn des zweiten Jahres, ihn einen ›alten Kater‹ zu nennen. Dann aber, als ihr Pensionär auf neunhundert Franken herabstieg, fragte sie ihn unverfroren, als sie eine der Damen fortgehen sah, was er eigentlich von ihrem Hause denke. Vater Goriot erwiderte ihr, diese Dame sei seine älteste Tochter.
»Sie haben wohl sechsunddreißig solche Töchter?« versetzte Frau Vauquer mit saurer Miene. »Ich habe nicht mehr als zwei«, antwortete der Pensionär mit der Milde eines gebrochenen Mannes, den das Elend fügsam gemacht hat.
Gegen Ende des dritten Jahres schränkte Vater Goriot seine Ausgaben wiederum ein, indem er in den dritten Stock hinaufzog und seine Pension auf fünfundvierzig Franken im Monat herabsetzen ließ. Er verzichtete auf den Schnupftabak, verabschiedete seinen Friseur und trug das Haar ungepudert.
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